Clary fühlte sich unwohl dabei, ausgerechnet mit Jace auf diese Mission zu gehen. Sie hatte es seit ihrem Kuss am Seelie-Hof geschafft, jedem fragenden Blick und jedem Gesprächsversuch von Jace auszuweichen. Der Gang durch die untere Ebene des Instituts erschien ihr daher besonders lang. Obwohl Jace seit Branwells Auftauchen keinen weiteren Versuch unternommen hatte, über diesen Vorfall oder über ihre Trennung von Simon zu reden. Er ging nur stumm neben ihr her und wirkte für seine Verhältnisse ungewohnt nachdenklich.
Am Ende des Ganges gab es eine weitere Tür, die sich nur mit einer Stele und der entsprechende Rune öffnen ließ. Dahinter befand sich eine Art Raum in einem Raum. Ursprünglich war diese kleine Zelle für abtrünnige Hexen und Hexenmeister geschaffen worden. Tief unter der Erde im Schutze des Instituts, meterdicke Wände aus Magie resistentem Iridium und einer Temperatur nahe dem Gefrierpunkt. Die Kälte dieser Kammer strahlte in den ganzen Raum darum. Clary rieb sich fröstelnd über die Arme. Atemwölkchen bildeten sich vor ihrem Mund.
»Bist du sicher, dass das nicht sogar ausreicht, um diesen Dämon festzuhalten? Brauchen wir wirklich noch Elektrum? Ich breche wirklich nur ungern in Alicante ein.«
Jace hob die Schultern. »Keine Ahnung, wozu so ein Erzdämon fähig ist. Aber ich riskiere es lieber, den Rat oder die Eisernen Schwestern zu verärgern, als diesen Dämon einen dritten irdischen Weltkrieg anzetteln zu lassen.«
»Woher willst du wissen, dass das Elektrum ihn davon abhalten wird.«
Jace umrundete langsamen Schrittes die kleine Zelle, blieb dann vor Clary stehen und kratze sich, ohne ihre Frage zu beantworten, am Kinn. Sie kannte diese Geste. Er hatte wohl genau die gleichen Bedenken wie sie.
»Ich vertraue ihr.«
»Siobhan?«, fragte Clary überrascht. »Warum?«
»Ich habe dir damals auch vertraut.«
Clary sah ihn fragend an.
»Nur so ein Gefühl.«
»Nur so ein Gefühl?«, wiederholte Clary stirnrunzelnd. »Im Ernst? Außerdem finde ich nicht, dass das eine vergleichbare Situation ist. Ich meine, ich …«, sie verstummte.
»Sie ist ein Shadowhunter. Das ist mehr, als du damals warst.«
Jace erschrak selbst über seine unangenehme Ehrlichkeit.
Auf Clarys Gesicht stand jetzt nicht nur Unverständnis und Überraschung, da waren auch Wut und Verletzung.
»Clary«, sagte er entschuldigend und berührte ihren Arm.
Ruckartig entzog sie sich seiner Berührung, wandte ihm den Rücken zu und zeichnete stumm eine Rune in die Luft. Nach einer energischen Handbewegung öffnete sich ein Portal und Clary schritt, ohne Jace eines weiteren Blickes oder Wortes zu würdigen, hindurch.
Idris war kalt, die Luft zu dünn. Das passte genau zu der Stimmung zwischen den beiden. Worte waren aber auch nicht unbedingt nötig. Beide wussten genau, was zu tun war. Alec hatte ihnen genaue Instruktionen gegeben. Dank Clarys und Jaces speziellen Fähigkeiten dürfte das auch keine große Sache werden. Aber irgendwie …
»Clary warte«, sagte er plötzlich und hielt sie am Arm. Da sie nicht protestierte, wusste er, dass sie ebenfalls bemerkt hatte, dass hier etwas seltsam war. Jace zog sein Seraphschwert aus der Halterung. Die Klinge färbte sich leuchtend blau. Clary tat es ihm gleich. Und so standen sie nun im Brocelyn Wald und lauerten. Die Baumspitzen wogen sich leicht im Wind, doch kein Geräusch drang zu ihnen – kein Blätterrauschen, nicht das hölzerne Knarren der Stämme oder wiegenden Äste. Ihre vorsichtigen Schritte im Schnee blieben genauso geräuschlos wie alles andere.
›Was ist hier los?‹, fragte Clary und erschrak, da die Worte, die sie eben gesprochen hatte, genauso lautlos im Nichts verschollen waren wie alles andere. Hektisch zupfte sie Jace am Ärmel. Er fuhr herum und sah, dass sie die Lippen bewegte, aber kein Ton drang zu ihm durch.
›Was zur Hölle!‹, formten seine Lippen den Satz, den Clary auch ohne dazugehörigen Ton verstand. Sein Blick ging zur Stadt von Alicante, die entfernt auf den Felsen thronte. Es wurde bereits dunkel – viel zu früh – und diese Wälder waren auch ohne diese Stille schon unheimlich genug und gefährlich. Jace erinnerte sich, dass sich nicht weit von hier eines der Herrenhäuser der Schattenjägerfamilien befand. Das Anwesen lag allerdings in der entgegengesetzten Richtung. Diese Herrenhäuser verfügten fast alle über unterirdische Tunnel, um im Fall der Fälle nach Alicante fliehen zu können. Vielleicht war das die bessere Alternative, bis sie wussten, was hier los war. Jace gab Clary mit einer Geste zu verstehen, dass sie ihm folgen sollte und so machten sie sich auf den Weg zum nächstgelegenen Schattenjäger-Anwesen.
Eine nur kniehohe Natursteinmauer grenzte das Anwesen vom Rest des Waldes ab. Das Haus selbst, war im Halbdunkel nicht zu sehen. Doch je weiter sich Jace und Clary von Alicante entfernt hatten, desto klarer war der Himmel wieder geworden. Und auch die Geräusche kehrten zurück. Obwohl Clary nicht sicher war, ob das nicht allzu entfernte Aufheulen einer offensichtlich ziemlich großen Werwolfmeute lieber ungehört geblieben wäre.
»Wo ist das Haus?«, fragte sie ungeduldig.
Jace schien genauso ratlos. »Es müsste schon längst zu sehen sein. Ich verstehe das ni...«, Jace verstummte abrupt und blieb wie angewurzelt stehen. Vor ihnen türmte sich ein, bereits von Moos und Efeu überwucherter, Trümmerhaufen. Vereinzelt konnte man Stein und verkohlte Holzbalken darunter erkennen. Dieses Haus musste schon vor Jahrzehnten bis auf die Grundmauern niedergebrannt sein.
»Verdammt!«, fluchte Jace. »Jetzt fällt es mir wieder ein.«
Clary sah ihn fragend an.
Seine Lider flackerten nervös und das Spiel seiner Wangenmuskeln spiegelte seine Anspannung. »Das ist das Branwell-Anwesen.«
Clarys Augen weiteten sich vor Überraschung.
»Wie Siobhan Branwell? Diese Branwells?«
»Jap«, antwortet er knapp und näherte sich dem Trümmerhaufen.
»Was ist hier passiert?«, fragte Clary.
Jace kannte die Standorte der meisten Anwesen von Idris nur auf dem Papier. Sein Vater, oder besser gesagt Valentine Morgenstern, den er viel zu lange für seinen Vater gehalten hatte, bestand darauf, dass Jace sich die Karte von Idris bis ins kleinste Detail einprägte. Aber es war nicht gerade seine Lieblingsbeschäftigung gewesen, Dinge auswendig zulernen.
»Ich weiß nicht«, antwortete Jace. »Aber es würde mich nicht wundern, wenn das mit Beleth zu tun hätte.«
Clary trat näher an Jace. In ihrer Aufregung bemerkte sie nicht, dass sie sich mit beiden Händen an seinen Arm klammerte. Ihr Blick ruhte auf dem Trümmerhaufen. »Meinst du, sie haben es von hieraus getan? Das Tor nach Edom geöffnet, um Beleth zu verbannen?«
Jace blickte kurz auf ihre Hände an seinem Arm und lächelte selbstgefällig. »Wer weiß.«
Das laute Aufheulen eines Wolfes ganz in der Nähe ließ jedoch selbst Jace zusammenzucken.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Clary und klammerte sich noch fester an seinen Arm, während ihr Blick nervös im dichten Wald, der sie umgab, nach glühenden Augen und scharfen Zähnen suchte.
»Na ja …«, sagte er, löste sie von sich und ging einen Schritt auf die Trümmer zu, »… ein Tunnel müsste trotzdem existieren. Vielleicht finden wir einen Weg hinein. Durch all diese Trümmer.«
Er sagte es und ging weiter, als ihn plötzlich ein gewaltiger, elektrisierender Schlag zurückschleuderte. Er lag auf dem Rücken, direkt vor Clarys Füßen und japste nach Luft. Clary erstarrte für einen Moment.
»Zzzz...aub...zz...er...«, röchelte Jace und versuchte aufzustehen.
Clary ging in die Hocke und half ihm, sich halbwegs aufzurichten. »Geht es dir gut? Was ist passiert?«, fragte sie kreidebleich.
Jace hustete ein paar Mal. Dann legte sich die Atemnot langsam. »Schutzzauber«, wiederholte er, was er eben versucht hatte, zu sagen. »Die Trümmer sind durch Magie geschützt.« Endlich stand er wieder und klopfte sich Schnee und Erde von der Kleidung.
»Warum?«, fragte Clary und musterte ungläubig die Reste des Hauses.
»Gute Frage.«
Beide standen dort in der Dämmerung und starrten nun ratlos auf das Debakel vor ihnen. Doch plötzlich erschien vor Clarys inneren Augen eine Rune. Sie konnte ihren Eingebungen bisher immer vertrauen, also nahm sie ihre Stele und begann diese Rune in die Luft zu zeichnen. Jace hinterfragte nicht mehr, wenn Clary so etwas tat. Stattdessen blickte er jetzt genauso gespannt auf das goldschimmernde Symbol wie Clary. Doch nichts geschah. Jace wollte schon einen schnippischen Kommentar loslassen, der Clarys hin und wieder unzuverlässige Runenfähigkeit betraf, als sich doch etwas tat. Lautes Knirschen von Stein auf Stein und knarrendem, schabenden Holz erfüllte plötzlich die kalte Luft von Idris. Der riesige Trümmerhaufen begann sich zu bewegen und brach von der Mitte her regelrecht auf. Was dann geschah, beobachten Jace und Clary mit offenem Mund. Stück für Stück, Stein für Stein, Balken für Balken setzte sich das Haus wieder zusammen, bis sie am Ende vor einer mehr als nur beeindruckenden Villa im viktorianischen Stil standen. Natursteinmauern, riesige, weiß gerahmte Kastenfenster und zwei Stockwerke hohe Säulen, die den doppeltürigen Eingang säumten.
»Wow«, staunte Clary.
»Ja«, sagte Jace und hielt ihr süffisant grienend seine offene Hand entgegen. »Schreitet ein, Mylady«, sagte er.
Sie rollte mit den Augen, ignorierte seine ausgestreckte Hand und ging an ihm vorbei.
Das Innere des Hauses war noch beeindruckender. Eine riesige Eingangshalle, teilweise ausgelegt mit samtweichen, rubinroten Perserteppichen auf Marmor, eine geschwungene Treppe, die rechts und links in den oberen Teil des Hauses führte. An fast jeder Wand ohne Fenster befanden sich deckenhohe Regale gefüllt mit Büchern, und es gab zahlreiche Türen, die in weitere Bereiche dieses Hauses führten. Die Möglichkeiten sich hier zu verlaufen waren erschlagend, genau wie die Zahl der Schlafzimmer und die Üppigkeit an Wissen, die hier offenbar lagerte.
Jace hatte bisher nur wahllos in die Regale gegriffen, doch alles, was er in den Händen gehalten hatte, war sehr alt, sehr rar und teils sogar sehr verboten. Zumindest für Schattenjäger Dieses Haus wirkte eher wie das Heim eines Hexenmeisters und nicht wie das einer Schattenjägerfamilie.
Clary, die sich ebenfalls umgesehen hatte, schaute ihn von der anderen Seite des Raumes mürrisch an. »Und? Vertraust du Siobhan Branwell immer noch?«
»Ich weiß nicht, was das eine mit dem anderen zu tun hat?«, sagte er, stellte, was auch immer der Gegenstand war, den er gerade in den Händen hielt, wieder zurück ins Regal und verschränkte seine Arme vor der Brust.
»Also, Jace. Was ist der Plan? Etwas passiert hier in Idris. Die Gegend um Alicante scheint verhext oder so etwas. Das ist mehr als beunruhigend. Findest du nicht, wir sollten Alec davon in Kenntnis setzen? Oder wenigstens nachsehen, was da los ist? Und dieses Anwesen hier, das ist auch nicht gerade vertrauenerweckend. Warum denkst du, hat es einen Schutzzauber? Und wer hat ihn errichtet?«
»Na ja, die Sache mit dem Anwesen ist nicht ganz so geheimnisvoll. Manchmal bestraft der Rat eine Familie für Vergehen gegen das Gesetz mit einer Art Fluch. Nicht gegen die Familie selbst, nur gegen deren Besitztümer. Ich denke, so etwas ist hier passiert. Deine Rune hat den Fluch aufgehoben und deswegen stehen wir nicht mehr vor einem Trümmerhaufen, sondern in dem Haus der Familie Branwell.«
»Dessen rechtmäßige Erbin vor über siebzig Jahren mit einem Dämon in der Hölle verschwunden ist und jetzt ganz plötzlich mit ihm wieder auftaucht und behauptet, sie wüsste, wie man den, nebenbei bemerkt, gefährlichsten Dämon des Universums …«
»Na, übertreib mal nicht.«
»Und du unterbrich mich nicht«, zischte Clary. »Also, den gefährlichsten Dämon des Universums …«
Jace schmunzelte, sagte aber nichts.
»… in eine Zelle steckt, die sich, ausgerechnet in unserem Institut befindet, anstatt ihn einfach wieder an den Ort zu verbannen, von dem er über siebzig Jahre lang nicht entkommen konnte.«
»Bist du fertig?«, fragte Jace.
Sie seufzte, stemmte ihre Hände in die Hüften und sah müde und erschöpft aus. Jace löste seine verschränkten Arme, ging auf Clary zu und fasste sie sanft an den Schultern. »Clary, dass ich Branwell vertraue, heißt noch lange nicht, dass ich sie nicht genau beobachte. Sollte sie mir auch nur den winzigsten Anlass geben, zu glauben, dass sie irgendjemandem, ganz besonders dich, absichtlich oder fahrlässig in Gefahr bringt, bin ich der Erste, der ihren kleinen Hintern samt Beleth zurück in die Hölle befördert, okay?«
Clary sah nun etwas beschämt zu Boden. »Versteh mich nicht falsch, Jace. Ich mag sie. Wirklich. Und wenn sie sich tatsächlich damals geopfert hat, um ihr Institut oder ihr Land oder was auch immer alles zu retten, dann verdient sie weitaus Besseres als unser Misstrauen. Aber, ich weiß nicht warum … ich …«, Clary blickte wieder auf und ihre Augen waren glasig. »Ich habe Angst. Ich meine, so richtigen Schiss, und ich weiß einfach nicht, woher das kommt.«
Jace nickte wissend und drückte sie fest an sich. »Ich weiß, Clary. Ich weiß.«
Sie schnaufte in seine Jacke und schob ihn gleich wieder von sich. »Hör zu. Ich liebe Simon. Ich habe das wohl schon immer getan. Und das, was am Seelie-Hof passiert ist, das hat sicher etwas zu bedeuten, aber …«
»Schon gut«, unterbrach Jace sie, ging zu einem der Sessel vor einem der Kamine und setzte sich. »Ich weiß, was passiert ist. Ich weiß, dass du Simon liebst. Die Sache mit uns, das ist etwas anderes. Vielleicht hat es die Bruder-Schwester Sache vergeigt, oder es war von Anfang an nur diese Verbindung, durch das Blut des Engels, was uns ja irgendwie auch wieder zu Geschwistern macht. Ich weiß nicht. Was ich weiß ist, dass die Seelie-Queen nicht wollte, dass du den küsst, denn du liebst, sondern den, den begehrst. Glaub mir, das ist nun mal nicht immer dasselbe.«
Clary sah ihn erstaunt an. Er hatte recht. Sie und Jace hatten eine sehr starke Bindung und er war natürlich auch ziemlich attraktiv. Dass sie hin und wieder über ihn fantasierte, hatte noch nicht allzu viel mit der Art von Liebe zu tun, die sie für Simon empfand. Auch wenn ihr das lange nicht bewusst war, aber Simon war die wichtigste Person in ihrem Leben. Ohne ihn war sie ängstlich, unsicher, verloren. Ohne Simon war sie nicht Clary Fray. »Ich will ihn zurück«, sagte sie mit festem Blick.
Er lächelte.
»Na gut«, sagte sie, sah sich kurz um und klopfte entschlossen mit den Händen auf die Sessellehnen. »Was machen wir jetzt?«
Er grinste. »Wir schmeißen den Kamin an und winden uns in wildem Liebesgetümmel auf einem Bärenfell davor.«
Sie sah ihn böse an.
Er lachte. »Nun, das würde zumindest etwas Spannung herausnehmen.«
Sie sah ihn noch böser an.
Er lachte wieder und stand auf. »Okay, lass uns noch ein wenig in diesem Haus herumschnüffeln und dann nach dem Tunnel suchen. Ich weiß, dass alle Tunnel bis in die Stadt führen und da wollen wir doch hin, nicht wahr?«