Im ersten Schlafsaal der Mädchen
Evelyn fühlte sich beobachtet. Die Monster, die auf die Wand ihres Zimmers gemalt waren, schienen jeder ihrer Bewegungen mit wild rollenden Augen auf den Schatten der Bäume heraus zu folgen.
Sie schluckte, als sie sich ihrem Bett näherte.
In ihrem Zimmer waren nur drei der Begleiterinnen von Samstag. Evelyn kannte keine von ihnen und fühlte sich entsprechend einsam. Zu gerne würde sie jetzt bei Milo sein, der ihr beruhigend erklären würde, dass die Monster nicht echt waren und die Baumstämme auch nur so aussahen, als wären sie mit getrocknetem Blut bedeckt.
Alles nur Farbe, versuchte sie, sich einzureden. Aber der Ekel blieb.
Sie hatte das untere Bett nah an der Tür gewählt, während sich die drei anderen Mädchen noch um die oberen Betten stritten. Jetzt saß sie auf der dunklen Bettwäsche, bemüht, nichts zu berühren, was sich im Nachhinein als nass und klebrig erweisen könnte. Ein seltsamer, muffiger Gestank hing in dem Zimmer. So, als würde nebenan etwas vor sich hin faulen.
Evelyn packte nur ihre Schlafsachen und ihrem Kulturbeutel aus, dann stand sie schon wieder auf. Das Badezimmer war ein kleiner, abgegrenzter Raum, dessen Tür sich vor den vier Schränken öffnete. Alles, die Betten, der Tisch, Schränke und die Stühle waren in dunklen Braun- und Grüntönen gehalten, die die Waldatmosphäre noch verstärkten. Der Türgriff schien wie ein hässlicher Pilz aus einem der Baumstämme hervor zu brechen, und es kostete Evelyn einiges an Überwindung, ihn zu ergreifen und das Bad zu betreten. Aber sie wollte ihren Kulturbeutel aufhängen.
Drinnen hing ein verstaubter Spiegel in hölzernem Rahmen über einem braunen Waschbecken. Gegenüber lag eine braune Toilette, deren Deckel einem Waldboden voller trockener Blätter nachempfunden war. Eine Dusche befand sich auch noch in dem kleinen Raum, an den braunen Wandkacheln entdeckte Evelyn Insekten, die sich sich erst auf den zweiten Blick als gemalt herausstellten. Ihre Haut juckte automatisch und sie bezweifelte, dass sie in diesem Raum duschen oder auch nur auf Toilette gehen würde. Nachdem sie ihre kleine, rosa Tasche an einem Haken befestigt hatte, huschte sie schnell wieder nach draußen, wo sie tief und erleichtert Luft holte.
„Alles okay?“, fragte eines der Mädchen und sah sie besorgt an, die Schüchterne mit den braunen Haaren. Evelyn zuckte schuldbewusst zusammen, als sie merkte, dass alle drei sie anstarrten.
„Ähm. Ja. Alles in Ordnung“, log sie. In Wahrheit hasste sie das Zimmer bereits vom ersten Augenblick an.
Die Braunhaarige lächelte sie an: „Die Wände sind unheimlich, oder? Ist die Toilette wenigstens normal?“
Evelyn warf einen Blick zurück und schüttelte den Kopf: „Nein. Nein, sie sieht aus wie ein Wald.“
Das Mädchen drängte sich an ihr vorbei durch die enge Tür und stieß einen Seufzer aus.
Jetzt lugten auch die anderen beiden an Evelyn vorbei.
„Würd' mich nicht wundern, wenn da Nachts ein Wolf auftaucht!“, sagte die mit den kurzen, schwarzen Haaren, die die zu unzähligen kurzen Zöpfen geflochten hatte.
„Pah! Eine Herde Wildschweine würde mich nicht überraschen!“, fügte die Blonde hinzu, die Luca geweckt hatte.
Evelyn schluckte: „Vielleicht wäre es besser, die Tür nachts abzuschließen.“
Im nächsten Moment hätte sie sich am liebsten auf den Mund geschlagen. Hatte sie das jetzt echt laut gesagt?
Doch die Mädchen lachten nur.
„Wir klemmen einen Stuhl davor. Falls jemand nachts auf Toilette muss, hat diejenige Pech gehabt“, schlug die Blonde vor und ging zurück, um auf ihr Hochbett zu klettern. Sie schlief über der Braunhaarigen, während die Schwarzhaarige über Eve war.
Die mit den braunen Haaren reichte Evelyn jetzt schüchtern eine Hand: „Ich heiße Lily.“
Evelyn ergriff die Hand: „Eve.“
„Tee-jo!“, grinste die mit den schwarzen Haaren und die mit den blonden Locken salutierte lässig: „Fay!“
„Äh – freut mich!“, stotterte Evelyn nervös.
Tee-jo und Fay hatten sich bereits auf ihren Betten ausgestreckt, während Lily sorgsam ihre Sachen auspackte und in ihren Schrank räumte. Fay zog ein Buch hervor, um darin zu blättern, Tee-jo steckte sich Kopfhörer in die Ohren und ein Kaugummi in den Mund.
„Und jetzt?“, fragte Evelyn in die Stille.
„Ich denke, wir warten, bis man uns holt“, schlug Lily mit einem sanften Lächeln vor.
„Sie werden uns nicht sehr lange in Ruhe lassen!“, rief Fay vom Bett herunter.
Evelyn ließ sich auf ihr eigenes Bett sinken. Von oben hörte sie schwach die Musik aus Tee-jos Kopfhörern. Lily räumte sorgsam ihre ganze Kleidung ein. Es war ziemlich still.
„Was – ähm – was liest du?“, fragte Evelyn leise.
Fay legte einen Finger zwischen die Seiten und sah zu ihr herunter: „Gänsehaut.“
„Oh … und ist es spannend?“
„Mäßig“, gab Fay gedehnt zurück: „Ich fand die Bücher nie besonders gut. Zu viele falsche Cliffhanger.“
Evelyn nickte nachdenklich und rutschte unwohl auf ihrem Bett hin und her. Es war ihr noch nie besonders leicht gefallen, neue Freundschaften zu schließen.
Umso überraschter war sie, als sich Lily neben ihr auf das Bett fallen ließ und eine schwarze Schachtel hervor zog. Als sie die öffnete, konnte Eve die Karten in deren Inneren erkennen.
„Also, das ist unser Lieblingsspiel: Black Stories“, erklärte Lily und kaute auf ihrer Unterlippe: „Wollen wir eine Runde spielen?“
„Wie geht das Spiel?“, fragte Evelyn neugierig.
„Ich nehme eine Karte. Hier vorne steht ein Satz, den lese ich dir gleich vor. Auf der Rückseite steht eine kurze Geschichte. Von dem einen Satz, den ich dir vorlese, musst du durch Raten darauf kommen, was die Geschichte hinten drauf ist.“
„Okay“, sagte Evelyn gedehnt: „Ich bin nicht so gut im Raten.“
„Keine Sorge. Ich helfe dir ein bisschen. Eigentlich darf ich nur mit Ja oder Nein antworten, aber als Proberunde machen wir es mal anders.“
Lily lächelte gewinnend und Eve nickte: „Dann fang' an!“