In der Dunkelheit:
Amy hatte die Arme um den Oberkörper geschlungen. Ihre Finger zitterten und die Locken klebten nass in ihrem Nacken. Ihr tat inzwischen jeder einzelne Muskel weh, zusätzlich zu den vielen Verletzungen, die sie sich in den letzten Tagen zugezogen hatte. Milo neben ihr humpelte, wohl eher aus Erschöpfung als aus einem anderen Grund. Nur Fay trieb sie stetig voran. So zart das Mädchen auch wirkte, sie bewies eine erschreckende Zähigkeit. Ihre zuversichtlichen Worte, dass sie die anderen bald finden würden, trieben sie weiter.
Jetzt kamen die Armbanduhren zum Einsatz, die Amy und Milo erhalten hatten. Fay zeigte ihnen, wie sie sich die Standorte der anderen Sender anzeigen lassen konnten. Eve, Luca und die anderen waren irgendwo links von ihnen, und so suchten die drei nach einem Tunnel, der sie in dieser Richtung führen würde. Glücklicherweise bewegten sich die kleinen Punkte, die ihre Freunde anzeigten. Das musste ein gutes Zeichen sein.
Milo ließ sich von Fay sagen, welche Nummer Eves Uhr war. Dann rief er das Mädchen an.
Sie antwortete tatsächlich. Amy weinte beinahe, als mitten in der Finsternis plötzlich Evelyns stark verzerrte Stimme erklang.
"Hallo? Milo? Amy? Geht es euch gut?"
"Uns geht es gut", sagte Milo: "Wo bist du?"
"Wir sind hinter dem Gang. Wir suchen euch", erklärte Eve: "Ist Fay bei euch?"
"Bin hier", sagte Fay und sie hörten einen erleichterten Ausruf von Samstag, der jedoch nicht zu verstehen war.
"Wir halten uns rechts", gab Eve weiter, was ihr von einer undeutlichen Stimme gesagt wurde: "Lasst das Licht an und sucht einen Gang nach links."
"Machen wir", sagte Milo: "Eve? Ich liebe dich."
Aber der Kontakt war bereits abgebrochen.
Sie kamen an viele Quergänge, doch alle führten nach rechts, wo tiefe Schwärze wie ein hungriges Raubtier lauerte. Amy schauderte bei dem Gedanken, was sich dort alles verstecken mochte. Sie mochte die niedrige Decke des Tunnels und die engen Gänge nicht. Sie wünschte sich den Himmel zurück, so sehr, wie sie niemals geglaubt hatte, dass sie es sich wünschen könnte, die Sterne zu sehen und kalten Regen zu spüren.
Plötzlich streckte Fay die Hand aus und bedeutete ihnen, stehen zu bleiben. Amy lief beinahe in das blonde Mädchen hinein.
Fay legte einen schmalen Finger auf die Lippen. Mit angehaltenem Atem lauschten Amy und Milo.
Da hörte sie es. Ein Kratzen, wie von Krallen auf nacktem Stein. Etwas bewegte sich in der Nähe.
Das Geräusch kam aus dem klaffenden Maul des nächsten Tunnels. Amy spürte, wie sich die Haare auf ihrem ganzen Körper aufstellten. Ihr Herz schlug nur noch schneller.
Milos Augen waren weit aufgerissen. Fragend sah er Fay an.
Die leuchtete in den Gang. Etwas blitze auf, zwei helle Punkte in der Dunkelheit. Augen.
Schneller, als Amy sehen konnte, waren die Augen verschwunden. Etwas knurrte.
"Lauft!", sagte Fay, aber das hätte sie nicht mehr sagen müssen. Sogar ohne Taschenlampe stürmte Amy los, Milo dicht hinter sich. Die Angst verlieh ihr ungeahnte Kräfte. Sie hörte etwas hinter sich brüllen, das garantiert nicht Fay war, die ihnen folgte.
Es war etwas Unmenschliches. Im flackernden Licht der Lampe hinter sich raste Amy durch den Gang. Sie entdeckte einen Tunnel zur Linken und bog ein, prallte gegen die Wand und lief einfach weiter.
Der Tunnel war voller Kurven. Sie stieß wieder und wieder gegen die Wand, das Licht blieb hinter unzähligen Ecken zurück.
Und dann hörte sie ein hohes Kreischen, ein Schmerzensschrei oder ein Wutschrei, hoch und grausam, in den sich das Geheul einer ganzen Meute grausamer Wesen mischte.
Und Amy stieß gegen etwas Warmes, Lebendiges.