Samhain:
Die Gruppe stolperte vorwärts. Eves Atem rasselte in ihrer Brust. Den anderen ging es nicht besser. Amy fiel mehr und mehr zurück. Samstag und Mira liefen rücksichtslos voraus. Eve glaubte nicht, dass die beiden auf irgendjemanden warten würden.
Überall um sie herum heulten die Wölfe, unsichtbar, aber so laut, dass sie ganz nah sein mussten.
Unvermittelt stolperten sie auf eine Lichtung hinaus. Eve bremste ab. Amy rannte in sie hinein, die beiden Mädchen stolperten.
Ein paar Schritte vor ihnen hatten Samstag und Mira angehalten. Luca stand hinter ihnen, Lily war noch hinter Amy.
Am Rand der Lichtung leuchteten gelbe Augen aus den Schatten, ein dichter Ring hungriger Blicke. Eve schloss schnell zum Rest auf. Die sechs drängten sich zusammen. Vor ihnen, hinter ihnen, zu allen Seiten ertönte Knurren.
Sie waren umzingelt.
Eve wog das Messer in ihrer Hand. Es war keine Waffe gegen ein Rudel Wölfe. Ganz zu schweigen davon, dass sie trotz allem nicht gerne auf Tiere einstechen wollte. Ihr schlug das Herz bis zum Hals.
"Was jetzt?", fragte Mira leise.
Die Wölfe traten langsam auf die Lichtung, unzählige struppiger, schwarzer Gestalten, die schrägen Augen gelb wie der Vollmond, die Gesichter spitz und hager. Sie waren groß.
"Ich denke mal, ihr begreift langsam, was "kein Entkommen" bedeutet", sagte Jemand hinter ihnen.
Samira war wie aus dem Nichts aufgetaucht. Die junge Frau stand lässig zwischen den Bestien, die Arme vor der Brust verschränkt und ein spöttisches Lächeln im Gesicht.
Eve bemerkte Bewegung hinter sich. Samstag vollführte komplizierte Bewegungen. Die Luft vor ihm flimmerte plötzlich wie eine Straße unter großer Hitze. Eve spürte ein Kribbeln im Magen, dann leuchtete ein warmes Licht auf.
Samira schnipste, und das Licht verschwand: "Ach, Sammy. Ich habe dich für intelligenter gehalten."
Der junge Mann sah verzweifelt aus. Eve merkte, wie ihr Mut sank. Die Hoffnung auf dieses geheimnisvolle Tor war alles, was ihnen geblieben war. Jetzt gab es keine Hoffnung mehr. Solange Samira da war, konnte Samstag sie nicht retten.
Die blonde Frau war wohl zu dem gleichen Schluss gekommen. Sie lächelte breit. Eve hatte das Gefühl, dass sich ihre Züge veränderten. Wurde das Gesicht der Frau etwa spitzer?
Alle sechs hoben ihre Waffen. Lily zitterte so stark, dass sie beinahe das Messer fallen ließ. Samstag knurrte leicht.
Die Wölfe knurrten grollend zurück.
"Jedenfalls endet eure Reise hier", sagte Samira: "Ich habe keine Lust, euch ständig zu jagen. Ich hasse es, zu rennen! Ihr habt mich lange genug genervt."
Samira sprang nach vorne. Noch im Flug veränderte sich ihr Körperbau. Sie traf mit vier Pfoten auf der Erde auf, ein gewaltiger, blutroter Wolf, das Maul weit aufgerissen.
Es war ein kleines Wunder, dass alle sechs dem ersten Angriff entgingen. Die Flüchtigen sprangen zur Seite und rollten auseinander. Knurrend kam der riesige Wolf dort auf, wo die sechs eben noch gestanden hatten. Eve robbte durch das kalte Gras. Samira drehte sich mit schweren Schritten im Kreis und fixierte dann Samstag.
Sie sprang ihn an. Bellend und knurrend standen die schwarzen Wölfe am Rand, aber sie griffen nicht ein.
Das Grauen lähmte Eve, sie konnte kaum atmen. Wie war das möglich? Samira, die die ganze Zeit bei ihnen gewesen war, war ihre Feindin?
Sie zitterte. Der Wolf war so riesig, so unwirklich. Das konnte doch alles nicht sein! Gleich würde Eve aufwachen, in Milos Armen, und alles würde wie zuvor sein.
Nur ein Traum. Es war alles nur ein langer, schrecklicher Alptraum. Sie wollte doch studieren und nach England fliegen!
Der rote Wolf schüttelte den Kopf. Er hatte Samstag im Kiefer, jetzt flog der junge Mann durch die Luft und fiel einige Meter entfernt leblos ins Gras. Das Maul mit Blut gesprenkelt richtete sich die Wölfin auf. Ihre leuchtenden Augen suchten die Lichtung ab. Die Menschen hatten sich sternförmig verteilt. Mira hatte sich als einzige aufgesetzt. Die blonde Frau bewegte die Hände und flüsterte fieberhaft Worte, die Eve nicht hören konnte. Samira richtete den Blick auf Mira.
Eve zuckte zusammen. Mira war ihre letzte Hoffnung! Sie könnte vielleicht auch ein Tor öffnen!
In diesem Moment dachte sie an nichts anderes. Sie fühlte das Messer in der Hand, als sie aufstand. Leicht geduckt fiel die gigantische Wölfin in einen Trab, um Mira zu töten. Eve rannte los, flog über das Gras, als wäre sie von ihrem Körper losgelöst. Der Rücken der Wölfin war doppelt so hoch wie Eve. Das lächerlich kleine Messer in der Hand sprang Eve die Wölfin an. Samira - oder was auch immer aus ihr geworden war - jaulte auf, als das Messer wie ein kleiner Dorn in ihre Seite drang. Die Wölfin schüttelte sich. Eve klammerte sich in das lange, dichte Fell. Sie spürte keine Angst, keinen Mut, nichts. Sie zog das Messer aus der Wunde, krallte sich in die Haare und stieß nochmals zu. Die echte Eve hätte niemals ein Tier verletzt. Aber war das hier überhaupt noch ein Tier? Sie schrie wortlos und stieß wieder und wieder zu, wie eine Schlange, wie im Wahn. Sie sah Milo vor ihrem inneren Auge. Sein Lächeln. Sie spürte seine sanfte Berührung, hörte seine Stimme, die ihr Versprechungen einflüsterte.
Ein stechender Schmerz riss Eve in die Realität zurück. Kiefer schlossen sich um ihre Seite. Zähne durchbohrten ihre Haut. Sie schrie vor Schmerz. Sie schrie vor Wut.
Mit dem Messer stieß sie in die Nase des Wolfes. Sie sah die gelben Augen wütend funkelnd. Dann jaulte das Monster wieder und schleuderte sie fort.
Eve landete hart auf dem Rücken. Schmerzen schossen durch ihren Körper, für einen Moment wurde ihr schwarz vor Augen. Als sie wieder zu sich kam, rang sie nach Atem und spuckte rasselnd Blut aus. Das Grauen drang überhaupt nicht mehr zu ihr vor. Sie hörte eine Stimme, die ihren Namen rief. War das Amy oder doch Milo? Eve hätte es nicht sagen können.
Schwer wie eine Milliarde Tonnen fiel die Pranke des Wolfes auf ihre Brust. Eve merkte, wie sie in den Matsch sank. In ihr Grab. Sie konnte nicht mehr atmen. Sie konnte nicht mehr denken. Sie hörte nur das Pochen ihres Herzens, laut wie Donner, schnell wie eine Herde galoppierender Pferde.
Mit letzter Kraft zog sie ein letztes Mal die Hand hoch. Stieß das Messer in Samiras Bein.
Die Klinge rutschte ab. Das Maul zu eine blutigen Grinsen verzerrt lud der Wolf das ganze Gewicht seines gewaltigen Körpers auf Eve. Sie hörte es krachen.
Schwärze füllte ihr Sichtfeld. Sie sah nur noch den Wolf, der das Maul weit aufsperrte. Das Leben wurde aus Eve gequetscht. Sie stöhnte, spürte den kostbaren Atem entgleiten.
Der Wolf zog die Lefzen zurück. Eve hatte das Gefühl, in dieses Maul hinauf zu gleiten, als würde man aus großer Tiefe im Wasser hinauf gleiten. Der Wolf war ihr Spiegelbild auf der Unterseite des Meeres. Sonnenlicht leuchtete hinter dem blutroten Monster. Noch nie war Eve so weit aufgestiegen.
Dann durchbrach ihr Gesicht die Wasseroberfläche. Dahinter war alles anders.