Ein weiterer Keller:
Es war so dunkel, dass sie einander ertasten mussten. Milo fand Eve und zog sie an sich. Inzwischen hatte er selbst Angst und suchte Trost darin, für sie stark zu sein. Amy griff Eves Hand mit der einen und Liam mit der anderen Hand.
"Warten wir?", fragte Eve flüsternd.
"Ich denke nicht, dass es draußen ein Durchkommen gibt", meinte Amy leise: "Suchen wir doch einen anderen Ausgang."
Es war seltsam, die anderen nicht sehen zu können. Milo tastete sich einen Gang mit rauen Wänden entlang, Eve an seiner Seite, Amy und Liam hinter sich. Das vierfache Atemgeräusch war alles, was er hören konnte. Er fragte sich, wie lang der Gang war. Befanden sie sich in einer Sackgasse? Oder endete der Tunnel vielleicht an einer tiefen Grube?
Ein Geräusch ließ Milo erstarren. Amy und Liam liefen in ihn hinein. Er hörte ein Kratzen. Flüstern und Bewegung, irgendwo vor ihnen.
Waren sie allein hier unten?
"Was ist?", fragte Amy besorgt.
"Ich höre was", sagte Milo und spürte, wie Eve zu zittern begann. Ihm war sogar, als könnte er die wachsende Angst der anderen wahrnehmen.
Jetzt konnte er deutlich mehrere Stimmen hören, ohne Worte ausmachen zu können.
Ein wahnsinniger Drang zwang ihn, Schritt für Schritt weiterzugehen. Er atmete flach und fühlte, wie er beinahe zu den Stimmen gezogen wurde. Er setzte die Füße ganz sacht auf und hatte jeden Muskel gespannt, während er vorwärts schlich.
Eves Finger krallten sich in den Stoff seiner Jacke.
"W-w-w-w-was tust d-d-du?", stotterte Liam mit schriller Stimme.
"Sch!", machte Amy warnend.
Sie schlichen vorwärts, um eine Biegung des Ganges, wohinter sie einen blassen Lichtschein entdeckten. Es war grünliches Licht, das in den Gang fiel und eine weitere Biegung ausleuchtete. Milo drückte sich mit dem Rücken an die graue Wand. Es gab keine Türen an dem Gang, nur Spinnweben in den Ecken des Tunnels über ihnen. Eves Atem strich über seinen Hals, als sie an ihm vorbei spähte. Die Stimmen schwollen an und ab. Es waren viele Menschen, die etwas sangen.
Sie erreichten die Ecke und Milo beugte sich vor. Er sah in einen großen, runden Raum hinein, aus dem das grüne Licht strahlte.
Viel konnte er nicht erkennen, doch irgendwas erschreckte ihn so fürchterlich, dass seine Beine nachgaben und er auf den Boden des Tunnels fiel. Eve hielt seinen Arm noch fest. Milo blinzelte in das helle Licht, vor dem sich dunkle Schatten bewegten, fließende Schatten, große Schatten.
Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Er konnte nicht schlucken, nicht atmen und sich auch nicht rühren.
"Milo!", rief Eve, jetzt nicht mehr darauf bedacht, dass sie nicht entdeckt werden wollten. Die Stimmen waren jetzt laut wie ein Schrei.
Und doch hörte Milo, wie Liam schrie: "Sie sind hinter uns!"
Gestalten in dunklen Kapuzen waren hinter ihnen aufgetaucht, hatten sich aus der Dunkelheit geschält wie Dämonen. Hände griffen nach ihnen. Milo kreischte und wich zurück. Vor Angst konnte er keinen klaren Gedanken fassen, kaum atmen. Kalt und fest wie die Griffe des Todes schlossen sich Finger um seinen Arm und zerrten an ihm. Milo wurde über den Boden geschleift. Kein Muskel gehorchte ihm, er war so hilflos, als hätte man ihn gelähmt. Er hörte Evelyn nach ihm rufen und die Kampfgeräusche von Amy, die mit ihren Wächtern rang.
Dann verdrehten sich seine Augen nach oben und die Dunkelheit zog ihn in ihre Umarmung.