Das vorletzte Hotel:
Luca saß schweigend auf dem kalten Sitz des Wagens. Er saß auf der Rückbank, neben Samstag, der durch die Scheibe in den Schneeregen hinaus sah. Es war stürmisch geworden, zu beiden Seiten der steilen Bergstraße beugten sich die Tannen dem Wind, düstere Wolken rollten über den Himmel.
Es blitzte. Ein Gewitter zog auf und machte den Nachmittag zur Nacht.
Luca sah in den Rückspiegel. Vor ihnen saßen zwei Männer in dunklen Anzügen. Es waren grobkantige Schläger, Gesichter und Hände mit Narben übersät. Derjenige, der vor Luca saß, hatte nur noch ein Auge, dem Fahrer fehlten zwei Finger. Ansonsten glichen sie einander wie Brüder, mit breiten Nasen, fleischigen Lippen und finsteren Gesichtern. Der Beifahrer erwiderte Lucas Blick im Rückspiegel, ohne zu blinzeln.
Sein kaltes, dunkles Auge machte klar, dass diese Männer - und die beiden anderen, die die anderen Wagen der kurzen Kolonne fuhren - keine Opfer oder unwissende Angestellte waren.
Sie wussten Bescheid.
"Was habt ihr mit uns vor?", fragte Luca den Einäugigen.
Er hatte nicht mit einer Antwort gerechnet. Doch der Einäugige grinste breit und offenbarte schiefe, angeschwärzte Zähne: "Wir? Wir bringen euch nur zu eurem nächsten Hotel. Die Meister - sie wollen euch. Euer Blut, eure Angst, eure Tränen."
"Die Meister?", fragte Luca. Er fühlte sich nicht mehr neugierig, aber er wollte sich von den düsteren Gedanken ablenken. Wieder und wieder tauchten die Gesichter vor ihm auf. Fay. Milo. Liam.
"Die Meister sind diejenigen, die in den Hotels wohnen", erklärte der Beifahrer.
"Und warum haben wir sie nicht gesehen?", fragte Luca.
Der Einäugige warf dem Fahrer einen Blick zu. Dann brachen beide plötzlich in Gelächter aus. Luca sah irritiert zu Samstag, doch der schien sie nicht zu hören.
"Weil ihr noch lebt!", erklärte der Einäugige belustigt, nachdem er sich von dem Anfall erholt hatte.
"Dann haben diese Meister unsere Freunde ermordet?", fragte Luca und beugte sich nach vorne, so weit der Gurt es zuließ: "Sie sind schuld!"
"Schuld? Es ist eine große Ehre, von den Meistern erwählt zu werden", meinte der Einäugige. "Du solltest dich entsprechend benehmen."
"Das ist doch keine Ehre!", knurrte Luca.
Jetzt drehte sich der Einäugige um und musterte ihn mit Neugier: "Du wurdest ebenfalls ausgewählt. Die Kälte hat deine Angst getrunken. Von dir und diesem Mädchen. Fay."
Der Name war ein Stich in Lucas Brust. Er erinnerte sich an das Hotel Blair, als sie gemeinsam im Keller eingeschlossen gewesen waren. Irgendwie glaubte er, dass dort die Kälte gewohnt hatte.
"Die Wildnis hat deine Angst ebenfalls getrunken", redete der Mann weiter: "Die weißen Frauen haben eure Tränen erhalten. Jetzt wird euer Blut verlangt und die Meister werden es erhalten."
Luca schluckte. Er hatte geglaubt, dass er keine Angst mehr empfinden könnte, dass alles aufgebraucht wäre, doch jetzt kroch eine Gänsehaut über seinen Rücken.
"Ihr werdet dafür bezahlen", knurrte eine tiefe Stimme, die Luca kaum als die von Samstag wiedererkannte. Der junge Mann hatte die beiden Männer fixiert. Hass sprach aus der hageren Miene.
Der Einäugige lachte wieder und deutete nach vorne: "Natürlich. Aber dazu müsst ihr hier durch. Wenn wir euch morgen abholen, werden wir ja sehen, wer bezahlt hat."
Luca folgte der Geste des Mannes mit dem Blick.
Sie erreichten das vorletzte Hotel. Gerade fuhr ihr Wagen unter einem großen Bogen hindurch. "Fun- and Fantasy Themepark" stand auf dem Schild, obwohl einige Buchstaben abgefallen waren. Zwei Maskottchen flankierten den Bogen, überlebensgroße Statuen eines Eichhörnchens und eines Drachen. Sie waren einmal niedlich gewesen, doch der Regen hatte ihre Augen wie zu Tränen verlaufen lassen und das freundliche Lächeln spitz und diabolisch werden lassen.
Die Autos hielten hinter dem Schild vor einem großen Tor. Ein paar verlassene Kartenhäuschen rahmten den Platz ein. Die Männer stiegen aus und zogen das Rolltor auf.
Luca trat mit Samstag nach vorne. Amy, Eve, Mira, Wild Child und Samira traten zu ihnen. Die sieben fröstelten in der kalten Luft. Es schneite nicht mehr und der Regen war zu einem Nieselregen geworden. Aber das Gewitter näherte sich. Es würde eine stürmische Nacht werden.
Die vier Fahrer deuteten wie einladend auf das Tor: "Willkommen."
"Wo sind wir?", fragte Amy.
Die Männer grinsten. "Nicht mehr in der Welt, die ihr als eure Realität anseht", sagte einer, dem mehrere Zähne fehlten: "Ihr werdet morgen abgeholt, dort, hinter dem Turm. Wir bringen die, die überlebt haben, zum Hotel Waldesruh. Dann ist es vorbei."
Luca trat zögernd über die Schwelle des Tores. Die anderen blieben dicht zusammen. Ein verlassener Freizeitpark lag vor ihnen, mit Müll übersät, die Attraktionen tot wie die Skelette von Riesen.
Luca bemerkte, dass keiner der vier Männer die Schwelle übertrat. Das Tor wurde hinter ihnen mit lautem Quietschen geschlossen.
Luca zückte sein Klappmesser. Die anderen taten es ihm gleich. Sie hefteten die Augen auf den fernen Freefall-Tower, eine schlanke, schwarze Silhouette am Horizont.
Dort wartete ihr Ausgang.
"Viel Glück", wünschte der Einäugige ihnen. Es klang nicht wirklich so, als würde er ihnen Glück wünschen. Viel mehr so, als freue er sich darauf, ihre verstümmelten Leichen einzusammeln.
In einer geschlossenen Linie traten die Sieben, die noch lebten, in den Park hinein.