Es hatte ein wenig gedauert. Aber jetzt hatte er ein treffendes Wort dafür. Das Gefühl, das Noah ständig begleitete, war Müdigkeit. Obwohl es nicht so sehr ein Bedürfnis nach Schlaf war. Der Mann schlief nicht schlechter oder weniger als in den letzten Monaten. Vielmehr war es eine seltsame Leere, die nach der permanenten Anspannung der vergangenen Wochen von ihm Besitz ergriffen hatte. Mit ihr war eine tiefe und nicht rational begründbare Unruhe einher gegangen. Alles war mühsam geworden. Selbst scheinbar ereignislose Tage kosteten viel mehr Kraft, als sie sollten.
Lustlos stocherte Noah in seinem Salat Nicoise. Wie so vieles in letzter Zeit, landete auch dieser Teller kaum berührt wieder im Kühlschrank.
"Gut, dass du da bist!", begrüßte sein Schatz ihn aufgebracht. "Die sagen, ich muss mit einer Ernährungsberaterin reden!"
Das war neu und irgendwie total süß! David regte sich sonst nie auf. Er jammerte nicht. Er beschwerte sich über nichts.
"Das ist doch bestimmt interessant", meinte Noah leicht irritiert ob der unterirdischen Laune, beugte sich zu ihm hinunter und hauchte ihm schmunzelnd einen Kuss auf die Stirn. Die zornige Falte zwischen den Augenbrauen verschwand.
"Ist es nicht! Was will die denn von mir?!" Es klang noch immer zutiefst genervt.
Seine Lippen streiften die Schläfe, die Wange und die Stelle hinter dem Ohr an der der kleine Stern tätowiert war. "Werden wir sehen."
David kicherte. Sicher wollte er es nicht, aber er war da nun mal kitzlig.
"Muss ich Fleisch essen?" Nur noch trotzig.
"Kann", ein sanftes Knabbern am Hals, "ich mir", und am Kieferknochen entlang, "nicht vorstellen."
War ja nicht auszuhalten, das! Grinsend packte David ihn am Kragen und fand sich endlich in dem Kuss, den er haben wollte.
Für Noah war es immer wieder erstaunlich, wie beruhigend es sich anfühlte, einfach nur bei ihm zu sein.
"Alles in Ordnung, Nugget?"
Die Tage vergingen so unendlich langsam. Immer der gleiche Ablauf. Und dieses Zimmer. Nur der selbe karge Raum, das Bad, draußen der Gang. Davids Welt endete an der Glastür. Es war inzwischen so eine Sache, mit der Geduld. Er sagte nichts. Aber er hielt es kaum noch aus. Er wünschte sich nichts mehr, als endlich nach Hause zu dürfen.
"Aber ja. Alles gut."
Noah musste sich etwas früher losreißen, als sonst. Es war Freitag und Emma wollte am Abend zur Gymnastik. Etwas sollte sich dadurch zurückbilden. Die junge Frau hatte ausführlich erklärt was und wieso, aber wie die meisten Männer speicherte auch ihr bester Freund Informationen über weibliche Geschlechtsorgane, wenn überhaupt, in einem großteils brach liegenden Teil seines Hirns. Dass Luisa deswegen bei ihm sein würde, hatte Noah aber selbstverständlich behalten. Sie hatten zusammen im Feinkostladen um die Ecke eingekauft und chillten jetzt auf der Dachterrasse.
Die Lounge hier draußen war eine gute Investition gewesen. Vor allem dieses eine Möbel, in dem Noah sich neben dem kleinen Mädchen eben gemütlich ausstreckte. Es war so eine Art überdimensionale Muschel. Ein lockeres Netz über dem offenen Teil hielt neugierige Insekten ab. Weil es wirklich gemütlich war und Luisas tiefenentspanntes Nickerchen ansteckend, fielen ihm die Augen zu.
"Hey."
Das wohlige Schnurren der Katze war leise aber deutlich zu vernehmen. Sie musste ganz in der Nähe sein. So weit, so normal. Noah blinzelte in grüne Augen. Direkt vor sich. Er war noch nicht wach. Eindeutig.
Zweiter Versuch. Und diesmal mit mehr Konzentration.
Augen auf.
Wieder.
Eine Illusion. Ein Trugbild. Bei Menschen die sich in der Wüste verirrten kam das angeblich vor. Schwer zu sagen, ob es grausam oder barmherzig war, im Angesicht des Todes zu sehen was man am meisten ersehnte.
Das Netz bewegte sich leicht im Wind und ganz sacht strichen Fingerspitzen über seine Wange.
"Weißt du, wann ich deinetwegen so richtig Angst bekommen habe?", fragte eine leise Stimme. "Als ich gemerkt habe, dass ich neben dir schlafen kann."
David? Ungläubig, nein fassungslos sogar, berührte Noah die andere Hand, strich kaum merklich an der Innenseite des Unterarms entlang, streifte nackte Haut an der Schulter, das T-Shirt war etwas zu groß, und hielt erst inne am Brustkorb, wo der gleichmäßige Herzschlag des Anderen zu spüren war. Das war keine Einbildung!
"Nugget!", fuhr der Mann hoch und wurde sich im gleichen Moment der Tatsache bewusst, dass das Baby nicht mehr da war! Panisch suchten seine Augen die Umgebung ab, außer Herbert war da nichts!
"Noah", versuchte David ihn zu beruhigen, "Emma hat sie schon mit nach Hause genommen."
"Aber ... Was ..."
"Du hast tief geschlafen", lächelte er. "Wir wollten dich nicht wecken."
"Luisa ..."
"Die nicht. Sie war putzmunter und vergnügt."
Noahs Herz raste. Diese Situation war unbegreiflich. "Nugget", perlte ihm fast tonlos über die Lippen. "Das kann doch nicht sein! Wie kommst du denn hier her?"
"Nils hat mich gefahren. Hammer Wohnung, soll ich dir ausrichten."
"Dank... Du bist aber nicht abgehauen, oder?!", entfuhr es ihm.
Kichernd schüttelte David den Kopf.
"Sie haben dich raus gelassen?! Warum weiß ich das nicht? Warum sagst du mir das nicht, ich ..."
"Noah ..."
"Wieso denn am Abend, das geht doch nicht ..."
"Noah ..."
"Ich wollte dich abholen!" Der Größere war fassungslos. Er sank regelrecht in sich zusammen.
David setzte sich auf und zog ihn an sich. "Ich habe doch selbst nicht damit gerechnet", flüsterte er. "Du warst kaum weg, da ist die Ärztin zu mir gekommen. Sie hat gesagt, dass sie sehr zufrieden ist. Und dass ich am Montag entlassen werde. Aber sie machen am Wochenende eh nicht wirklich viel! Ich wollte gleich gehen. Wir haben das diskutiert und sie hat mich gelassen."
Zögernd legte Noah die Arme um ihn. Ganz so, als traute er der Sache nicht. Dem folgte ein tiefes Seufzen, das von einem Auflachen begleitet wurde. Es hätte auch ebenso gut ein Schluchzen sein können, David sah es nicht, er hörte und fühlte es nur. Und dann wurde er umfangen. Fest, warm, unendlich liebevoll.
"Ich wollte nur nach Hause", murmelte David in Noahs Haare.
"Und danach kamst du zu mir?"
"Nicht wirklich." Der Kleinere zuckte mit den Schultern. "Ich kam gleich zu dir. Zuhause ist, wo du bist."
"Oh, Nugget. Ich wäre doch in zwanzig Minuten bei dir gewesen."
"Ich weiß. Aber du hattest Luisa hier."
"Aber ..."
"Kein Aber. Ihr wart vorhin so süß zusammen! Ich habe nie etwas gesehen, das mir besser gefallen hat. Ich will niemals der Mensch sein, der dich davon abhält, Zeit mit deiner Tochter zu verbringen. Ich weiß viel zu gut wie es ist, einen Vater zu haben, dem alles andere wichtiger ist. Diese Erfahrung ersparen wir unserer Kleinen."
"In Augenblicken wie diesen, kann ich mein Glück nicht fassen. Du bist ein Wunder. Ich liebe dich."
Er gluckste leise und knuddelte seinen Schatz ein bisschen. "Das Wunder möchte sehr gerne baden um den Krankenhausgeruch los zu werden. Dafür müsstest du mich aber loslassen."
"Ich glaube nicht, dass ich das kann. Bleib bei mir. Außerdem", Noah schnupperte an seinem Hals entlang, "merke ich nichts."
"Ich schon. Wollen wir rein gehen? Es wird kühl und ich musste versprechen mich nicht zu erkälten."
Ein kurzer Ruck ging durch den Körper des Größeren, der sich sofort anspannte.
"Nein, nein", lachte David. "Damit hörst du jetzt auf!"
"Womit denn?"
"Tu nicht so unschuldig. Du hast dich im Bruchteil einer Sekunde gefragt, ob tragen oder werfen die bessere Lösung ist, um mich am schnellsten durch die Tür zu kriegen. Und gleichzeitig überlegt, wie hoch du das Thermostat in der Wohnung aufdrehen sollst. Vermutlich schwankst du irgendwo zwischen 25 und 30 Grad."
"Gar nicht wahr! Werfen war nicht dabei!"
"Du musst jetzt aufhören, dir Sorgen zu machen."
"Das geht nicht so einfach", sagte Noah ernst.
"Doch, das geht. Lass los. Was immer auch kommt, es liegt nicht in unseren Händen. Ich bin hier. Ich lebe. Ich liebe. Dich." Sanft legten seine Lippen sich auf Noahs. "Dir geht es schon lange nicht mehr gut. Glaub nicht, dass ich das nicht sehe. Du musst zur Ruhe kommen. Für dich, für mich, für jeden, der dich gern hat. Versprich mir nur, es zu versuchen."
"Versprochen", grummelte Noah. "Aber erst ab morgen. Heute lasse ich dich nicht aus den Augen."
"Auch im Badezimmer nicht?"
"Da sowieso nicht. Viel zu gefährlich." Ein wissendes Schmunzeln zeigte sich in seinem Gesicht. "Hast gerade ein leicht gestörtes Verhältnis zu deinem Körper, nicht wahr?"
"Minimal", bestätigte der junge Mann kleinlaut.
Sie wussten beide, dass es die Untertreibung des Jahres war. David war blass und mager. Er wollte nicht, dass jemand ihn so sah. Er wollte sich nicht mal selbst ansehen.
"Wie wäre es, wenn ich zuerst in die Wanne steige und ganz viel Schaum rein mache. Ich schaue auch nicht hin, bis du im Wasser bist!"
"Netter Versuch."
Noah musste lachen. "Ist schon gut. Ich könnte mich inzwischen auch um ein Abendessen kümmern?"
"Das wäre toll", freute David sich. Wie hatte ihm das gefehlt!
"Was hat die Ernährungsberaterin gesagt?"
"Dass ich alles essen darf was mir schmeckt und so viel davon, wie ich schaffe. Dann hat sie über Lebensmittel gesprochen, deren Inhaltsstoffe besonders wertvoll sind und mir viele Zettel und Broschüren gegeben."
"Das klingt perfekt! Was möchtest du?"
"Ganz ehrlich? Pizza. Ich möchte Pizza! Ich hatte ewig keine mehr! Ich träume schon davon! Geht das?"
"Die Frage war hoffentlich rein rhetorisch. Ich bin der Mann, der Träume wahr werden lässt. Mit Nutella drauf?"
"Was?" David schüttelte sich. "Wer isst denn so was?!"
"Ja, du hast recht. Weiß auch nicht, wie ich darauf komme."
"Eben."
"Okay. Ich rufe beim Italiener an."
"Bitte, warte. Ich ... bin noch nicht so weit. Ich denke noch nach."
"Über den Pizzabelag?"
"Nein. Über den Vorschlag mit dem Schaum." Mit geschlossenen Augen kuschelte David sich wieder fest an. "Halt mich noch ein bisschen."
"Die ganze Nacht, wenn du willst."
Sie konnten sich beide nicht vorstellen, einander je wieder los zu lassen.