Vorsichtig legte David ein Schmuckstück auf sein Werkbrett. Zwei der insgesamt fünfzehn Steine fehlten. Der Goldschmied hatte diese bei einem Schleifer in Auftrag gegeben, der ihm sehr schnell die fertig facettierten Stücke geliefert hatte. Vor allem mit deren Farbton, der naturbedingt leicht variieren konnte, war der junge Mann höchst zufrieden. Jenes typische Blutrot, das den besonderen Reiz der Granaten ausmachte, war bis in die kleinste Nuance abgestimmt.
An Samstagen genügte es, wenn nur einer der Goldschmiede in der Werkstatt war. Nur, damit dringende kleine Reparaturen für Kunden durchgeführt werden konnten, wenn es nötig war. Die Kollegen machten unter sich ab, wer das übernahm. Weil David ohnehin gerne alleine war, arbeitete er an diesen Vormittagen sehr oft. Ganz freiwillig.
Er mochte die Ruhe hinter seiner Sicherheitstür und konnte sich mehr Zeit nehmen, wenn eine der Verkäuferinnen eine Frage hatte und ihn nach vorne in den Verkaufsbereich holte. Manchmal brauchten sie ihn auch gar nicht. In diesen Stunden konnte er gewöhnlich viel erledigen, weil niemand ihn störte.
Heute war es ihm ganz besonders recht, dass er hier sein konnte. Wie war ihm das nur passiert?
Mit ein bisschen Glück war Noah vor ihm eingeschlafen und hatte gar nicht gemerkt, dass sie die halbe Nacht zusammen auf der Couch gelegen hatten? Das wäre super. Aber unrealistisch. Wer sollte dann die Decke über sie beide gebreitet haben? Herbert jedenfalls nicht. Das Tier war in der Früh sowieso seltsam gewesen. Noch langsamer als üblich, hatte nicht fressen wollen, aber ganz schön viel Wasser getrunken. Hätte David es nicht besser gewusst, hätte er gemeint, seine Katze habe einen Kater.
Nachdem der junge Mann aufgewacht war, hatte es noch ein wenig gedauert, bevor er realisiert hatte, wo er war. Und mit wem. Es war weich und warm gewesen, durch und durch gemütlich eben. Er hatte auch gefunden, dass er außergewöhnlich gut geschlafen hatte, während er sich entspannt ausgestreckt und dabei ins Halbdunkel geblinzelt hatte.
Noah. Diese allererste Info des Tages, war mit Lichtgeschwindigkeit vom Auge zum Hirn und von dort aus in jede Zelle seines Körpers geschossen. Aus irgend einem Grund, der sich ihm im ersten Schock nicht erschlossen hatte, war der Mann direkt neben ihm gewesen! Sogar sehr nah neben ihm, und, er hatte einen Arm um ihn gelegt gehabt.
Der erste Impuls sofort aufzuspringen, war einer lähmenden Starre zum Opfer gefallen, die es David unmöglich gemacht hatte, auch nur den kleinen Finger zu rühren. Was angesichts der Situation ja wohl vollkommen verständlich gewesen war.
Und dann war es ihm wieder eingefallen: Bis lange nach Mitternacht hatten sie zusammen Tiramisu gegessen, geredet und irgendwann den Fernseher angeschaltet.
Ein paar gleichmäßig angestrengte Atemzüge später hatte der Goldschmied beschlossen, die Situation sofort in den Griff zu bekommen. Besser ausgedrückt, sich so schnell wie möglich aus dem Staub zu machen, bevor der Andere aufwachen würde.
Das hatte geklappt. Es hatte gedauert, aber es hatte funktioniert! Ganz vorsichtig hatte der junge Mann sich Zentimeter für Zentimeter unter der Decke und Noahs Arm davongestohlen. Damit waren seine Probleme jedoch keineswegs gelöst gewesen. Im Gästezimmer hatte ja Emma geschlafen, und da waren all seine Sachen gewesen!
Wie wunderbar, dass es in dieser Wohnung weder knarrende Treppenstufen, noch quietschende Scharniere an Türen gab. Bei sich zuhause hätte David keine Chance gehabt. Er hatte sich, an der jungen Frau vorbei, sogar in sein Bad schleichen können. Und wieder hinaus, ohne dass er dabei ein nennenswertes Geräusch verursacht hätte.
Als er danach auf Socken die Treppe nach unten gelaufen war, hatte er unweigerlich an jenen Morgen vor über einer Woche denken müssen, als er schon mal versucht hatte, Noah aus dem Weg zu gehen.
Wie sich herausgestellt hatte, war das gar nicht nötig. Der Mann hatte nichts gegen Gesellschaft. Er war gerne von anderen Menschen umgeben. Aber von denen schlief vermutlich auch keiner neben ihm ein, das ging doch eindeutig zu weit!
Wenn es einer täte, wie schräg wäre das? David wusste es nicht. Er hatte, keine tolle Erkenntnis, aber wahr, nie einen wirklich guten Freund gehabt. Nein, noch nie. Nicht so einen, der einfach nur da war. Ganz ohne etwas dafür zu erwarten. Mit dem man ebenso gut reden, wie schweigen konnte. Und offensichtlich sogar einnicken und aufwachen.
"Kannst du nicht noch ein paar Nächte bleiben?"
"Und dir David in die Arme treiben? Sorry. Würde ich gerne. Aber ich muss am Montag arbeiten und vorher noch zu einem Organscreening." Emma tätschelte mit einer Hand ihr leicht gewölbtes Bäuchlein. "Kann ich nicht verschieben."
"Was?! Wieso, was ist denn?"
"Gar nichts. Das ist eine Routineuntersuchung." Die junge Frau tunkte einen Pancake in Apfelmus und biss herzhaft hinein. Der zutiefst erschrockene Gesichtsausdruck ihres besten Freundes amüsierte sie. "Das Zeitfenster dafür ist eher klein, zwanzigste bis vierundzwanzigste Woche sind ideal. Da passt mein Termin genau."
"Aha." Noah atmete sichtlich auf.
"Willst du darüber reden?"
"Über was?"
"Sag du es mir", grinste sie. "Ist es immer noch wegen meinen Eltern? Die kommen dir nur so arg vor, weil du meinen Opa nicht kanntest."
"Deinen Opa?"
"Hat bis September letzten Jahres an den Endsieg geglaubt."
"Bitte, was?"
"Ja. Im Oktober ist er dann gestorben."
"Was hat sich im letzten Monat geändert?"
"Na ja", sinnierte sie. "Vermutlich ... nichts. Aber da lag er im Koma und wir wussten es einfach nicht mehr so genau. Raus damit. Was ist los?"
"Hat er ... ich meine ... David und du. Ihr habt euch doch gestern lange unterhalten."
"Ja? Und?"
"Hat er was gesagt? Über mich?"
Emma fing an zu lachen. "Weißt du, wie du mir gerade vorkommst? Wie ein bis über beide Ohren verliebter Teenager!"
"Hmmm", grummelte er in seine Kaffeetasse.
"Abgesehen davon, dass er meinte ihr wärt nur Freunde? Nein, hat er nicht."
"Gar nichts? Nur das?" Seine Enttäuschung stand ihm in Gesicht geschrieben.
"Chill mal. Ich fand sowieso viel interessanter, was er getan hat."
"Dass er zu mir gekommen ist, um sich für dich zu entschuldigen? Kann ich mir vorstellen, dass dir das gefällt."
"Ach, bitte. Das war nicht der Grund. Er ist zu dir gekommen, weil er sich Sorgen um dich gemacht hat. Du warst ja auch ganz schön durch den Wind. Ganz untypisch drauf, halt."
Der Brünette legte seinen Kopf etwas schief.
"Er wollte nach dir sehen", fuhr die junge Frau fort. "Sonst nichts."
"Wie kommst du darauf?"
"Er hat ein Herz, deshalb. Ich halte eine ganze Menge von ihm. Ich bin froh darüber", sagte sie nachdenklich. "Weil ich ein bisschen Angst davor hatte, ihm zu begegnen."
Noah blinzelte verwirrt. "Verstehe ich nicht."
"Ich konnte mir dich nie mit jemand anderem als Julian vorstellen."
"Emma, das ..."
"Ja. Ich weiß. Ihr habt euch getrennt und es geht mich nichts an. Aber ich habe ihn gern und es tut mir weh."
"Ich habe ihn auch gern."
"Das soll mal einer verstehen."
Noah lächelte verhalten. "Hast du befürchtet, du würdest David nicht mögen?"
"Überschätz mich da mal nicht", murmelte sie und rührte in ihrem Kakao. "Was soll ich machen, wenn du mit jemandem zusammen bist, der mich nicht in deinem Leben haben will?"
Aha. Das war es also. Er stand auf und umarmte sie fest. "Ach, Mädchen."
"Sieh zu, dass du das mit ihm auf die Reihe kriegst, ja? Du findest vielleicht keinen mehr, der mich ohne Aufsicht näher als zweihundert Meter an dich ran lässt."
"Ich werde daran denken." Fröhlich wuschelte Noah ihr durch die kurzen Haare. "Ruf mich nach dem Screening an. Ich will wissen, ob alles in Ordnung ist."
Sie nahm sich noch einen der super leckeren Pankaces, bessere als seine gab es überhaupt nicht auf der Welt, und schmunzelte.
Wie auch immer das geschehen war, der Goldschmied konnte es sich nicht erklären. Tiefen Schlaf fand er nämlich generell nur selten. Neben einem Mann für gewöhnlich gar nicht. Auch nicht in Beziehungen, die länger gedauert hatten. David fragte sich schon lange woran es lag, dass ihm das nicht gelang. Er fürchtete sich aber auch davor, die Antwort herauszufinden. Dafür hätte er sich wieder mit dem Teil von sich auseinandersetzen müssen, dessen Existenz er so gerne verleugnet hätte. Dem, der grundsätzlich jedem misstraute und immer mit dem Schlimmsten rechnete. Der sich nur alleine ganz sicher fühlte. Weil Menschen unberechenbar waren.
Der junge Mann ahnte durchaus, dass das ein Problem war. Dass es nicht so sein sollte. An der Seite eines Anderen zu liegen, den man liebte oder es zumindest in diesem Moment glaubte, sollte keine anhaltende Unruhe verursachen. Da musste es etwas geben, das stattdessen an diese Stelle gehörte.
Schwierig nur, es zu benennen. Wie sich das wohl anfühlte, wenn es richtig war? Wie Geborgenheit? Tiefe innere Ruhe, vielleicht? So was in der Art?
Diese ersten paar Sekunden heute, als nur das Herz wach war, der Kopf noch nicht ... Nicht nachdenken!
Es war genug zu tun, das lenkte ab. Hoffentlich. Wäre der Anhänger erst ausgebessert und poliert, wäre er ohne Zweifel ein außergewöhnlich schöner Anblick. Es würde sich bestimmt auch eine Kette finden, die im Stil dazu passte.