Noah war so glücklich, dass er ihn gerne umarmt und einfach mal gedrückt hätte. Nur um sicher zu gehen, dass er sich das alles nicht einbildete. Selbstverständlich fasste er ihn weder an, noch zeigte er abgesehen von verhaltener Freude, keine außerordentliche Gefühlsregung. Im Gegenteil, er bemühte sich möglichst normal zu wirken, um nicht zu sagen extrem ausgeglichen, damit auf keinen Fall der Eindruck entstünde, als wäre es total umwerfend, David direkt neben sich zu haben. Was vor fünf Minuten ja noch eine vollkommen absurde Vorstellung gewesen war.
"Ich würde dir gerne die Hälfte abgeben", meinte der Brünette ehrlich, "aber ich fürchte, du hättest mit dem Parmaschinken keine Freude."
"Das hast du dir gemerkt?"
"Ich bin ein Genie."
Okay. Er hatte sich auch das gemerkt. "Was ich da gesagt habe ..."
"Was denn?"
David war klar, dass er da jetzt durch musste. Er bereute schon, nicht die Abkürzung genommen zu haben. Nicht die auf der Straße. Die aus dieser Lage, in die er sich zwar selbst gebracht hatte, die ihm deswegen aber noch lange nicht behagte. Er fühlte sich mal wieder, als würde ihm eine Hautschicht fehlen. "Was ich damals in meiner Werkstatt gesagt habe, dass du nicht aussähst, als könntest du dir die Brosche leisten ... tut mir leid."
"Aha?" Noah musste sich sehr bemühen, ernst zu bleiben. "Und was ist mit den anderen Gemeinheiten?"
"Auch."
"So wichtig bist du nicht."
David sah aus, als hätte er gerade komplett den Faden verloren. Der Größere konnte gar nicht anders, als in herzliches Lachen auszubrechen, rückte ein bisschen ran und stieß den Anderen leicht mit dem Ellbogen in die Seite. "War doch nicht ernst gemeint! Komm, vergiss es. Du hast dich über mich geärgert und ich war selbst schuld daran."
Sofort rutschte der Mann wieder zurück ans andere Ende der Bank. Noch etwas weiter als zuvor sogar. Wie beim ersten Mal, als sie einander begegnet waren, sah es auch jetzt nicht nach einer guten Idee aus, David allzu nahe zu kommen. Er sprang Gott sei Dank nicht auf, wirkte allerdings gerade wieder alles andere als entspannt. Noah hatte inzwischen eine recht genaue Ahnung davon, was die Ursache für dieses Verhalten war. Ansprechen würde er das Thema sicher nicht. Er würde ab jetzt jedoch noch viel aufmerksamer sein.
"Ich hätte nicht einfach reinspazieren und dich von der Arbeit abhalten dürfen", fuhr er fort. "Wenn das bei mir jemand macht, finde ich das auch nicht witzig." Das war sein Ernst.
Es war noch keine drei Wochen her, da hatte der große Brünette seiner besten Freundin Emma gedroht ihr die Finger zu brechen, sollte sie ihm noch einmal in die Tastatur greifen. Dass es erstaunlich gut funktioniert hatte, wunderte ihn selbst am meisten. Entweder hatte er sich durchgesetzt, weil er endlich mal seine ganze Autorität gezeigt hatte, oder die junge Frau war im Moment ein bisschen neben der Spur. Noah wünschte zwar aus tiefster Seele es wäre das erste, aber um ehrlich zu sein, hielt er diese Möglichkeit sogar selbst für höchst unwahrscheinlich.
"Außerdem schaue ich ja wohl noch immer nicht aus, als könnte ich das Ding bezahlen", lächelte er, während er kopfschüttelnd an sich hinuntersah.
David fand zwar, dass da was dran war, aber gemein war es trotzdem gewesen. Es war nur fair, sich zu entschuldigen. Er wollte nie zu den Menschen gehören, die andere danach beurteilten, wie viel Geld sie hatten. Oder welches Auto sie fuhren. "Könnte ich auch nicht", gab er deshalb zu und zuckte kurz mit den Schultern.
Das meiste von dem, was der Goldschmied täglich in Händen hielt, war für seine eigene Gehaltsklasse praktisch unerreichbar. Die Ironie an der Sache hatte er schon vor vielen Jahren erkannt. Es machte ihm nichts aus. "Du hast mich nicht gestört."
"Nicht?"
"Nein."
"Okay. Auch ... auch auf die Gefahr hin, Licht auf etwas zu werfen, das vielleicht lieber im Dunkeln bleiben sollte", überlegte Noah halblaut, "was habe ich denn so falsch gemacht, dass ich bei dir schon in der ersten Sekunde ein rotes Tuch war?"
"Mich gekränkt, gedemütigt, bloßgestellt? Such dir was aus."
Der Andere hörte schlagartig auf zu kauen. Das war wieder gar nicht gut hier. "Weil ich gesagt habe, dass du klein bist? Das war ehrlich nicht böse gem..."
"Nein, weil ich es satt habe vor euch Typen dazustehen wie Freiwild."
Der Größere wagte kaum, sich zu bewegen. "Hör mal", sagte er leise. "Ich weiß nicht, wofür du mich hältst, aber ..."
"Tu doch nicht so", entgegnete David in relativ scharfem Ton. "Du hast doch auch auf mich herabgeschaut und dir gedacht, 'Hach, wie niedlich, den sehe ich mir mal genauer an'."
"Das ist nicht wahr."
"Doch, das ist es. Wenig später hast du auch noch festgestellt, dass ich alleine nicht mal bis drei zählen kann, und man auf mich aufpassen muss."
"Ich ... wollte nur nicht, dass dir wieder etwas passiert."
"Klar. Du bist ja auch davon überzeugt, dass ich mein Leben alleine nicht auf die Reihe kriege."
"Das habe ich weder gesagt, noch gemeint."
"Netter Versuch."
"Wow. Nehmen wir an, das stimmt. Was es nicht tut! Aber gehen wir rein theoretisch davon aus. Jetzt weiß ich, dass du keine Hilfe nötig hast. Und dass du außer hübsch, auch ziemlich gefährlich bist. Ich sitze trotzdem neben dir und finde das sogar richtig gut. Was sagt dir das?"
"Dass du mich noch immer kein bisschen ernst nimmst."
"David, das ist nicht wahr."
"Ist es schon."
"Nein." Entschieden schüttelte Noah den Kopf und legte das Brötchen neben sich auf der Bank ab. "Nein, damit bin ich nicht einverstanden. Und auch nicht mit herabgeschaut. Das hört sich so abwertend an! Ja gut, ich habe nach unten geschaut. Tut mir leid, aber geradeaus hätte ich halt wenig von dir gesehen, wie übrigens von den meisten Menschen. Der Großteil der Weltbevölkerung ist nun mal kleiner als ich. Und dann ... niedlich? Das war sicher nicht das erste Wort das mir eingefallen ist." Mehr als ehrlich zu sein, konnte Noah nicht mehr tun. "Ja, mit einem hast du recht, wenn du mir nicht gefallen hättest, wäre ich dir an diesem Tag möglicherweise nicht bis an deinen Arbeitsplatz gefolgt. Dann wäre es mir vielleicht eher egal gewesen was du von mir hältst. Das gebe ich zu."
"Ich halte noch immer nichts von dir."
"Gut zu wissen."
"Gern. Man kann ja nie genug Informationen haben." David musterte den Anderen sehr aufmerksam von der Seite. "Enttäuscht?"
"Ja. Schon. Du kennst mich gar nicht."
"Eine Abfuhr bist du nicht gewöhnt, was?"
"Das war tatsächlich die erste." Der Brünette sah nach unten auf seine alten Turnschuhe. Was er eben gesagt hatte, war nicht gelogen gewesen. Allerdings war der Grund dafür ein anderer, als David vermuten würde.
"Blöd. Hat sicher deinem Selbstbewusstsein geschadet."
"Kann damit leben."
"Aber?"
"Mit dem falschen Eindruck den du von mir hast, nicht."
"Der ist nicht falsch."
"Und wenn du dich irrst?"
"Glaube ich nicht."
"Fein", nickte Noah. "Wir haben über mich geredet, dann reden wir jetzt über dich."
"Mich?"
"Ja, dich. Du hast mir gesagt was du denkst, jetzt bin ich dran. Was ist mit dir, David? Du hast irgendwann mal eine schlechte Erfahrung gemacht. Jemand hat dir weh getan. So sehr, dass du sogar beschlossen hast, dir das Lächeln abzugewöhnen, sobald dir ein Mann zu nahe kommt, der sich nur ansatzweise für dich interessieren könnte. Weil du einfach davon ausgehst, dass alle gleich schlecht sind? Keiner etwas taugt?"
Der Rotblonde richtete sich ein wenig auf. Er sagte nichts.
"Du hattest dein Urteil in Sekunden über mich gefällt." Als Noah aufsah, war nichts in seinem Gesicht, das auf Ärger oder Zorn hingedeutet hätte. Nur Traurigkeit und ein unendlich warmer Blick. "Du hast mich in die gleiche Schublade gesteckt, ohne mir eine Chance zu geben."
"Ich ..." David sprang hoch und machte ein paar schnelle Schritte um Abstand zu schaffen. Wenigstens räumlich. Verdammt nochmal! Das wäre alles viel leichter, wenn der Andere auf ihn losgehen würde, anstatt hier zu sitzen und so niedergeschlagen auszusehen. "Was willst du eigentlich von mir?!"
"Es tut mir leid, dass ich für dich ... Dass du dich so sehr über mich geärgert hast. Glaubst du, wir könnten von vorne anfangen?"
"Ich weiß nicht, was du dir einbildest. Das würde beim zweiten Mal auch nicht anders laufen. Eine Beziehung ist das Letzte, das ich brauche. Und du das Allerletzte."
"Tritt mich noch, während ich verblute", lächelte Noah gequält. "Nein, das habe ich alles längst verstanden. Davon rede ich doch gar nicht. Willst du denn auch keine Freunde in deinem Leben?"
"Ist das dein Ernst? Obwohl ich dich beleidigt, rausgeschmissen und angeschrien habe? Mehrmals?"
"Ja."
"Du spinnst ein bisschen."
"Warum? Weil ich dich trotzdem mag?"
David sah außerordentlich überrascht aus und suchte etwas zu lange nach Worten. "Ich ... dich aber nicht."
"Zu wenig, zu spät."
"Gar nicht!"
"Mögen oder zu spät?"
"Was?!" Dieser Typ machte ihn noch wahnsinnig! "Mö... Beides!"
Auf Noahs öl-beschmiertem Gesicht breitete sich ein verstohlenes Lächeln aus, das den Rotblonden über alle Maßen nervte, weil es richtig herzig anzusehen war. Schließlich ging der Kerl in Davids Erinnerung ja gar nicht. Und die wollte er sich auf keinen Fall von der Wirklichkeit kaputt machen lassen! Leider passierte das gerade.
"David? Hast du meine Nummer noch?"
"Ich ... Wieso?"
"Ich deine schon. Gehst du ran, wenn ich dich anrufe?"
Sichtlich aus dem Konzept gebracht, schnappte der Andere sich sein Rad und rief im Wegfahren über die Schulter, "Du kannst es ja mal versuchen!"
Seinen Weg hatte David nicht fortgesetzt. Stattdessen war er wieder umgekehrt. Er fuhr zurück nach Hause.
Noah lächelte noch immer, während er aufstand und ihm hinterher sah. "Das werde ich ganz sicher."