"David? Bitte sag was." Noah ließ ihn nicht ganz los, er konnte noch nicht. Er hielt die Hände des Anderen in seinen, als er sich auf den Mauervorsprung setzte, der sich direkt hinter ihm befand.
Wie schon so oft, antwortete David ihm nicht.
"Nugget, ich habe Angst. Wenn du dir nicht vorstellen kannst mit mir zusammen zu sein, wenn du mich nicht willst, dann vergiss das jetzt. Du hast es mir versprochen. Nichts wird sich ändern. Wenn du mich lässt, werde ich der beste Freund sein, den du je hattest. Darauf gebe ich dir mein Wort. Auch darauf, dass ich nie wieder etwas anderes versuchen werde. Dass ich aufhöre mir etwas anderes zu wünschen. Nur, verschwinde nicht aus meinem Leben, bloß weil ich dir heute gesagt habe, wie viel du mir bedeutest."
"Wann ... hast du denn angefangen, dir etwas anderes zu wünschen?", fragte David leise.
"An dem Tag, an dem ich dir begegnet bin."
"Aber du ..."
"Nein. Ich habe nie damit aufgehört."
Sehr langsam begann der Kleinere den Kopf zu schütteln, zog dabei seine Hände an sich, aber Noah behielt sie in seinen, ließ es nicht zu.
"Fürchtest du dich immer noch vor mir? Hast du das Gefühl, mich nicht zu durchschauen? Ist es das? Glaubst du, es gibt Seiten an mir, die ich dir noch nicht gezeigt habe? Solche, mit denen du nichts zu tun haben willst? Dann muss ich dir an dieser Stelle gestehen, dass du keine großen Überraschungen erleben würdest, weil ich nämlich nicht besonders geheimnisvoll bin."
In Davids Züge stahl sich ein winziges Lächeln. "Das ist schon gut so." Er trat näher an Noah heran, strich ihm mit einer Hand über die Wange. Dabei leicht nach unten sehen zu müssen, weil er noch saß, war ziemlich ungewohnt. "Es ist nicht ... wegen dir."
"Was ist es dann? Wo ist das Problem?"
"Das steht vor dir."
"David, nein." Der Größere zog ihn an sich, schloss die Augen und ließ die Stirn auf sein Schlüsselbein sinken.
"Du hättest es mit jedem anderen leichter."
"Von denen will ich keinen."
"Das stimmt nicht so ganz, oder?"
War logisch, auf wen diese Frage abzielte. "Xavier? Den könnte ich mir zwar leisten, aber nein. Ich habe ihm neulich Abend nur mit einem sauberen Hemd aus der Patsche geholfen. Das war alles. Und das wollte ich dir auch die ganze Zeit sagen!"
"Ihn dir leisten? Was ... Ich meine ... das hört sich an, als wäre er ... "
"Ein schöner Mann, der viele Geschenke bekommt? Ja, das ist er."
Nach einem Moment bewegungsloser Stille, atmete David scharf ein und richtete sich auf. Noah spürte es deutlich und sah zu ihm hoch. "Aber nicht von mir!", stellte er sofort klar.
"Dann gibt es ..."
"Immer nur dich."
"Wieso?! Ich bin doch wirklich nichts Besonderes."
"Doch. Bist du. Für mich schon. So sehr, dass ich mir deinetwegen die erste Abfuhr meines Lebens eingehandelt habe. Und was für eine!" Fast hätte er gelacht, bei der Erinnerung daran. "Es war die Wahrheit, als ich dir damals gesagt habe, dass ich nie zuvor abgeblitzt bin. Weil ich es nie bei jemand anderem versucht habe."
"Warum hast du bei mir eine Ausnahme gemacht?"
"Was willst du hören? Ich stand mitten in einem Juweliergeschäft und das einzig Wertvolle das ich gesehen habe, warst du. Ich weiß längst, dass du mich nicht brauchst, Nugget. Dass du keinen brauchst, am liebsten alles mit dir alleine ausmachst. Aber ich ... würde dir nicht auf die Nerven gehen, und ..."
"Das würdest du sowieso nicht." David legte die Arme um ihn. Er hatte so viel nachgedacht, in den letzten Wochen. Im Grunde war es immer auf das Gleiche hinaus gelaufen. "Ich bin gerne bei dir. Von allen Menschen auf der Welt habe ich dich doch am allerliebsten", flüsterte er.
"Hey! Was war das gerade? Ein Moment fahrlässiger Aufrichtigkeit?"
David sah traurig aus. Richtig traurig, als er seine Finger durch die braunen Haare des Anderen gleiten ließ. Dann nahm er vorsichtig seinen Kopf in beide Hände und küsste Noahs Lippen an genau der Stelle über die eben noch ganz langsam sein Daumen gestreift hatte. "Egal, was das war. Das gehört zu meinen zehn Sekunden, die du vergessen musst. Und jetzt lass mich nach Hause gehen."
Das konnte unmöglich sein Ernst sein. Nicht hiernach! "Nugget, um Gottes Willen. Es ist nicht egal. Mir nicht! Was ist denn los?!"
"Ist so viel besser für dich. Glaub mir das. Du würdest nur enttäuscht sein."
"Wovon redest du denn da? Denkst du, ich würde es mir nächste Woche schon anders überlegen? Warum sollte ich?!"
David sagte nichts dazu. Aber das war auch gar nicht mehr nötig, weil Noah es in dem Moment begriff, als er aufstand und ihm fest in die Augen sah. "Du hast keine Angst vor mir, nicht wahr? Sondern vor dem, was ... was du denkst, dass ich von dir erwarten würde?"
David sah wieder nach unten auf seine Schuhe.
Das war ja vollkommen absurd! Dachte er wirklich, dass es darum ging? Dass der nächste logische Schritt der ins Bett wäre? Andererseits machte sich mit diesem Wissen aber auch fast so was wie Erleichterung breit. "Ich glaube, wir haben einfach nur unterschiedliche Vorstellungen davon, wo Beziehungen anfangen!"
"Aber nicht, wo sie hinführen", meinte der Andere sehr leise. "Ist ja auch normal."
"Normal ist es erst dann, wenn wir es alle beide wollen."
"Wie ... meinst du denn das?"
"Wie ich es gesagt habe." Der Größere stand noch immer direkt vor ihm und hob sein Kinn mit zwei Fingern an. "Ich will doch nichts von dir, was du mir nicht geben willst. Davon habe ich nichts. Ich kann gar nicht glauben, dass es das ist, worüber du dir solche Sorgen machst." Noah nahm ihn in die Arme. Viel zu fest. "Ich weiß nicht, ob es gegen deine Art von Furcht wirklich vernünftige Argumente gibt."
"Ich auch nicht." Zögernd aber doch ergab David sich in diese Situation. Nicht ohne leise zu seufzen. "Aber dieses hier fühlt sich schon mal ziemlich gut an." Er schmiegte sich an den flauschigen Pullover des Größeren, der seinen Mantel anscheinend grundsätzlich offen trug. Fror der Mann denn nie? So, mit beiden Armen um seine Mitte, war es ganz besonders warm und gemütlich. "Dann wärst du nicht sauer, wenn ... wir ... nicht ... Ich meine noch nicht ... also nicht gleich ..."
"Himmel, Nugget! Zuallererst solltest du es mal aussprechen können, und dann sehen wir in aller Ruhe weiter. Bis dahin, vergiss es einfach."
"Ich ... Ich weiß aber nicht, wann bis dahin sein wird."
"Das merken wir dann schon."
"Nicht, wenn du weiter versuchst, mich zu erdrücken!"
"Entschuldige." Noah ließ ein klein wenig locker. Er musste lachen. Und ein bisschen weinen. "Okay. Hör zu. Ich habe einen Vorschlag. Ich habe dir vorhin etwas versprochen. Dass sich nichts zwischen uns ändern wird, wenn du dich entscheidest meine zehn Sekunden zu vergessen?"
"Ja?"
"Gut. Was hältst du davon, wenn wir sie auf unbestimmte Zeit verlängern? Du darfst alleine bestimmen, ob sie enden. Und wann. Wenn du es dir anders überlegst, der Meinung bist du willst nicht mehr, werde ich das akzeptieren. Du musst dich nicht rechtfertigen. Ich werde keine Erklärung für deine Entscheidung verlangen. Alles was ich dir bereits zugesichert habe, bleibt natürlich auch weiterhin aufrecht. Wie wäre das für dich?"
"Ich alleine? Weiß nicht. Ist das nicht ein bisschen unfair? Sollte das nicht für uns beide gelten?"
"Ja, na ja, um ehrlich zu sein, ist das für mich total uninteressant", lächelte er. "Ich habe nämlich nicht vor, jemals mit dir Schluss zu machen. Bin ja schon längst sicher, dass du und ich zusammen gehören."
"Das bist du wirklich, nicht wahr?"
"Ganz bestimmt. Also ich habe da überhaupt keinen Zweifel. Nein, ich hatte gehofft, ich kriege im Gegenzug was anderes."
"Und das wäre?"
"Was wir schon haben, behalten wir. Es gibt keine Rückschritte. Nur solche nach vorne. Lass es uns zusammen versuchen und sehen was daraus wird. Einfach so. Ohne große Pläne und ohne etwas zu erwarten. Wirst du darüber nachdenken?"
David schüttelte den Kopf. "Nein."
"Nicht." Noahs Herz zog sich zusammen. Oder der Magen. Es war nicht genau zu lokalisieren.
Das war wohl gerade falsch angekommen. "Ich meine, nein, ich will nicht darüber nachdenken. Muss ich nicht."
"Du bist einverstanden? Echt?" In seinem Blick war so viel Freude. Und Hoffnung. "Dann haben wir einen Deal?"
"Ja." Na gut. Aufregung war schon dabei. Ziemlich viel sogar! Aber die Entscheidung fühlte sich trotzdem gut und richtig an. "Ja, haben wir!"
Und wenn die Welt um ihn herum eingestürzt wäre, Noah hätte es nicht wahrgenommen. Er merkte auch nicht, dass es anfing zu schneien. Er küsste den Mann den er liebte und war sicher, sich nie wieder etwas anderes zu wünschen, nie wieder etwas anderes zu brauchen.
"Du?", versuchte David mal vorsichtig auf die Spaziergänger hinzuweisen, denen sie beide offenbar auffielen. "Dir ist schon klar, dass wir angestarrt werden?"
"Die sind nur neidisch. Falls aber wirklich einer auf Ärger aus ist ... sage ich dir gleich, dass ich vor habe, mich hinter dir zu verstecken."
Das hatte sich so ernst angehört, der Kleinere musste richtig lachen. "Noah? Als du vorhin sagtest, ich würde dich nicht brauchen ..."
"Ja?"
"Das stimmt nicht ganz. Da ist schon eine Sache. Ich fürchte mich vor Spinnen, so sehr dass ich Albträume kriege, wenn ich eine fangen muss. Keine Ahnung warum die Viecher mich so fertig machen!"
"Und schon geht es meinem Ego besser", grinste der Größere. "Aber echt, darüber solltest du vielleicht mal mit einem Seelenklempner sprechen", neckte er ihn.
"Ich werde es nächstes Mal vorschlagen."
"Mach das." Noah hatte nicht mit dieser Antwort gerechnet. Umso mehr gefiel sie ihm. Offenbar redete David mit jemandem und das war gut. Er hatte noch immer eisig kalte Hände. "Weißt du, warum du so frierst? Weil du keine Fettschicht hast!", zwinkerte der Größere nach unten. "Wie ich. Wo wir gerade dabei sind. Wenn ich jetzt noch versuche den Bauch einzuziehen, ist das zu spät?", fragte er nachdenklich.
"Zu spät wofür?"
"Um einen besseren Eindruck bei dir zu machen?"
David biss sich auf die Lippen. Kichern musste er trotzdem. "Mehr als ein halbes Jahr zu spät."
"Mist! Du hast es gemerkt."
"Du spinnst ein bisschen", grinste er, stellte sich auf die Zehenspitzen und streckte sich etwas nach oben. Noah verstand diese Aufforderung sofort, kam ihm entgegen und küsste ihn glücklich.