David kraulte noch immer die Katze auf seinem Arm. Ein verlässlicher Halt. Schnurrender, kleiner Fels in der Brandung! Einfach beruhigend, dass Herbert da war. Auch, wenn es den Sturm, vor dem der junge Mann sich so gefürchtet hatte, gar nicht gab.
Er setzte sich wieder und griff zögernd nach einem der Sandwiches, die vor ihm lagen. Mit einem Mal kam er sich ziemlich blöd vor. Wegen all dem, was er befürchtet hatte. Oder besser, was er Noah zugetraut hatte. Dabei verhielt sich der auch hier, wo sie nur zu zweit waren, nicht anders als draußen. Ehrlich nett, eben. Ziemlich unwahrscheinlich, dass er nur so tat. So ein guter Schauspieler konnte er kaum sein.
Hätte er sonst Freunde, die ihn wirklich zu mögen schienen? Es sah aus, als gäbe es noch einige mehr, als David bisher kennengelernt hatte. Die waren zwar eventuell leicht verrückt, aber nicht unsympathisch. Stefan, Lui, Emma. Julian. Dass der große Brünette mit seinem Ex einen fast liebevollen Umgang pflegte war zwar seltsam, passte aber durchaus zum Rest. Und zu ihm.
Der Rotblonde konnte sich überhaupt nicht vorstellen, zu einem seiner Verflossenen noch irgend eine Art von Beziehung zu haben. Da war keiner dabei gewesen, ohne den er es nicht besser getroffen hätte.
Noah und Julian dagegen, schienen überhaupt kein Problem miteinander zu haben. Das war doch auch wieder ein gutes Zeichen, oder? Der hübsche Dunkelblonde würde sich wohl kaum noch mit ihm abgeben, wenn an dem Kerl irgend etwas faul wäre. Zumindest hoffte David das. Für Julian und auch ein bisschen für sich selbst.
Der erste Bissen war einfach ein Wahnsinn! Das Grüne in der Mitte bildete nicht nur farblich einen tollen Kontrast zu dem fast weißen Brot, es schmeckte gleichzeitig cremig und frisch. Mit einer deutlichen, zitronigen Note. David fragte sich unweigerlich, wo der Andere die Dinger wohl gekauft hatte und nahm sich entgegen aller Vorsätze noch eines. Herbert war auch gleich extrem interessiert, bekam aber nichts. Wenn es ihm nicht schmeckte, was zu befürchten war, wäre er nur wieder sauer. Schlimmer noch, es schmeckte ihm, aber er bekäme davon Durchfall. Oder würde erbrechen. Eventuell auch beides. Eine Erfahrung, die der Goldschmied nicht unbedingt noch einmal machen musste. Dabei hatte er es nur gut gemeint. Learnig by doing war das gewesen, seitdem gab es nur noch Katzenfutter. Na gut. Ab und zu teilten sie sich einen kleinen Becher Bio-Naturjoghurt.
Der junge Mann setzte das Tier auf den Fliesen ab und stand auf. Er würde schlafen gehen und hoffentlich all seine Bedenken für ein paar Stunden vergessen. Morgen müsste er sich noch früh genug mit all dem beschäftigen, was Noah, so ehrlich musste man sein, ihm mit seinem Gästezimmer für heute erspart hatte. Nach kurzer Überlegung öffnete David den Kühlschrank und stellte den Teller mit den übrigen Tramezzini hinein. Dann spülte der junge Mann noch seine Tasse, trocknete sie mit einem Geschirrtuch und stellte sie auf der Arbeitsfläche ab. Er wollte kein Chaos hinterlassen.
Herbert war ins Wohnzimmer spaziert und hatte es sich auf der Couch bequem gemacht. Offensichtlich gefiel es ihm wirklich hier. In dieser seltsam leeren Wohnung eines Tigers, der wider Erwarten gar kein Raubtier war. Ein wenig schmunzeln musste der Goldschmied schon bei dem Gedanken.
Um halb sieben wurde David von seinem Handy geweckt. Das war untypisch. Normalerweise brauchte er das nicht. Er war fast immer vorher wach. Nicht so an diesem Morgen. Vielleicht war es die Anspannung gewesen, deren letzter Rest endgültig von ihm abgefallen war, nachdem er den Schlüssel zur Sicherheit dann doch zweimal im Schloss umgedreht hatte. Der junge Mann hatte jedenfalls tief und fest geschlafen und machte ausgeruht und sehr entspannt die Augen auf. Freilich hielt dieser Zustand nicht lange an. Kaum hatte er realisiert wo er war, und warum, schlugen all seine Sorgen wieder wie Wellen über ihm zusammen. Weil er noch nicht wusste, wie es weiterging. Wo er eigentlich hin sollte. Wo würde er ein Zimmer finden, bis wann würde er es brauchen, wie viel von seinem Ersparten würde dafür draufgehen, bevor die Versicherung bezahlte? Wenn sie überhaupt bezahlte?
Doch vor allem, und das war richtig blöd, wusste er nicht so genau wo er eigentlich war und wie lange er von hier zur Arbeit brauchte. Aber das war im Moment sowieso nebensächlich. Er würde ohnehin anrufen müssen um zu sagen, dass er später käme. Weil er die Katze, die hoffentlich nichts angestellt hatte, vorher ins Tierheim bringen müsste.
Traurig stand er auf und ging erst mal ins Bad. Auch hier gab es ein großes Dachfenster, das er am Vorabend gar nicht bemerkt hatte, weil es schon dunkel gewesen war. Das sah wirklich alles sehr schön aus. Trotzdem beschränkte er seinen Aufenthalt auf ein Minimum und machte sich auf den Weg nach unten.
Herbert schien sich nicht gerührt zu haben. Zumindest lag diese Vermutung nahe, denn er war noch immer an exakt der gleichen Stelle auf der Couch, an der er es sich gestern Abend gemütlich gemacht hatte. Und entgegen ihrer Gewohnheit sprang die Katze nicht in Erwartung einer ersten Mahlzeit freudig auf, als sie David bemerkte. Im Gegenteil, sie gähnte nur herzhaft und rollte sich genüsslich wieder ein. Ein sehr untypisches Verhalten. Möglicherweise sogar besorgniserregend.
Die Glasfront an der Giebelseite lenkte die Aufmerksamkeit des Goldschmieds auf sich. Es interessierte ihn, wohin die Aussicht ging. Das herauszufinden, wäre unter Umständen recht hilfreich für die Orientierung. Also durchquerte er das Wohnzimmer und stellte fest, dass sich dort sogar eine Tür befand. Nur einen Moment später stand David auf einer Dachterrasse mit Blick auf die Burg, den Dom und die Salzach. Sofort wusste der Rotblonde ziemlich genau, wo er war. Die Frage, wie lange er von hier zur Arbeit brauchte, hatte sich damit natürlich auch geklärt. Ein paar Minuten. Zu Fuß. Oh Mann!
Vielleicht doch erst mal ... Frühstück.
In der Küche fand David erstaunt ein Gedeck vor genau dem Hocker, auf dem er gestern gesessen hatte. Es bestand aus einem Teller, Kaffeetasse und Müslischüssel aus schlichtem weißen Porzellan, Besteck und einer sorgfältig gefalteten Stoffserviette. Ein Zettel lag dabei.
"Guten Morgen.
Hoffe, du hast gut geschlafen.
Bitte mach die Tür auf und hol das Gebäck herein. Habe unterschiedliche Sachen bestellt. Wusste nicht, was du magst. Corneflakes und so, im Auszieh-Schrank, Rest Kühlschrank. (Alles gefahrlos, versprochen!)
Hausmeisterin informiert, dass du ein paar Tage bleibst. Nimmt Nachrichten, Post, Pakete für dich entgegen.
Sehen uns in etwa einer Woche. Melde mich kurz gegen Abend, bei Fragen ruf jederzeit an.
Noah.
P.S.: Keine Sorge, wenn Herbert keinen Hunger hat. Er hat mit mir gefrühstückt."
Aha. Daher wehte also der Wind. Doch nicht besorgniserregend appetitlos, sondern einfach nur maßlos vollgefressen.
David durchquerte das Wohnzimmer, dann den Eingangsbereich, öffnete zögernd die Tür und fand einen kleinen Korb auf der Fußmatte. Er war mit einem Tuch abgedeckt, auf dem das Logo einer Bäckerei aufgestickt war. Darunter kamen Semmeln, ein kleines Vollkornbrot, Croissants und winziges Plundergebäck mit unterschiedlichen Füllungen zu Tage. Allein der Duft war unwiderstehlich.
Der Rotblonde nahm die Sachen mit. Es war ihm unangenehm, dass Noah sich seinetwegen so viel Mühe gemacht hatte. Aber draußen lassen, war schließlich auch keine Lösung. Wieder in der Wohnung schenkte Herbert ihm einen verschlafenen Blick.
"So, so", meinte sein Mensch leise, während er ihm langsam über das seidige Fell strich. "Du hast also mit ihm gefrühstückt."
Das Tier legte sein Köpfchen auf die Decke. Beinahe schuldbewusst sah es nach oben.
"Und bei der Gelegenheit habt ihr auch gleich endgültig abgemacht, dass wir hier bleiben, oder was?" Ein leises Seufzen entwich ihm. "Das scheint ja von allen Seiten schon beschlossene Sache zu sein. Soll ich mich etwa einfach in mein Schicksal fügen?"
Die beiden Katzenaugen suchten Blickkontakt.
"Hast ja recht." Nachdenklich betrachtete David seine Umgebung. "Direkt schlecht haben wir es nicht unbedingt getroffen. Zur Abwechslung mal." Das Gebäck im Korb duftete köstlich. "Ganz ehrlich? Aber sag es nicht weiter. Mir ist das eh gerade alles zu viel. Viel zu viel. Dazu scheint es Noah wirklich nichts auszumachen, dass wir hier sind. Und er ist ohnehin nicht da. Also ... erfreue dich an deinen dreißig Silberlingen, du kleiner Verräter", lächelte der junge Mann. "Dann machen wir es eben so. Und bleiben."
Seine Entscheidung erleichterte ihn in einer Weise, die er in diesem Ausmaß nie für möglich gehalten hätte. Wirklich. Es fühlte sich an, als fiele eine tonnenschwere Last fiel von seinen Schultern. "Hauptsache, ich muss dich nicht hergeben."
Konnte ja höchstens zwei, drei Tage dauern.
Hätte Noah für sich behalten, wie schön es für ihn war David bei sich zu haben, wäre das aller Wahrscheinlichkeit nach auch so gewesen ...