Noah war dermaßen bestürzt, dass er Schwierigkeiten hatte Worte zu finden. "Hör mal", stammelte er. "Du ... Du siehst nicht aus, als würdest du Nachts in eine Kneipe gehen und in eine Schlägerei geraten. Also ... würdest du mir sagen, wie das passiert ist?
"Das geht Sie nichts an! Raus jetzt!" David schrie wirklich laut.
"Okay. Anders. Wer ... Wer war das?"
"Ver-schwin-den-Sie!!!"
Beschwichtigend hob der große Brünette beide Hände, er konnte sehr wohl sehen, dass das hier gerade gewaltig aus den Schienen lief. "Ist gut, ja? Ich bin schon weg." Langsam ging er rückwärts in Richtung Tür. "Hast du die Polizei gerufen?", fragte er leise, bekam aber keine Antwort. "Ist das hier geschehen? Wenn du ... wenn du erst mal nicht bleiben magst, kannst du gerne ein paar Tage in meine Wohnung. Ich bin sowieso nicht da, und ..."
"Gehen Sie raus! Jetzt, sofort!" Die Panik in Davids Stimme war unüberhörbar, als Noah ins Treppenhaus trat. Das letzte das er sah, waren grüne Augen, die sich mit Tränen füllten. Vielleicht auch aus Zorn. Ihm brach trotzdem gerade das Herz.
Als die Tür mit einem lauten Knall vor ihm zuflog, zuckte er merklich zusammen. "Was willst du jetzt tun", fragte er vorsichtig. "Nie wieder aus deiner Wohnung kommen?"
"Nur Freitags", brüllte David auf der anderen Seite der Tür, nicht weniger laut und wütend als vorhin.
"Wieso nur dann?"
"Das weiß ich auch nicht, verdammt! Es ist einfach immer der gleiche scheiß Wochentag, ich habe keine Ahnung, wieso! Verschwinden Sie! Hören Sie gefälligst auf, mich zu belästigen! Ich will nichts mit Ihnen zu tun haben, das sage ich Ihnen jetzt zum allerletzten Mal! Lassen Sie mich endlich in Ruhe!"
Man musste kein Genie sein, um Eins und Eins zusammen zu zählen. Jemand hatte ihn verprügelt, er wollte nicht darüber reden, schon gar nicht mit Noah, den Doris offensichtlich für einen Schläger hielt. Oder zumindest die Möglichkeit in Betracht zog, dass er einer war. Was sich auch schon schlimm genug anfühlte.
Seine persönlichen Erfahrungen mit physischer Gewalt, ließen sich nämlich in genau drei Ereignissen zusammenfassen. Zuerst einmal war er im Alter von fünf Jahren mit Josef, seinem besten Kumpel im Kindergarten aneinander geraten. Der Streit, der sich um die Frage gedreht hatte, wer die nagelneue Rutsche zuerst benutzen durfte, war in eine handfeste Prügelei ausgeartet. Am Ende hatten sie beide geweint.
Und Noah hatte im Laufe seiner Kindheit und Jugend zuhause zwei Ohrfeigen kassiert, beide übrigens von der Mutter. Der Vater hatte sich aus der Erziehung der Söhne schon immer lieber rausgehalten. Zu jenem Zeitpunkt war dem Burschen schleierhaft gewesen, was die Frau gar so auf die Palme gebracht hatte.
Mit sechs hatte Noah ein Feuer gemacht. In seinem Zimmer. Es hatte überhaupt nichts dabei passieren können! Er hatte einen Plan gehabt, Spiritus aus der Garage und einen absolut perfekten Römertopf als Gefäß. Der Junge hatte schon lesen können, "Feuerfest" hatte auf der Verpackung des nagelneuen Kochgeschirrs gestanden, das an diesem Vormittag mit der Post geliefert worden war.
Seine Mutter hatte die Wichtigkeit seines Experimentes leider überhaupt nicht verstanden. Er hatte herausfinden wollen, wie lange Kandiszucker brauchte, um zu schmelzen. Im Gegensatz zu Kristall- oder Puderzucker. Die Idee dahinter war gewesen, eigene Bonbons herzustellen. Oma hatte ihm gesagt, die bestünden aus nichts anderem als Zucker. Und wenn Noah schon mal dabei gewesen wäre, hätte er sich im Anschluss noch ein paar Marshmallows karamellisiert, die er damals auch sehr gemocht hatte. Er mochte sie immer noch.
Wie gesagt. Seine Mama hatte überhaupt kein Verständnis dafür gehabt. Er hatte sich eine Ohrfeige eingefangen und zwei ganze Wochen Zimmerarrest bekommen. Ohne Römertopf.
Beim zweiten mal, im Alter von zwölf Jahren, war die Sache noch viel weniger spektakulär gewesen. Noah hatte das Auto des Vaters nur ganz kurz gebraucht! Nur mal schnell den Berg hinunter ins Dorf, die paar Serpentinen waren überhaupt kein Problem gewesen, er hatte eh schon einigermaßen über das Lenkrad sehen können.
Damals hatte er sich nichts dabei gedacht. Aus heutiger Sicht konnte er gut nachvollziehen, dass die Mutter damals die Nerven verloren hatte. Er hatte riesen Glück gehabt. Sein ganzes Leben lang und in jeder Hinsicht. Für seine wunderbare Kindheit, so sorglos und unbeschwert, war er seinen Eltern aufrichtig dankbar. Er sollte ihnen das unbedingt einmal sagen.
Darüber dachte er noch nach, als er längst auf seiner Couch saß und eine Doku über den Nordpol schaute. Oder den Südpol. Er passte nicht so richtig auf. Viel Eis und Schnee auf jeden Fall, sein Kaffee war auch schon ganz kalt geworden. Das machte nichts. Ihm war sowieso noch immer schlecht.
Noah machte den Fernseher wieder aus, lehnte sich zurück und sah sich um. Was für ein Unterscheid zu der Wohnung, die er vorhin gesehen hatte! Es war dort wirklich schön gewesen. "Zuhause ist kein Ort, sondern ein Gefühl", hatte seine beste Freundin Emma vor vielen Jahren einmal zu ihm gesagt. Ihm war erst heute wirklich klar geworden, was sie damals gemeint hatte.
Hier, in seinen eigenen vier Wänden, war das Gefühl nicht da. Er merkte es gerade und gab es zu. Er hatte alles, was er brauchte. Aber kein Stück mehr. Es machte ihm einfach keine Freude, stundenlang durch Geschäfte zu laufen. Dazu hatte er kein großes Talent, wenn es um Einrichtung oder Dekoration ging. Sicher hatte er sich auch zu wenig damit auseinandergesetzt. Der IT-Spezialist war beruflich viel unterwegs und oft kam es ihm so vor, als wäre er hier sowieso nur immer wieder einige Tage zu Gast.
Vielleicht könnte er sich auch einen Ort schaffen, der sich besser anfühlte? Mit etwas Zeit, gutem Willen oder einer Vase?
Noah konnte nicht schlafen. Unmöglich, es ging einfach nicht! Er musste mit jemandem reden und rief den einzigen Mensch an, dem das Morgens um drei nicht seltsam vorkam.
"Hey, Schatz. Na, was ist los?", hörte er nach vier Mal klingeln. Und dann erzählte er einfach was er gesehen hatte, was er glaubte und befürchtete, überhaupt alles, was er auf dem Herzen hatte. Auch wenn es noch ungeordnet war, aber wenn einer etwas mit diesem Durcheinander anfangen konnte, dann war es Julian.
Der verhielt sich ruhig und aufmerksam, wie es eben seine Art war, stellte manchmal eine kurze Zwischenfrage und meinte schließlich erleichtert, "Siehst du? Ich habe dir doch gesagt, David hasst dich nicht!"
"Hast du mir gerade zugehört? Er hat mich angeschrien und mich rausgeschmissen!"
"Ja, aber nur, weil er sich vor dir fürchtet." Eine Weile war es still. "Noah? Bist du noch da?"
"Was?!" Er war vollkommen außer sich. Daran hatte er noch keine Sekunde gedacht!
"Das ist was Gutes!"
"Gut?!" Entsetzt sprang er vom Bett auf. "Ich bin in einen Mann verliebt, der Angst vor mir hat! Was soll daran gut sein?!"
Ein herzliches Lachen. "Jetzt hast du es gesagt!"
"Jetzt habe ich was gesagt?"
"Verliebt!", freute Julian sich.
"Okay. Dann habe ich es eben gesagt." Der Brünette schloss kurz die Augen. "Ist es schräg, dass ich ausgerechnet mit dir darüber rede?"
"Sollen wir mal ein paar Tage so tun, als könnten wir uns nicht mehr leiden?" Das ansteckende Lachen wurde noch lauter. "Vielleicht wird das lustig! Wenn es umgekehrt wäre, würde ich auch lieber mit dir sprechen, als mit irgendwem sonst auf der Welt. Was soll daran verkehrt sein?"
"Mit dir ist immer alles so einfach."
"Wollen wir uns das Leben denn schwerer machen, als es sowieso schon ist? Du bist verliebt, das ist superschön! Ich habe dich gern, ich freue mich mit dir! Und schau, die Ausgangssituation könnte schlimmer sein. Wenn David dich nicht mögen würde zum Beispiel, ..."
"Aber das ist ja auch so! Wo ist denn da der Unterschied?"
"Das eine, ist bloß eine korrigierbare Fehleinschätzung. Das andere, eine persönliche Abneigung gegen die du nicht viel ausrichten könntest. Sympathie kann man nicht erzwingen."
Da war es! Genau das hatte Noah sich auch schon gedacht. Es wunderte ihn kein bisschen, dass Julian exakt den gleichen Satz gebildet hatte. Oft war es, als hätten sie beide nur ein Hirn.
"Wenn der Bursche dich nur für gefährlich hält, ist es doch ganz einfach. Du musst gar nichts tun, außer du selbst sein und Geduld haben. Mit jedem Tag der vergeht, wird er merken, dass das vollkommen irrational ist. Weil es keinen einzigen Grund gibt, deinetwegen ein mieses Gefühl zu haben, Noah!"
"Na, klasse", seufzte er. "Und jetzt?"
"Was? Willst du aufgeben?"
"Aufgeben? Ich will ihn heiraten!"
"Das ist mein Tiger!"
Mehr als drei Wochen später, es war ein Freitag Abend, strich sich ein großer, blonder Mann leicht genervt mit beiden Händen Blätter von seiner olivfarbenen Uniform.
Seit der Altstadt hatte er darauf geachtet genügend Abstand zu haben, damit er nicht aufflog. So war es abgemacht gewesen und er hatte auch kein Problem dabei gesehen. Bis der Bursche, der aus dem Hintereingang eines Juweliers gekommen war, auf sein Fahrrad gestiegen und losgefahren war. Verflucht, war der schnell gewesen! Der hatte gar nicht so ausgesehen!
Ihm zu folgen, hätte für den Unteroffizier überhaupt kein Problem sein sollen, immerhin gehörte Sport zu seinem Leben. Und doch war er ganz schön außer Atem. Deshalb die missmutige Grundeinstellung.
Wie auch immer. Nun hielt der Andere endlich vor einem Wohnblock. Wie viele Kilometer waren das denn gewesen, verdammt?
Möglichst unauffällig trat der Blonde hinter eine der Garagen gegenüber, von wo er einen guten Blick hatte. Deshalb war ihm das Auto, bei dem sich eben die Fahrertür öffnete, auch nicht entgangen. Es hätte auch Zufall sein können.
Ein etwas nervös wirkender Kerl in einer schwarzen Lederjacke stieg aus, sah sich um und ging zügig auf den Radfahrer zu, der eben ein Schloss an seinem Bike anbrachte.
Der große Blonde machte sich nichts vor. Heute war er nicht umsonst hier. Entschlossen lief er los. Aber was er dann zu sehen bekam, war nicht einmal ansatzweise das, was er erwartet hatte!