Beschissen. Noah fühlte sich beschissen. Nachdem er seine Arbeit erledigt hatte, war er noch eine Woche in Südafrika geblieben. Sich ein bisschen was ansehen. Er hatte sowieso nicht nach Hause gewollt.
Immerhin beschrieben Reiseführer das Land als eine der vielfältigsten und bezauberndsten Gegenden der Welt. Eine exotische Kombination von Natur, Menschen, Geschichte und Kultur. Berauschende Mischung und inspirierende Erfahrung. Bla, bla! In Wirklichkeit war der Tafelberg auch nur ein von bescheuerten Touristen hoffnungslos überlaufener Felshaufen und Elefanten sah man sowieso in jedem beknackten Zoo viel näher.
Da war er nun wieder. Daheim in Salzburg. Schon seit zehn Tagen. Scheiß Stadt, scheiß Regen, scheiß ... alles, eben! Dem Mann kam der Gedanke, dass er echt schon mal eine positivere Lebenseinstellung gehabt hatte.
Julian war das vorhin auch aufgefallen. Sogar am Telefon. Außerdem hatte er gesagt, wenn einer Herbert hieß, war das eh sicher voll der Loser. Leider war das kein Trost. Der Verlierer war Noah ja wohl selbst.
Es war früher Abend. Das Navi warnte ihn vor einer Verkehrsbehinderung auf der Autobahn. Um ihr auszuweichen, nahm er die Ausfahrt Mitte. Es war nicht zu vermeiden, dass er auf diesem Weg direkt bei David vorbeifahren würde.
Schon von weitem waren die Lichter von Feuerwehr und Polizei zu sehen. Irgendwo rauchte es und als Noah näher kam, registrierte er schockiert eine ganze Menge Leute in unterschiedlichen Uniformen, die hektisch herumliefen. Der gesamte Parkplatz vor dem Wohnhaus des Goldschmieds war mit Einsatzfahrzeugen vollgestellt.
Noah schämte sich gewaltig, weil ihm in diesem Moment nur zu deutlich klar wurde, dass die vielen Menschen die hier lebten, ihm alle herzlich egal waren. Alle, bis auf einen. Mit laut klopfendem Herzen hielt er seinen Wagen im Parkverbot an und griff nach dem Handy. David meldete sich nicht. Nach weiteren erfolglosen Versuchen riss der Brünette die Fahrertür auf, sprang aus seinem Auto und rannte über die stark befahrene Straße. Er musste ihn finden.
Das durfte ja wohl alles nicht wahr sein. Mit beiden Armen um die angewinkelten Beine geschlungen, saß der junge Mann im Gras und schaute nach oben, wo sein Küchenfenster war. Dass er jetzt nicht hinauf durfte, war eine Katastrophe. Sicher hatte die Katze Angst bei all dem Lärm hier im Hof. Aber sie war wenigstens nicht in Gefahr. Es hatte nur im Keller gebrannt. Trotzdem.
Die Hiobsbotschaft, die der Bausachverständige vor wenigen Minuten für sie alle gehabt hatte, hatte eingeschlagen wie eine Bombe. David war vollkommen ratlos und zuckte zusammen, als ihn jemand von hinten an der Schulter berührte.
"Hey. Entschuldige. Ich habe dich erschreckt." Noah war einfach nur erleichtert. Endlich! Er war durch all diese Menschen gelaufen, hatte den gesamten Platz abgesucht. "Geht es dir gut? Was ist passiert?"
Für einen Moment war David so überrascht, dass er nicht richtig wusste, was er sagen sollte. "Seit wann bist du denn wieder da?"
"Ein paar Tage", wich der Größere ihm aus und setzte sich neben ihn in die Wiese. Er fand, dass der Andere richtig verzweifelt aussah und hätte ihn am liebsten in den Arm genommen.
"In einem der Keller-Abteile ist heute Nachmittag ein Feuer ausgebrochen. Die Ursache steht wohl noch nicht fest. Ist ja auch egal. Wenn ich das richtig verstanden habe, ist durch die starke Hitzeentwicklung ein Riss im Mauerwerk entstanden. Der ist anscheinend für die Statik so bedenklich, dass wir erst mal nicht zurück in unsere Wohnungen dürfen. Bis das geklärt ist. Und irgendeiner Entwarnung gibt."
"Was?!"
"Ja." David wirkte unendlich traurig. "Sie haben gesagt, dass wir uns ein Hotelzimmer nehmen sollen. Angeblich bekommen wir die Kosten von der Versicherung zurückerstattet."
"Ist dir schlecht? Hast du Rauch eingeatmet?"
"Nein, alles gut. Ich war nicht drinnen. Ich kam erst vor einer Stunde hier an. Da war schon alles abgesperrt."
"Okay." Noah fiel ein weiterer, riesiger Stein vom Herzen.
"Was machst du hier?", fragte der Kleinere nachdem sie eine Weile schweigend nebeneinander gesessen hatten.
"Ich ... kam zufällig vorbei und bemerkte das ganze Chaos. Da dachte ich mir, ich sehe mal nach dir."
"Das ist nett."
"Weißt du denn schon, wo du heute Nacht schlafen wirst? Du kannst mit zu mir, wenn du magst."
"Was?! Nein!"
"Ist gut. War nur ein Vorschlag", sagte der Brünette so beruhigend, wie er in diesem Moment konnte. Schon wieder blanke Panik in den Augen des Anderen, der aber trotzdem hin- und hergerissen zu sein schien. Etwas lag ihm deutlich auf der Seele. "Kann ich dir denn sonst irgendwie helfen?"
"Ich ... es ... könntest du ..."
"Weiß nicht", lächelte Noah nach einer Weile ermunternd, weil nichts mehr kam. "Ich brauche schon mehr Infos."
"Es ist wegen Herbert."
Klar. Der schon wieder. "Ja?"
"Ich kann ihn in das Hostel nicht mitnehmen, da kriege ich Schwierigkeiten. Und ich habe doch fest versprochen, dass er nicht ins Heim muss!"
"Ins ...?" Noah schluckte. "Ins Heim?" Wieso das denn? War der Typ ein Pflegefall, schon knapp vor dem Kompostierungsstadium, oder was? "Wie ... alt ... ist er denn?"
Seltsame Frage, irgendwie. Fand David jedenfalls. "Fünfzehn."
"Fü..." Na, schlimmer geht’s immer. So schnell kam man also in einem Gespräch von der Erwachsenenwindel zum Jugendschutzgesetz. Fünfzehn! Um Gottes Willen. Kein Wunder, dass er den letztens versteckt hatte. Das konnte unmöglich sein Ernst sein!
"Ich weiß, was du denkst."
"Das bezweifle ich."
"Es ist wegen seinem Alter, oder? Natürlich muss man da ein bisschen vorsichtiger sein."
"Ähhm..."
"Richtig wilde Sachen würde ich mit ihm nicht anstellen, ist eh klar."
"Hhch..."
"Am Anfang war es nicht leicht. Er war ziemlich schüchtern. Und ich habe erst herausfinden müssen, was er mag. Jetzt läuft es aber super. Er musste nur ein einziges mal zum Arzt, seit er bei mir ist."
To much information, ey!
"Ich habe ihn einfach sofort geliebt. Wenn ich ihn nicht mitgenommen hätte, würde er außerdem auf der Straße sitzen. Dabei ist er so süß."
Noah fand keine Worte mehr. Nicht mal solche mit nur einer Silbe.
"Und ruhig. Er ist es gewohnt, dass er nicht raus darf. Könntest du dir vorstellen ...? Ich meine ... könnte Herbert vielleicht bei dir bleiben? Nur bis ..."
"David", der Größere war so entsetzt, er hatte keine Idee, wie er das formulieren sollte und entschied sich für die denkbar ehrlichste aller Antworten. "Kommt nicht in Frage."
"Schon gut. Macht nichts." Mutlos schloss der Rotblonde die Augen und ließ seinen Kopf auf die angezogenen Knie sinken. "Dann schmuggle ich ihn heute Nacht einfach mit rein. Und morgen Früh bringe ich ihn ins Tierheim."
"Tier... Warte mal, was?!"
"Heute ist es schon zu spät."
"Wieso denn Tierheim?"
"Nicht für immer. Die nehmen Katzen auch in Pflege. Ist gar nicht so teuer. Ich habe mich da schon mal erkundigt. Für den Notfall."
In Noahs Hirn begann es fieberhaft zu arbeiten. "Dann ist ... Herbert ... eine Ka...tze?"
"Europäisch Kurzhaar. Oder anders ausgedrückt, nur für mich etwas Besonderes."
Aber das war ja ... einfach fantastisch!
Noah biss sich in die fest geballte Faust, um nicht vor Freude laut zu schreien. "Schlag mich nicht, okay?"
"Warum denn?"
Überglücklich legte er den Arm um David und drückte ihn ein bisschen. Eh nur ganz kurz. Das musste einfach sein. Der Kleinere spannte jeden Muskel an, zog sofort die Schultern nach oben und sah entgeistert hoch.
"Das ginge nicht gut bei mir, weil ..." Denken, verdammt! "... ich morgen ziemlich früh zum Flughafen muss und nicht weiß, wie lange Katzen ohne Futter und Wasser überleben."
"Ja. vermutlich nicht so lange."
"Schau mal, sie lassen euch rein." Einer der Feuerwehrmänner hatte das Absperrband vor der Eingangstür entfernt. "Geh rauf, hol deinen Herbert und komm mit mir mit. Für heute ist das die beste Lösung. Morgen Früh kannst du immer noch entscheiden, ob du mit ihm bleiben, oder ihn weggeben möchtest."
"Nein, ich ... nein."
Noah glaubte kaum selbst, was da gerade in den Bereich des Möglichen rückte. So schnell würde er nicht aufgeben. Er wog jedes seiner Worte genau ab. Unter keinen Umständen durfte er das jetzt vermasseln. "Ich bin die nächsten Tage ohnehin nicht zuhause. Ihr hättet die Wohnung allein für euch."
"Warum solltest du ... das wollen?"
"Dafür sind Freunde da."
David hielt seinem Blick nicht lange stand. Der junge Mann kaute auf der Unterlippe und kratzte sich nervös unter dem Ärmel seines dünnen Pullovers am linken Unterarm. Ein Mittagessen oder ein Besuch im Kino war eine Sache. Das hier war etwas völlig anderes. Gar nicht vergleichbar.
"Ich glaube, dass die Idee für dich gerade ein bisschen beängstigend ist, habe ich recht? Sieh mich mal an, Nugget."
David huschte ein Lächeln übers Gesicht. Zum ersten mal. "Wie hast du mich gerade genannt?"
"Habe ich das etwa laut gesagt?"
"Ja, du ... hast du."
Oh, Mann. Blöd. "Weißt du nicht, was ein Nugget ist?"
"Doch. Darum frage ich ja."
"Ich denke manchmal ... hörbar."
"Habe ich schon gemerkt."
"Problem?"
"Weiß nicht. Hast du Deko-Kissen zum Werfen, oder müsste ich eines einpacken?"
"Ich habe seit kurzem eine Vase!", fiel dem Größeren spontan ein.
"Schön."
"Du denkst doch nicht ernsthaft darüber nach, oder?"
"Problem?"
"Wenn du mir die ins Gesicht feuerst, geht mir das Licht aus."
"Als ob ich dafür eine Vase nötig hätte."
"Auch wieder wahr." Noah stand auf und streckte dem Anderen seine Hand entgegen. "Komm mit mir mit. Wenn du vernünftig darüber nachdenkst, ist es das Beste. Vor allem für deine Katze. Sie hat genug durchgemacht und fürchtet sich bestimmt ohne dich." Oh, ja! Das war gut!
Der Rotblonde zögerte noch immer. Aber Noah hatte vielleicht recht. Es wäre die Rettung. Und nur eine Nacht. Ein paar Stunden auf einer Couch, mehr nicht. Morgen könnte David sich etwas einfallen lassen. Doch dafür müsste er erst einmal allen Mut zusammennehmen und jetzt nach dieser Hand greifen.