Gegen siebzehn Uhr verstaute David seine Sportsachen im Rucksack und fuhr los. Der junge Mann folgte kurz einem Radweg, überquerte die Hauptstraße, bog ab, rauschte durch den Innenhof eines Wohnhauses und sauste schließlich eine Gasse hinunter, bis zu der Kreuzung mit der Tankstelle. Manchmal kaufte er hier noch schnell ein Getränk, meistens eine Flasche Wasser. Heute war das nicht nötig, er hatte zuhause bereits eine eingepackt.
Was er aber wieder brauchte, war die Abkürzung über das Privatgelände. Wenn er da und dort direkt durchfuhr, sparte er sich insgesamt einen guten halben Kilometer.
Das Tor zur Werkstatt stand sperrangelweit offen. Was seltsam war, an einem Samstagabend. Vielleicht wäre noch einer der Mechaniker da? David bremste ein wenig ab. Er hatte da nämlich eine lose Klammer an seinem Rad bemerkt, die er auf die Schnelle nur notdürftig durch einen Kabelbinder hatte ersetzen können. Bis er in der kommenden Woche in einem Fachgeschäft vorbeikommen würde, wo er das richtige Teil besorgen könnte, gäbe es aber sicher eine bessere Alternative.
Entschlossen stoppte der junge Mann. Hinter einem himmelblauen Corsa tauchte jemand auf, der sich gedankenverloren die Hände an einem Lappen abwischte, und kam geradewegs auf ihn zu. Etwa zwei Meter vor ihm, blieb der große Brünette wie angewurzelt stehen. Er sah ihn direkt an. Mindestens so überrascht wie David.
So ein Mist! Tausend Mal hatte Noah sich überlegt gehabt, was er sagen könnte. Und jetzt? Nichts!
Was machte dieser IT-Typ denn hier? Der Radfahrer hielt kurz die Luft an. Einfach abzuhauen und so zu tun als hätte er ihn nicht erkannt, wäre auch ... na ja. Irgendwie blöd. Sie waren schließlich nicht mehr im Kindergarten.
Ein verstohlenes Grinsen huschte über Davids Gesicht, als er den Anderen aufmerksam musterte. Gewollt war das nicht, aber der Anblick war schon interessant. Schmieröl überall, sogar ein bisschen am Hals, im Gesicht und in den kastanienbraunen Haaren. "Läuft es nicht mehr so mit der Computer-Sache?"
Noah sah an sich hinunter. Schlagartig wurde ihm heiß. Sonst machte er sich nicht besonders viel daraus, aber gerade wünschte er ehrlich, er hätte etwas besser ausgesehen. Und nicht so sehr nach Benzin gerochen.
Nun, dann war es eben so. Nicht mehr zu ändern, nicht wahr? Shit happens. Lächelnd schüttelte er fast unmerklich den Kopf, breitete die Arme aus und meinte, "Weil ich hier gerade irrsinnig souverän rüberkomme? Schön, dass es dir aufgefallen ist."
"Ja, das ist ... nicht zu übersehen." Nachdenklich betrachtete David inzwischen den leicht verbeulten Wagen.
"Bloß ein paar Kleinigkeiten. Wäre schon gut, wenn er das Pickerl dieses Jahr noch mal bekommt", sagte Noah, nur damit es nicht still würde zwischen ihnen. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals.
"Das was?"
"Die Prüfplake... Den TÜV?"
"Ach so."
"Du bist nicht von hier, hm?" Der große Brünette legte den Lappen auf einer der Werkzeugkisten ab.
"Ich habe kein Auto", wich David der Frage aus, "und muss mich mit so was nicht beschäftigen." Er hob den rechten Fuß vom Asphalt und stellte ihn wieder auf das Pedal. "Gott sei Dank", fügte der Goldschmied leise hinzu, während er das Vorderrad schon mal leicht nach rechts drehte. In die Richtung, in die er wollte. Wenn es nach ihm ginge, möglichst sofort.
Dass es günstiger war, diverse Verschleißteile selbst zu wechseln als es eine KFZ-Werkstatt machen zu lassen, war ihm natürlich klar. Für ihn selbst käme das trotzdem nie in Frage. Aus Sicherheitsgründen. Er hatte schon Probleme mit Ikea. Nicht, weil er kein Möbel bauen konnte, sondern weil es ihn tödlich nervte. Grundsätzlich. Außerdem waren einfach nie die Schrauben in den kleinen Plastikverpackungen, die laut Bauplan enthalten sein sollten.
"Noah, ich habe hier etwas für dich." Schnellen Schrittes kam eine Frau aus dem Tankstellenshop auf sie beide zu. "Du musst doch hungrig sein." Sie hatte ein reichlich mit Schinken, Käse und Salat belegtes Laugenstangerl und eine Flasche Mineralwasser dabei.
"Du rettest mir das Leben, Susanne." Der große Brünette nickte der Verkäuferin dankbar zu. "Aber ich fürchte, du musst mir das anschreiben. Ich habe keinen Cent in der Tasche."
"Das muss ich mir noch überlegen", zwinkerte sie, während sie die beiden Sachen auf die Bank neben dem Tor legte. "Sind immerhin ganze vier Euro achtzig."
David, der den belustigten Ausdruck im Gesicht der Dame nicht gesehen hatte, griff in seine Hosentasche und hielt ihr einen Fünfer hin. Überrascht sah sie zuerst den Geldschein und dann Noah an. "Ich kann hier nicht rausgeben."
Weil ihr Gegenüber anscheinend die Sprache verloren hatte, wandte Susi sich wieder an den Radfahrer. "Das ist wirklich nicht nötig. Er bezahlt es einfach beim nächsten Mal."
"Schon gut. Es passt so."
"Wie ihr meint", grinste sie und machte bereits wieder einige Schritte in Richtung Shop. "Noah, Fred hat eben angerufen. Er sagt, er ist in etwa zwanzig Minuten hier. Du sollst bitte auf ihn warten, er möchte sich das noch anschauen bevor du fährst."
Fred war der Pächter der Tankstelle und äußerst gewissenhaft. Es war klar, dass er einen Blick auf den Corsa werfen wollte. Ihm wäre sonst nicht wohl dabei. Es war schließlich seine Werkstatt und der Mann fühlte sich verantwortlich.
"Und du", sagte sie betont streng zu David, "ras nicht immer so!" Schon war sie eilig wieder verschwunden.
Gut gelaunt biss Noah in seinen Snack. "Aha? Du kommst wohl öfter hier durch?"
David zuckte leicht mit den Schultern. Er hätte nicht gedacht, dass das jemals aufgefallen wäre. "Ich ..."
"Das ..."
Sie hatten gleichzeitig angefangen zu reden und nun war es bedrohlich leise. "Du zuerst", meinte David schließlich.
"Das wäre wirklich nicht nötig gewesen. Aber danke. Ist schon lieb von dir. Ich gebe dir das Geld zurück."
"Lass mal. Kann ich mir gerade noch leisten." Er holte tief Luft, während er auf den Boden sah. "Ich wollte noch ... also ..."
Dass ihm das gerade ziemlich schwer fiel, war nicht zu übersehen.
"Vergiss es. Du hast mich um nichts gebeten, also mach dir keine Gedanken." Noah setzte sich, öffnete die Wasserflasche und trank ein wenig daraus. "Du musst mir nichts erklären und bist mir schon gar nichts schuldig." Er nahm noch einen Schluck. Auf keinen Fall sollte dieses Gespräch vorzeitig enden, weil es vielleicht in eine unangenehme Richtung führte. "Außerdem hättest du ohnehin keine Hilfe gebraucht. Wie ich hörte."
David stellte beide Füße auf den Boden, stützte sich mit den Unterarmen auf dem Lenker ab und sah Noah eine Weile an. "Das stimmt zwar, aber das konntest du ja nicht wissen. Es hat für dich wohl so aussehen müssen, weil ... also ... an dem Abend an dem du die Spinne nach draußen gesetzt hast ..."
"Hast du mal wieder mal was von ihr gehört?"
"Bitte?"
"Speedy! Wir hatten abgemacht, sie würde bei nächster Gelegenheit zurückkommen, damit ich einen Grund hätte dich wiederzusehen."
Davids Gesichtsausdruck war irgendetwas zwischen Argwohn und Erstaunen. "Spe...edy?"
"Also, nicht! Typisch. Es ist echt schwierig zuverlässige Gruseltierchen zu finden", schüttelte Noah betont enttäuscht den Kopf.
"Sogar wenn die Spi..."
"Speedy!"
"Na, von mir aus. Sogar wenn Speedy noch mal aufgetaucht wäre, hätte ich die Sache selbst erledigen können. Ich hätte da überhaupt kein Problem."
"Hast du schon gesagt. Und ich habe gesagt, ich glaube dir." In die braunen Augen des Größeren, schlich sich ein belustigtes Funkeln. "Dann haben wir beide gelogen und sind jetzt quitt", grinste er.
David war sich nicht sicher, ob Noah gerade absichtlich das Thema gewechselt, oder einfach nicht alle Latten am Zaun hatte. Wenn der Mann ihm mit diesem Unsinn Gelegenheit geben wollte, lieber über etwas Belangloses zu plaudern, funktionierte es jedenfalls. Sie könnten es dabei belassen, sich verabschieden und tun als wäre nichts. Aber es war klar, dass dann so einiges zwischen ihnen beiden im Raum stehen würde, wann immer sie sich begegnen würden. Was, wie man sah, jederzeit und überall passieren konnte.
David war schon immer sehr für Abkürzungen gewesen. Die waren auf der Straße wie im Leben der schnellste, jedoch nicht zwingend der beste Weg. Noah bot ihm diese Ausflucht an. Mit voller Absicht. Der Typ war zu intelligent, um nicht zu wissen, was er da gerade tat. Dessen war der Kleinere sich sicher. Doch da gab es zu vieles, das unausgesprochen war. Das gesagt werden sollte. Das Unbehagen würde nicht weniger werden, nur weil mehr Zeit verstrich. Dieser Tag war so gut oder schlecht dafür geeignet, wie jeder andere auch.
Der junge Mann lehnte sein Fahrrad an die Wand, atmete tief durch und setzte sich neben den Anderen.