"Hier!" Mitfühlend reichte Emma David eine Box mit Taschentüchern. "Du tust mir voll leid."
Nach einem neuerlichen, heftigen Nieser, brachte der junge Mann ein schiefes Lächeln zustande. "Danke. Ich werde es schon überleben."
Leicht schräg, sich mit einer Hand abstützend, setzte die junge Frau sich zu ihm auf die Couch. "Dir geht es richtig gut, nicht wahr? Abgesehen von der Erkältung, meine ich."
"Merkt man das?"
"Ja", nickte sie, "das merkt man."
David schmunzelte. "Und du, Emma? Wieder alles in Ordnung?"
"Natürlich nicht. Ich erwarte immer noch ein Kind, auf dessen Geburtsurkunde 'Vater unbekannt' stehen wird. Aber ich lebe jetzt damit." Die junge Frau stopfte ein Kissen zwischen sich und die Rückenlehne. "Mir gehen so viele Dinge durch den Kopf. Ich muss arbeiten. Halte ich die Doppelbelastung durch? Was, wenn ich längere Zeit krank werde? Wer kümmert sich dann? Was wird aus meinem Baby, wenn mir etwas passiert? Wenn ich sterbe?"
Er nickte nachdenklich. "Verstehe ich schon. Vielleicht kannst du die verschiedenen Sorgen nach Wahrscheinlichkeit ihres Eintreffens ordnen? Dann wäre Tod schon mal ganz hinten."
"Realistisch betrachtet ist das sicher wahr. Was wäre ganz vorne?"
"Weiß nicht." David hob einen Katalog hoch, den er auf dem Tischchen gefunden hatte. "Overall mit oder ohne Öhrchen auf der Kapuze?"
"Welchen würdest du denn nehmen?" Begeistert rückte sie nahe an ihn ran.
"Total schwer. Die sehen alle so niedlich aus!"
Ihre Überlegungen wurden von äußerst gesprächigen Damen unterbrochen, die voll bepackt mit Tüten und Kartons durch die Eingangstür stürmten. Nevena, Noahs Teamassistentin, entdeckte David zuerst und umarmte ihn freudestrahlend. Er kannte auch die anderen beiden, die ebenfalls Kolleginnen aus der Firma waren und ihn sofort drückten, ehe sie natürlich auch Emma überschwänglich begrüßten. Heute Abend würde eine große Silvesterparty steigen, und sie hatten dafür alle eine ganze Menge mitgebracht. Sie hatten schon im letzten Jahr zusammen hier gefeiert. Das Feuerwerk über der Burg, musste von der Dachterrasse aus ganz großartig anzusehen gewesen sein.
"Oh, ein Babykatalog!", seuselte die Blonde entzückt. "Sucht ihr was aus?"
"Sind gerade dabei", nickte Emma. Und schon fand David sich eingequetscht zwischen vier Frauen, die mit verklärtem Blick zu blättern begannen, "Oh!", "Ah!" und "Gott, wie süüüß!" ausrufend.
Auch Noah hatte es endlich in die Wohnung geschafft, nicht weniger schwer beladen. "Hey, Nugget. Sitzt du da freiwillig, oder halten sie dich gefangen?"
Nach einem Blick links und einem rechts, winkte der Goldschmied ab. "Alles bestens."
"Magst du ..."
"Siehst du nicht, dass er beschäftigt ist?", fragte Nevena tadelnd.
"Ja, genau", stimmte Emma ihr zu. "Zieh eine Nummer!"
"Eins!", knurrte der große Brünette seiner besten Freundin entgegen, während er beide Hände in die Hüften stemmte um seiner Forderung deutlich Nachdruck zu verleihen.
Alle fingen an zu lachen. David auch. Er sprang rasch auf und flog ihm in die Arme. "Hey. Kann ich dir helfen, Nummer Eins?", fragte er glücklich.
"Ha!", rief Noah triumphierend aus. "Hat das jeder gehört, ja?" Er hielt ihn fest und sah einfach nur unendlich zufrieden aus. "Du brauchst und sollst mir nicht helfen, Nugget", versicherte er ihm leise. "Ruh dich aus. Ich wollte nur fragen, ob du eine Tasse Tee und eine Kleinigkeit zu essen möchtest."
"Lass nur, mir geht's gut."
"Sicher?"
"Ich habe nur ein bisschen Schnupfen."
"Okay. Setz dich trotzdem wieder", zwinkerte der große Brünette ihm zu. "Und ihr", wandte er sich an die Damen, "Küche! Los!"
Die Wohnung war voll mit ausgelassenen Menschen. David fiel es immer schwerer den Gesprächen zu folgen, sich die Namen zu neuen Gesichtern zu merken und vor allem so zu tun, als wäre er in Feierlaune. Es war furchtbar laut, er hatte Kopfschmerzen. Dazu war ihm unangenehm heiß und er fühlte sich so müde, wie schon lange nicht mehr. Es war erst kurz nach einundzwanzig Uhr. Umso seltsamer war es, als die ersten Gäste begannen, ihm ein frohes neues Jahr zu wünschen. Er wurde gefühlte hundert Mal umarmt und gedrückt, von Noah war derweil nirgendwo etwas zu sehen. Als er schließlich wieder neben ihm auftauchte, hatte er seine Jacke an und eine Tasche in der Hand. Die andere streckte er ihm lächelnd entgegen und meinte nur, "Komm."
"Es tut mir leid", sagte David niedergeschlagen, während sein Schatz ihm die Wohnungstür aufschloss.
"Was?"
"Dass du meinetwegen von deinen Freunden weg musstest."
"Mir nicht", schüttelte Noah den Kopf. "Hättest du nur etwas gesagt. Wenn ich früher gemerkt hätte, wie anstrengend es für dich ist, wären wir schon seit Stunden hier. Du brauchst Ruhe, du gehörst ins Bett", schmunzelte er. "Und ich sage das ganz ohne Hintergedanken!"
"Du bist lieb." David hatte ein schrecklich schlechtes Gewissen. Als ob er sich nicht ohne das schon elend genug gefühlt hätte! "Dann sieh mal zu, dass du wieder zu deinen Gästen kommst", sagte er leise, aber tapfer.
Noah wirkte irritiert. "Ich möchte bei dir bleiben. Wenn ich darf."
"Hast du gar keine Angst um deine Wohnung?"
"Kein bisschen. Außerdem gefällt deine mir sowieso besser."
David war zum Heulen zumute. "Du willst Silvester mit mir alleine verbringen? Hier?" Er lehnte die Stirn gegen die Schulter des Größeren, der ihn in eine liebevolle Umarmung zog.
"Mit wem denn sonst, Nugget? Ich tausche sehr gerne Champagner gegen Kräutertee, wenn ich dafür mit dir im neuen Jahr aufwachen darf. Ich bringe dir auch Frühstück ans Bett! Habe extra die mit Vanillecreme gefüllten Windbeutel mitgenommen, die du so gerne magst."
"Das willst du wirklich?" Davids Augen füllten sich mit Tränen.
"Ich nicht, nein. Die sind alle für dich, ich esse sie nicht. Ich möchte schon, weil ich sie auch sehr lecker finde, aber ich kann mir die kleinen Kalorienbomben nicht leisten."
"Du bist so blöd", schniefte er.
Noah steckte ihn tatsächlich ins Bett, stellte eine Thermoskanne Tee auf den Nachttisch und sorgte für genügend Taschentücher in angemessener Reichweite. Als nächstes klappte er sein Notebook auf und schloss mehrere Lautsprecher daran an. "Ich dachte, wenn du noch ein wenig wach bleiben möchtest, könnten wir uns was ansehen. So ist es gemütlicher, als im Wohnzimmer. Wenn du zu müde wirst, drehst du dich einfach um und schläfst ein. Das ist zwar nur eine Notlösung, weil der Bildschirm nicht so groß ist, aber der Ton ist super gut, wirst gleich merken", meinte er.
"Was können wir darauf denn schauen?"
"Ich habe einen USB-Stick, mit französischen Filmen. Aber erwarte nicht zu viel von mir, ja? Olivias Mann hat mir was empfohlen, was mich angeblich nicht sofort vor Langeweile umbringt. Magst du schon mal was aussuchen?" Es erschien eine Liste mit über dreißig Titeln. "Ich bin gleich wieder da."
David sah ihm mit einem Gefühl hinterher, für das er keine Worte hatte.
Es war überhaupt nicht leicht, eine Entscheidung zu treffen. 'Kaboul Kitchen' wäre bestimmt toll gewesen, aber der war nicht synchronisiert. Da hätte er sich konzentrieren müssen, englische Untertitel hin oder her, und er war nicht sicher, ob er das noch schaffte. Vielleicht 'Monsieur Claude und seine Töchter'? Als Noah im Pyjama und mit allen Kissen die er im Wohnzimmer hatte finden können zurück war, hatte David die Auswahl auf zwei Filme eingegrenzt. 'Willkommen bei den Schtis', und 'Nichts zu verzollen'. Es wurde schließlich ersterer. Was aber eher nebensächlich war. Alleine dass Noah hier war, hätte ihm gereicht um glücklich zu sein.
Als es draußen laut wurde, die ersten Böller krachten und bunte Lichter immer wieder durch die Vorhänge blitzten, stahl der Größere sich einen Kuss. "Du wirst dich noch anstecken", befürchtete David und strich ihm liebevoll über die Wange.
"Quatsch. Ich werde nie krank!" Um diese Aussage gleich zu untermauern, wurde er sofort nochmal geküsst. Sogar richtig lange. "Frohes neues Jahr, Nugget."
"Dir auch frohes neues Jahr, Nummer Eins."
Noah war auch die folgende Nacht bei ihm geblieben. Als sie sich danach trennten, war es recht schnell gegangen. Sie hatten beide verschlafen. Der eine hatte in seine Werkstatt, der andere zum Flughafen müssen. Da war es David wieder relativ gut gegangen. Umso seltsamer war es nun, als Noah etwa drei Wochen später, vergeblich an seiner Tür klingelte. Er nahm schließlich seinen Schlüssel, um in die kleine Wohnung zu gelangen. David schlief tief und fest. Abgesehen von den dunklen Schatten unter den Augen, war der junge Mann so weiß wie sein Kissen.
"Hey, Nugget? Wie fühlst du dich?", fragte Noah ganz leise.
"Wa... Was machst du denn hier?", kam es mit dem Hauch eines Lächelns zurück. David scheiterte kläglich am Versuch sich zu setzen. Sein Pyjama klebte ihm am Körper, ebenso wie die rotblonden Haare im Gesicht.
"Langsam. Ich helfe dir." Vorsichtig richtete der Größere ihn auf. "Möchtest du ins Badezimmer?"
"Mhm. Bitte, ja."
Erst als David versprach sich in der Dusche zu setzen, leider gab es keine Wanne, war Noah einverstanden ihn kurz alleine zu lassen. In der Zwischenzeit bezog er das Bett neu, in das er den jungen Mann anschließend wieder hineinlegte. "Du solltest etwas essen. Ich habe dir Gemüsesuppe gemacht." Eine Schüssel davon stand bereits auf dem Nachttisch, neben einer Unmenge an Medikamenten. "Ist vielleicht noch ein bisschen zu heiß."
"Wieso denn?"
"Weil du Hühnersuppe nicht essen würdest."
"Aber ... Wann?" Er war so unfassbar müde. Etwas griff nach ihm. Nicht wie Schlaf. Nicht ganz. Und doch versprach es Ruhe und Erlösung, wenn er nur die Augen schließen und hineingleiten könnte.
"Ich bin seit Stunden hier, Nugget." Vorsichtig küsste Noah seine heiße Stirn. Warum wusste er nichts davon? Sie hatten jeden Tag telefoniert. Und immer war ihm versichert worden, es wäre nur ein Kratzen im Hals, worunter eben die Stimme ein wenig litt. Sonst nichts. Aber Vorwürfe wären jetzt auch nicht hilfreich! "Du riechst wahnsinnig gut. Was ist das?"
"So ein ... Balsam. Zum Einreiben. Mit ... Thymian und Rosmarin, glaube ich."
"Ah! Ich wusste gleich, es ist essbar!"
"Das ... ist für den Rücken auch. Aber ... da komme ich nicht ran."
"Ich schon. Ausziehen, hinlegen!"
"Einfach so", lächelte David matt, "ohne Kino oder Essen gehen?"
"War noch nie ein großer Romantiker."
Schmunzelnd legte er sich auf den Bauch. Mit sanftem Druck und gleichmäßig kreisenden Bewegungen, begann der Größere die stark duftende Salbe aufzutragen. Er fühlte jede Rippe. "Nugget? Warum hast du mir nicht gesagt, dass du so krank bist?"
"Zwischendurch war ... war es schon ..."
"Hm?"
"Deine ... Hände."
"Was ist mit ihnen?"
"So ... Wunder...bar." Aus Davids Körper wich jede Anspannung. Das leise rasselnde Atemgeräusch verstummte.
"Nugget?" Noah kraulte ihn leicht im Nacken, bekam aber keine Antwort. "Komm, sprich mit mir!" Einer schrecklichen Ahnung folgend sprang er hoch und drehte ihn um. "Hey!" Er packte ihn an den Schultern und rüttelt ihn. In ihm war nichts mehr, außer Angst. "David! Wach auf!"