"Hey! Pssst!" Hektisch winkte die Verkäuferin ihrer Kollegin. "Traummann auf zwölf Uhr!"
"Oh. Mein. Gott."
Aufgeregt kichernd steckten die beiden jungen Frauen ihre Köpfe zusammen, was ihnen umgehend einen strengen Blick ihrer Vorgesetzten einbrachte. Die hatte in diesem Fall zwar Verständnis, bis zu einem gewissen Maß wenigstens, sie war ja nicht blind, aber so ein Verhalten konnte sie unter keinen Umständen durchgehen lassen. Das wäre äußerst unprofessionell.
Der schöne Mann mit den bernsteinfarbenen Augen, der umgehend alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, bekam davon glücklicherweise nichts mit. Oder er ließ es sich nicht anmerken. Er schenkte den Damen ein verhaltenes Lächeln und schlenderte, an den Vitrinen vorbei, in Richtung Schaufenster.
"Doris, ich mache heute früher Schluss, ich gehe vorne raus, bis Montag!", informierte David, ohne dabei Luft zu holen, die große Frau mit der strengen Frisur. Er nahm sich gerade noch Zeit, den anwesenden Kunden freundlich einen guten Tag zu wünschen, schon war der junge Mann wie ein Wirbelwind nach draußen verschwunden. Die Chefin schaute ihm schmunzelnd hinterher. Seit etwa drei Wochen war der Goldschmied kaum noch wieder zu erkennen. Er redete und lachte viel mehr. Aber vor allem verließ er die Werkstatt nicht mehr täglich als Letzter.
Doris hatte einen Verdacht, was die Ursache dafür sein könnte. Der hätte sich bestätigt, hätte sie ebenfalls näher am Schaufenster gestanden. So wie der gutaussehende Kunde, der vorhin gemeinsam mit einer blonden Dame das Juweliergeschäft betreten hatte und nun sah, wie David schräg gegenüber jemandem entgegen lief. Dieser fing ihn grinsend auf, zog ihn in eine Umarmung und einen Kuss und hob ihn dabei hoch.
"Wie schön", murmelte der Mann im Verkaufsraum nachdenklich. "Als gäbe es keine Welt um sie herum."
"Na, so was. Und von dir hat er nicht mal am Rande Notiz genommen. Du wirst alt, mein Lieber!", sprach seine Begleiterin ihn von der Seite an.
"Ich vermute, das soll gerade ein schadenfrohes Grinsen in deinem Gesicht sein, nicht wahr? Leider sieht man es nicht. Du hättest dir das letzte Lifting sparen sollen, Ariane."
"Charmant, wie immer. Was hältst du von diesen Ohrringen hier?" Die Dame hielt ihm eine Schatulle unter die Nase.
"Praktisch. Bei der Größe kannst du sie während der Weihnachtsfeiertage als Christbaumschmuck verwenden."
Genervt drehte sie die Augen nach oben und ließ ihn stehen.
In Gedanken versunken blieb der Kunsthändler am Fenster zurück. Er sah noch immer hinaus, als die beiden schon längst aus seinem Blickfeld verschwunden waren. Er sollte aufhören zu grübeln und zufrieden sein. Man konnte eben nicht alles haben im Leben. Im Großen und Ganzen, lief es doch ziemlich gut für ihn. Dabei fiel ihm ein, dass er seinen Vater noch nicht darüber informiert hatte, dass dem Familienunternehmen vor wenigen Tagen eine kleine, private Sammlung zeitgenössischer Bilder zum Kauf angeboten worden war. Wie es schien, eine durchaus lukrative Sache. Der einzige Wermutstropfen wäre mal wieder die Stiefmutter. Ariane würde sich sicherlich die Gelegenheit ihren Mann nach Triest zu begleiten, wo die Sache unter Dach und Fach zu bringen wäre, nicht entgehen lassen. Aber, na ja. Bis es im Frühjahr so weit wäre, blieben noch ein paar Monate, in denen Mael sich von dieser Frau erholen könnte.
David musste schon so lachen! Noah hörte nicht auf ihn zu küssen und hob ihn dabei hoch und immer höher. Mitten in der Salzburger Fußgängerzone. Um die Meinung fremder Leute, die ihnen beiden nicht immer nur freundliche Blicke zuwarfen, scherte er sich keine Sekunde. Hatte er vom ersten Tag an nicht.
Jeder einzelne Schritt, den man neben einem Menschen machte den man liebte, ohne dessen Hand zu halten obwohl man es gerne täte, wäre ein verlorener und würde einem irgendwann tausend Tränen kosten, hatte Julian einmal gesagt. So ernst und sicher, dass Noah sich nie getraut hatte zu fragen, woher dieses Wissen stammte.
Er wäre zurückhaltender gewesen, hätte er den Eindruck gehabt, David würde sich damit nicht wohl fühlen. Das war aber nicht so. Ganz im Gegenteil.
"Lass mich runter!"
"Vielleicht. Komm mit, was essen!"
"Vielleicht? Stell mich sofort auf den Boden!", lachte David glücklich und schlug ihm dabei wenig ernsthaft gegen die Schulter.
In japanischen Restaurants gab es kaum Desserts. Zumindest keine, mit denen die Mädels in der Runde zufrieden gewesen wären. Deshalb hatten Noahs Arbeitskolleginnen eine ganze Menge Zeug in einer Konditorei gekauft. Sie waren, wie meistens nach dem gemeinsamen Mittagessen am Freitag Nachmittag, noch mit zu ihm nach Hause gegangen, um dort in aller Ruhe eine Tasse Kaffee zu trinken.
"Hast du Milch für mich?", fragte Nevena.
"Kühlschrank!" Noah war eben noch beschäftigt.
"Uuuhhh!" Die Team-Assistentin machte große Augen und griff nach einer bereits offenen Flasche Weißwein. "Was haben wir denn da?!"
"Probier ihn, Nevi." Der Gastgeber stellte ein passendes Glas vor sie. "Er ist wunderbar!"
Sie schenkte sich ein wenig ein und seufzte glücklich beim ersten Schluck. "Wahnsinn, so süß und lecker. So was steht bei dir einfach rum?"
"Nein. Ich hatte gestern Besuch von einer lieben Freundin. Ihr Mann ist Franzose, der freut sich immer über Foie gras. Dieser Wein passte perfekt dazu."
"Foie ... gras?", fragte David beinahe tonlos.
"Das ist französische Gänse...stopf..." Oder wie die Tierschutzorganisation Peta es nannte: Die Delikatesse der Verzweiflung. Der Größere hörte auf zu reden. Scheiße. "Ne me quitte pas!"
"Was?"
"Verlass mich nicht!"
Jeder in der Küche fing an zu lachen. Stopfleber war ohne Zweifel ein mehr als bedenkliches Lebensmittel. Und David Vegetarier.
Er ließ ihn noch ein paar Sekunden zappeln, aber sehr lange ernst bleiben konnte er auch nicht. Durchaus amüsiert, weil Noah regelrecht ängstlich aussah, stellte der Kleinere sich auf die Zehenspitzen und drückte dem Anderen einen schnellen Kuss auf die Lippen. "Idiot."
Die Erleichterung stand Noah ins Gesicht geschrieben, als er ihn fest in die Arme schloss. "Stört es dich, dass ich Fleisch esse?", fragte er vorsichtig. "Darüber haben wir noch nie geredet."
"Ist ja lieb, dass du dir deswegen Gedanken machst." Das hatte tatsächlich noch keiner getan. "Aber da gibt es nichts zu reden", winkte David ab. "Wenn es dir schmeckt, ist es in Ordnung. Ich kann leicht darauf verzichten, weil ich es nicht mag. Habe ich noch nie. Darum fehlt es mir auch nicht. Das ist alles." Kurz dachte er nach. Der Sache musste er jetzt doch nachgehen. "Wenn ich ein Problem damit hätte, würdest du es lassen?"
"Ehrlich gesagt", grübelte Noah, "bin ich gerade ziemlich froh, dass ich es nicht versuchen muss. Ich bin mir nicht sicher, ob ich es für immer könnte. Ich mag es nämlich schon ziemlich gerne! Aber ich würde es mir ganz bestimmt in deiner Gegenwart nicht mehr reinhauen. Und wegen der Gänseleber ..."
"Die ist grenzwertig", lächelte der Goldschmied. "Aber wenn der Mann deiner Freundin das so gerne mag, hast du ihm damit bestimmt Freude gemacht. Das passt zu dir. So bist du. Ich müsste schon blöd sein, das zu kritisieren. Wo ich doch selbst am meisten davon habe."
"Hast du?"
"Du kochst so oft für uns beide. Und obwohl du vielleicht lieber ein saftiges Steak für dich hättest, nimmst du immer Rücksicht auf mich."
"Es soll dir ja auch schmecken. Ist also selbstverständlich."
"Ist es nicht. Aber das fällt dir gar nicht auf." Liebevoll strich David ihm über die Wange. "Welche Freundin war denn bei dir?"
"Olivia. Leider kennst du sie noch nicht, sie wohnt in Linz und arbeitet für eine große Bank."
"Dann seht ihr euch nicht so oft?"
"Nein. Es war schön, dass sie vorbei geschaut hat. Wir hatten viel zu plaudern! Olivia fährt im Frühjahr zu einem Seminar nach Italien. Ich habe Verwandte in der Stadt, deshalb kenne ich mich da ein bisschen aus und konnte ihr ein paar Tips geben."
"Wo fährt sie denn hin?"
"Nicht weit. Nur nach Triest."
Weil die Neugier unter den Gästen groß war, wurden zügig noch zwei weitere Flaschen geöffnet, deren Inhalt rasch Absatz fand. Es war wohl wirklich ein besonders guter Wein. "Magst du auch?", fragte Noah David, als alle anderen schon im Wohnzimmer waren. Er zögerte, schüttelte aber dann den Kopf.
"Nugget? Du hättest keinen Grund dich zu sorgen. Du bist bei mir."
Wie viel es tatsächlich bedeutete, dass David sich wenig später ein halbes Glas einschenkte und sich damit zu den anderen setzte, wusste wohl nur er selbst.