Es gab sie schon immer. Sekunden zwischen Träumen und Wachen, in denen alles perfekt, die Welt in Ordnung und der Verstand vollkommen ruhig war. Aber noch nie hatten sie so lange gedauert, wie in diesem Moment. David machte die Augen auf. Er fand sich in Noahs Armen, der ihn anlächelte und ihm einen Kuss auf die Stirn hauchte, ein "Guten Morgen, Nugget", murmelnd.
"Mmmm. Müssen wir schon aufstehen?"
"Nein, das musst du nicht." Liebevoll strich Noahs Daumen über die Wange seines Liebsten. "Ich wollte nur nach dir sehen und fragen, ob du zum Mittagessen nach unten kommen magst."
Da waren zwei Dinge, die David seltsam vorkamen. Es dauerte ein bisschen, aber dann hatte er herausgefunden welche. Zum einen, dass er nicht aufstehen müsse, und zum anderen das Wort Mittag. Ein Blinzeln später war er hellwach. "Warum hast du mich nicht früher geweckt?! Warum schlafe ich denn so lange?" Der beinahe panische Versuch sich aufzurichten scheiterte an Noah, der ihn sanft zurück in die Kissen drückte.
"Ich nehme an, du brauchst das. Es war ein langes Jahr. Du arbeitest zu viel."
"Du auch."
"Das stimmt zwar, aber ich gönne mir eine ganze Menge Auszeiten dazwischen. Chillen kann ich. Du musst das noch ein bisschen üben", grinste er, stupste mit der Nasenspitze an Davids Stirn und wuschelte ihm fröhlich durch die Haare. "Wo wir gerade dabei sind. Nach Neujahr muss ich nochmal für etwa drei Wochen weg. Aber danach ... wird das nicht mehr so oft der Fall sein. Ich habe mit Alex, meinem Boss, darüber gesprochen. Wir haben die Dienstreisen in der nächsten Zeit etwas eingeschränkt."
"Du ... machst das aber nicht wegen mir, oder?"
"Na ja", murmelte Noah kleinlaut. "Du hast deine Wohnung. Wenn ich dir zu sehr auf die Nerven gehe, bist du dort jederzeit vor mir sicher."
"Sehe ich nicht so."
"Wieso nicht?"
"Herrgott. Siehst du denn nie in deine Schublade?"
"Ähm..." Gab es da einen logischen Zusammenhang? "Welche genau?"
"Die mit dem Durcheinander."
"Als ob ich so was hätte", kam es gespielt eingeschnappt zurück. "Was ist da?"
"Einfach mal reinschauen", antwortete der Goldschmied fast unschuldig.
Noah war hin und hergerissen. Sein Blick schweifte von David zur Zimmertür und wieder zu seinem Schatz. Die brennende Neugier war ihm deutlich anzusehen. "Nur eines noch, sonst vergesse ich es wieder. Hast du am ersten Februarwochenende schon was vor?"
"Ich ... Keine Ahnung? Nein?"
"Ich habe gehofft, dass du das sagst. Magst du mit mir auf eine Hochzeit gehen? Wir sind eingeladen."
"Wir?"
"Mhm." Das Grinsen wurde immer breiter. "Zieh dich warm an, es ist ein Chalet in den italienischen Alpen und da oben liegt viel Schnee um diese Jahreszeit. Weil Josef mich gebeten hat sein Trauzeuge zu sein, schlafen wir da auch. Isabella hat schon angerufen, weil sie deinen Vornamen gebraucht hat. Wegen ... Irgendwas mit Deko."
"Tischkärtchen?"
"Kann schon sein."
"Josef und Isabella?" David überlegte fieberhaft. "Ist das der gleiche Josef, mit dem du damals einen Gartenpavillion abgefackelt hast? Den von ..."
"Isabella di Angelo!", lachte der Größere auf. "Ja, ganz genau. Kaum zwanzig Jahre später, hat das Mädchen seiner Träume ihn doch noch erhört. Und, es war ein Unfall, verdammt!" Jetzt hielt er es aber keine Minute länger mehr aus, küsste stürmisch seinen Schatz, sprang auf, rannte aus dem Schlafzimmer und die Treppe nach unten. Diese Schublade ließ ihm keine Ruhe!
Nur Emma saß auf der Couch, als die beiden Männer am Nachmittag zurück nach Hause kamen. David hatte einige Kleidungsstücke zum Wechseln gebraucht. Aus dessen Wohnung, die Noah mit seinem eigenen Schlüssel aufgesperrt hatte! Genau jenem, der schon mal für einige Tage in seinem Besitz gewesen war. Wenn auch unabsichtlich. Jetzt gehörte das Ding erwiesenermaßen ihm. Sein Name war nämlich in schwungvollen Buchstaben auf dem silbernen Anhänger eingraviert. Was auch der Grund für das dauerhafte Grinsen im Gesicht des großen Brünetten war. "Seit wann habe ich den schon?", hatte er nur Minuten nachdem er ihn gefunden hatte, atemlos gefragt.
"Ein paar Tage nach deinem Geburtstag habe ich ihn dir hinein gelegt."
"Was? Wirklich?"
"Ich habe doch gesagt, ich muss nicht darüber nachdenken."
Noah hatte David in eine feste Umarmung gezogen und lange nicht mehr los gelassen.
Geräuschvoll schniefte Emma in ein Taschentuch. Ihre Augen waren leicht verquollen, das Gesicht gerötet. Offenbar hatte sie eben noch Rotz und Wasser geheult und versuchte das vor den beiden Männern, die eben das Wohnzimmer betreten hatten, zu verbergen. Vergeblich.
"Oh Gott", meinte David entsetzt, als er merkte dass der Fernseher lief. Die Sporttasche, die eben noch lässig über seiner Schulter gehangen hatte, sank zu Boden. "Hast du eine Merci-Werbung gesehen?"
Um die Mundwinkel der jungen Frau wurde der Anflug eines Lächelns sichtbar.
Wie ein geschmacklich gar nicht mal so übles Schokoladenerzeugnis die Stimmung seiner besten Freundin in den Keller, oder sogar noch eine Etage tiefer hätte treiben können, erschloss sich Noah beim besten Willen nicht. Während er noch versuchte dieses Mysterium zu ergründen, setzte David sich bereits neben das kleine Häufchen Elend, das sich dankbar an ihn lehnte. Er suchte indessen den Blick des Anderen. Der nickte ihm unmerklich zu. Ein Gespräch, ganz ohne Worte.
"Emma, magst du eine Tasse Kakao?", fragte David.
"Ich ... Wegen mir alleine musst du dir die Arbeit nicht extra machen."
"Ehrlich gesagt, hätte ich auch total gerne einen. Und für dich?", wandte er sich an Noah, "Kaffee?"
"Danke, Nugget. Das wäre prima", lächelte er, während der junge Mann sich auf den Weg in die Küche machte.
"Er ist so nett", flüsterte Emma. "Und? Läuft schon was?"
"Das geht dich gar nichts an!"
"Also, nicht."
In ihrem Gesicht landete umgehend der Pullover, den ihr Freund sich eben ausgezogen hatte.
"Emma", sah er sie ernst an. Mit einem Ablenkungsmanöver würde er sie nicht durchkommen lassen, das hätte ihr klar sein müssen. "Möchtest du nicht mit mir reden?"
"Alles bestens", winkte sie ab. "Ich bin im Moment einfach nur ein bisschen nah am Wasser gebaut. Das sind die Hormone, weißt du? Kommt vor."
"Ich kenne dich zu lange und zu gut, um dir das zu glauben. Und ich habe dich zu gern, um so zu tun als ob. Also, nochmal. Und jetzt die Wahrheit, Süße. Was beschäftigt dich?"
David beeilte sich absichtlich nicht. Er spülte zuerst eine der Tabletten, die er vorhin bei sich daheim eingepackt hatte, mit einem Glas Wasser hinunter. Dem steten, unangenehmen Pochen, das ihn wieder im Hinterkopf plagte, würde die Pille erfahrungsgemäß sehr schnell ein Ende bereiten.
Die beiden im Nebenraum sollten Zeit haben, sich ungestört zu unterhalten. Und das taten sie. Der junge Mann hörte Emma leise erzählen. Wenn Noah ihm später von sich aus sagen wollte was seine Freundin so traurig machte, sollte er es tun. Wenn nicht, wäre es auch total okay.
Erst als es im Wohnzimmer stiller wurde, goss David die heiße Schokolade in zwei große Tassen und machte sich damit auf den Weg.
Tatsächlich hatte sein Schatz die junge Frau inzwischen in die Arme genommen und sagte eben etwas zu ihr, das sie lächeln ließ. Es wirkte zwar eher tapfer als glücklich, aber immerhin. David freute sich ehrlich über die Verbesserung. Darum kam er sich erst recht ziemlich blöd vor, weil es ihm gerade noch einen deutlichen Stich versetzt hatte, die beiden so vertraut und eng aneinander gekuschelt sitzen zu sehen. Ein schmerzhaftes Gefühl, das jeder rationalen Grundlage entbehrte. Besonders, weil Noah ihm sogleich dankbar zuzwinkerte, kaum dass er ihn im Blick hatte. Alles gut!
"Ich gehe mich mal schnell umziehen. Habe mich in der Küche bekleckert", lachte der Goldschmied erleichtert über sich selbst und seine Einsicht ein Vollidiot zu sein, während er ein Tablett auf dem Couchtisch abstellte. Kekse waren schon da. "So ein Fleck ist an mir zwar total authentisch, aber trotzdem!" Schöner Kontrast zum weißen Stoff. Direkt in der Mitte. Das war mal wieder typisch!
Kaum auf der Treppe, zog er sich noch im Hochlaufen sein Shirt über den Kopf. Was darunter zum Vorschein kam, war nicht wirklich überraschend. Besonders, wenn man die farbenfrohe Tätowierung über der Hüfte nicht mitzählte, mit der ja wirklich keiner hätte rechnen können! Nicht ein einziges, sichtbares Gramm Fett war an diesem Mann zu sehen. Nur glatte, helle Haut spannte sich über die dezent ausgeprägte Muskulatur des schlanken Oberkörpers, die sicherlich dem intensiven Kampfsport-Training geschuldet war. Nein, ausgehend von dem was er fühlte wenn er David im Arm hielt, hätte Noah genau das zu sehen erwartet. Zumindest, wenn er sich jemals erlaubt hätte, mehr als nur flüchtig darüber nachzudenken. So aber, war er auf diesen, im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubenden Anblick, keineswegs vorbereitet gewesen. Dem angemessen, fand in der gleichen Sekunde ein herrlich luftiges Butterstangerl einen grausamen Krümeltod in Noahs Faust. Hätte er bloß nicht hingeschaut!
"Boah", schüttelte Emma grinsend den Kopf. "Du hast es echt so was von nötig, was?" Ihren besten Freund amüsierte diese Einschätzung augenscheinlich so gar nicht. "Ich weiß genau, wie es dir geht", ließ sie ihn deshalb sofort zur Beruhigung wissen. "Seit ich schwanger bin, könnte ich echt Tag und Nacht ..."
"Ey", bremste er ihren Redeschwall. "So viele Details muss ich über dein ... Privatleben nicht erfahren."
"Stell dich nicht so an. Wenn du wüsstest, was ich schon alles von dir gehört und gesehen habe ...", murmelte sie in ihre Tasse.
"Was?!"
"Was denkst du denn? Wir haben jahrelang zusammen gewohnt!"
"Du hast ...", schluckte der große Brünette. "Ich meine ..."
"Darauf kannst du wetten, Tiger! Wie gut, dass hier so viele Badezimmer sind. Dadurch schwindet die Gefahr ein bisschen."
"Bade..."
"Und nicht nur da!"
"Ab...sichtlich?!"
"Pff! Schön wär's!", rief Emma aus. "Dann wäre ich wenigstens darauf gefasst gewesen!" Beherzt griff sie nach einem Anisbogen. "Wie süß, jetzt bist du rot geworden."
"Ich ... Werde dieses Gespräch am besten einfach vergessen."
"Kommt überhaupt nicht in Frage", beschwerte sie sich kichernd, "du wirst gefälligst daran denken, bevor du mich das nächste Mal anpflaumst, nur weil ich im Bett einen Döner esse! Wenn du ..."
"Oh, Gott." Ihm schwante noch viel Übleres.
"Wenn du sogar in der Küche Sex haben darfst, darf ich im Schlafzimmer ..."
"Ist ja gut! Ich habe es verstanden", gab Noah sich geschlagen. "Darfst du. Aber auch nur Fast Food!"
Dem folgte ein beispielloser Lachanfall seiner besten Freundin. Endlich. Da war sie wieder. Seine Emma, unbeschwert und glücklich. Auf seine Kosten zwar, aber diesen Preis bezahlte er gerne.