Wann immer David aus dem Haus oder der Firma kam und sich auf sein Fahrrad setzte, blickte er sich automatisch um. Das konnte er einfach nicht abstellen. Kaum zu glauben, dass er über Wochen nicht bemerkt haben sollte, dass ihm immer wieder jemand gefolgt war. Aber offenbar war es so gewesen.
Bisher hatte er weder Noah noch Tom wiedergesehen, oder etwas von einem der beiden gehört. Nicht, dass David sie vermisst hätte. Das auf keinen Fall. Er sah nur aus Gewohnheit fünfzig mal am Tag auf sein Handy. Es könnte sich ja auch jemand Wichtiges melden.
Ihm fiel zwar gerade keiner ein, aber möglich wäre es.
Auf dem Weg zur Arbeit kam der junge Mann täglich an einem Elektroladen vorbei, hielt an und sah sich ein wenig darin um. Die Verkäufer kannten ihn, zeigten ihm gerne die neuesten Zubehörteile und ließen David auch dann stöbern, wenn er nichts brauchte. Er mochte die Leute, die hier arbeiteten. Sie hatten echten Durchblick und spielten nicht Verstecken, sobald jemand durch die Tür trat.
Hier hatte der Goldschmied sich, kurz nachdem er nach Salzburg gekommen war, die Kamera gekauft, die er schon lange hatte haben wollen. Obwohl sie wirklich kostspielig gewesen war. Zu teuer eigentlich. Er wollte noch in ein zusätzliches Objektiv investieren, konnte sich aber bisher noch nicht so recht dazu durchringen. Auch für dieses kleine Teil würde er richtig viel auf den Tisch legen müssen. Aber toll wäre es schon!
Solche Anschaffungen waren eine klare Ausnahme. Der junge Mann hatte früh lernen müssen, sich sein Geld einzuteilen. Größere Ausgaben erlaubte er sich nur, wenn sie vorher genau überlegt waren. Er kam ganz gut zurecht. Sein Job brachte ihm genug ein, um sich das Leben so leisten zu können, wie es im Moment war. Solange David alle Rechnungen bezahlen konnte, und ab und zu etwas übrig hatte um sich den ein oder anderen kleinen Wunsch zu erfüllen, war er zufrieden.
Vor allem mit seiner Wohnung hatte er wirklich Glück, sie war bezahlbar. Keine Selbstverständlichkeit in einer der teuersten Städte Europas. Es waren zwar nur knappe fünfundvierzig Quadratmeter in einem Randviertel, aber für ihn alleine reichte das allemal. Mehr Platz brauchte er nicht und die Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr war auch wirklich gut. Wenn das Wetter passte, fuhr der junge Mann trotzdem lieber mit dem Rad ins Zentrum. Inzwischen kannte er jede schmale Gasse oder verwinkelte Seitenstraße in der gesamten Umgebung. Alles was sich als Abkürzung eignete, nutzte er auch.
Dreimal die Woche ging er ins Kampfsportzentrum. Auch an diesem Samstag hatte er das fest vor, allerdings erst gegen Abend. David brauchte das Gefühl, nicht nachzulassen. Hätte dem stillen jungen Mann vor zwei Jahren jemand gesagt, dass Kickboxen einmal seine Leidenschaft sein würde, er hätte nur mitleidig den Kopf geschüttelt.
Am Anfang war es wirklich eine Qual gewesen. Allein die Hemmschwelle, diese Halle zu betreten! Aber es war zu schaffen gewesen. Seine Beharrlichkeit und Ausdauer hatten sich nicht nur ausgezahlt, sie waren auch aufgefallen.
Er würde nicht unbedingt sagen, dass er Freunde gefunden hätte. Aber es war schon so, dass er gerne dort war. In den ersten Wochen war er extrem vorsichtig gewesen. Hatte nie ein privates Wort gewechselt oder gar von sich aus jemanden angesprochen. Die meisten der Typen waren ihm nämlich nicht ganz geheuer vorgekommen, um ehrlich zu sein. Überwiegend waren es Männer und die fast ausschließlich mit Migrationshintergrund.
Die Vorurteile die David damals gehabt hatte, eine schöne Mischung aus Klischees und Gedanken die sich Andere bis dahin für ihn gemacht hatten, fand er heute äußerst beschämend. Nicht ein einziges Mal war ihm etwas Unangenehmes passiert oder gesagt worden.
Als er eine Woche nicht hingegangen und dann mit Flecken aufgetaucht war, die sich bereits grünlich verfärbt hatten, hatte der Trainer ihn angesehen und gemeint, "Reden?" Das Gespräch hatte geendet, bevor es angefangen hatte. Und zwar mit einem entschiedenen "Nein".
Kerem, der mehrfache Staatsmeister, hatte das mit einer hochgezogenen Augenbraue zur Kenntnis genommen und keine weiteren Fragen gestellt. Er war noch nie ein Mann großer Worte gewesen.
Auch damals, ziemlich am Anfang nicht, als er David zur Seite genommen und ihm ein paar Einzelstunden gegeben hatte, die es in sich gehabt hatten. Mit sportlicher Fairness hatte es freilich wenig zu tun gehabt, was der Türke ihm dabei gezeigt hatte. Er hatte diese veränderte Herangehensweise lediglich mit einem knappen, "Siehst du irgendwo einen Scheiß-Wettkampfrichter, oder was? Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss", kommentiert.
Das war durchaus einleuchtend gewesen. Ihm verdankte David eine ganze Menge.
Er lächelte vor sich hin, als er die Stufen zur Eingangstür seines Wohnhauses hochsprang. Seit er für seine kleine Mitbewohnerin sorgen musste, hatte sich in seinem Leben einiges verändert. Er nahm die Sache ernst, war mit der Katze sogar beim Tierarzt gewesen, weil sie hustete. Es war Gott sei Dank nichts Schlimmes. Nur die Rechnung war beängstigend, aber das war egal, der junge Mann würde tun was immer nötig wäre, er war schließlich für sie verantwortlich. Das war der Grund. Und nicht etwa, wie Corinna in der Arbeit meinte, weil David es schön fand, nicht alleine zu wohnen. Also ehrlich. Er hatte selten so einen Blödsinn gehört!
Das kleine Tier hatte inzwischen jede Skepsis verloren und begrüßte ihn gewöhnlich schon im Vorraum mit wohligem Schnurren. Dass es ein Leckerli dafür bekam und sofort ausgiebig gestreichelt wurde, trug zu diesem Verhalten möglicherweise leicht bei.
Seit zwei Wochen war Noah wieder zuhause. Ibiza hatte ihm gut gefallen. Es war zwar ein wenig turbulent gewesen, aber alles andere hätte ihn auch stark gewundert.
Wie oft er inzwischen auf sein Handy geschaut hatte, um zu sehen ob eine neue Nachricht von David angekommen war, konnte er nicht mehr zählen. Natürlich war nichts da. Nie. Mehr als einmal war er versucht gewesen, einfach mal anzurufen. Nur so. Oder ein paar Worte zu schreiben. Aber er hatte sich dann doch stets ermahnt vorsichtig zu sein und es nicht getan. Er machte immer nur die App auf und war maßlos enttäuscht wegen der gähnenden Leere.
Dem Akku wurde das Ganze auch bereits zu dumm. Das iPhone hing so oft am Ladekabel, dass es schon fast ein Festnetz war.
Der leicht verbeulte Opel Corsa in dem Noah gerade saß, machte ihm ein bisschen Angst. Irgendetwas klapperte bedenklich laut, eine Kontrolllampe flackerte hektisch und vor allem musste man äußerst vorausschauend fahren, um den himmelblauen Kleinwagen vor Ampeln, Zebrastreifen oder Fußgängern rechtzeitig zum Stehen zu bringen. Es war echt notwendig, das zu verbessern. Deshalb war Noah mit dem Auto jetzt auch unterwegs zu einer Tankstelle. Zu dieser gehörte auch eine kleine Werkstatt, die ab Samstagmittag geschlossen war.
Dem Pächter hatte der IT-Fachmann einmal mitten in der Nacht aus der Klemme geholfen, als sich das gesamte Computersystem im Gebäude aufgehängt hatte. Er war zufällig dort gewesen, um zu tanken. Weil eine Hand die andere wäscht, durfte er heute die Hebebühne benutzen, um diverse Verschleißteile wie Ölfilter, Bremsbeläge und Ähnliches zu wechseln.
Vielleicht sollte Noah doch einmal anrufen? Und David ganz unverfänglich fragen, wie es ihm so ging? Zu viel Zeit verstreichen zu lassen, war ja sicher auch nicht das Beste. Aber was, wenn es wieder in einer kleinen Katastrophe endete? Der Andere hatte ebenfalls nie etwas von sich hören lassen. Würde er von sich aus vermutlich auch nicht. Bestimmt hatte er Noah längst vergessen.
Die Unterhaltung in WhatsApp hatte funktioniert. Aber wie anfangen? Ein lustiges Bild schicken? Oder einen Text? Er hatte gerade vorhin von Emma einen bekommen, den er richtig komisch fand. "Der größte Unterschied zwischen Männern und Frauen ist der Satz: Was für ein Arsch!"
Nein, lieber nicht. Humor war ja unterschiedlich.
Noah hatte den ganzen Nachmittag an dem Auto gearbeitet. Das war dem Mann inzwischen auch deutlich anzusehen. Verräterische Öl- und Dreckspuren zogen sich ungleichmäßig über die uralten Jeans und das ausgeleierte Shirt, das er heute Mittag von ganz hinten aus einer Lade gezogen hatte. Er würde es nachher wegwerfen.
Mit dem Ergebnis seiner Arbeit war er ziemlich zufrieden und langsam bekam er Hunger. Durch das weit geöffnete Tor warf Noah einen flüchtigen Blick hinüber zum Tankstellenshop. Sicher hätte Susi, die heute die Spätschicht übernommen hatte, dort drüben noch ein Sandwich und etwas zu trinken.
Noah machte sich die Hände mit Waschbenzin sauber. Leider nur mit mäßigem Erfolg. Hätte der Brünette einen Spiegel gehabt, hätte er unter anderem auch die verwischten Flecken auf der rechten Wange gesehen und versuchen können, sie zu entfernen. Aber darauf kam er gar nicht.
Wie sollte er es nur anstellen David zu sehen? Möglichst ohne dass der Verdacht schöpfen würde, dass es Absicht wäre. Sonst würde er sich vielleicht wieder überrumpelt oder sogar bedroht fühlen. Allein der Gedanke war furchtbar. Das durfte auf keinen Fall noch mal geschehen!
Es war vollkommen still, als Noah aufsah und David gegenüber stand, einfach so. Als machte die Realität eben mal Pause.