"Nicht vergessen, Mädels", beschwor der Fitnesstrainer die Kursteilnehmerinnen seiner Step-Aerobic-Gruppe, "es ist nicht die Kleidung, die uns fett macht, ..."
"... es ist das Fett, das uns fett macht!", beendeten die Damen im Chor seinen Satz, nicht ohne dabei in Kichern und sogar Gelächter auszubrechen.
Gleich einem Mantra, gab der quirlige junge Mann stets jenen Auserwählten diese Weisheit am Ende jeder Trainingseinheit mit auf den Weg, die das Glück hatten, einen der heiß begehrten Plätze unter seiner Aufsicht ergattert zu haben. Frauen aller Alters- und Gewichtsklassen, rannten ihm regelrecht die Türen ein.
Da es Lui noch nie an Selbstbewusstsein gemangelt hatte, war sein Erfolg wenigstens für ihn nicht überraschend. Zumal ihm der Job Spaß machte. Meistens. Es schien nicht weiter aufgefallen zu sein, aber heute war es mit der Konzentration etwas schwierig gewesen. Wenn es nämlich eines gab, womit Lui nicht umgehen konnte, dann war es der Gedanke, dass sein Mann Geheimnisse vor ihm zu haben schien. Stefan behauptete, er dürfe nicht darüber sprechen, da es sich um eine rechtliche Angelegenheit handelte. Und wenn schon! Sicher, er war Notar. Aber er sollte sich mal nicht so anstellen! Dass er in den letzten Tagen so oft mit Noah telefonierte, war doch kein Zufall! Und der war immerhin ein gemeinsamer Freund! Schon seit der Studienzeit. Er war im Sommer auf ihrer Hochzeit gewesen, da durfte Lui doch erwarten, umfassend informiert zu werden! Schweigepflicht hin oder her. Nichts, als faule Ausreden! Da lief doch irgendwas! Und er hatte sich fest vorgenommen, herauszufinden, was!
Müde und angespannt trat Noah durch seine Wohnungstür. Er hatte am Vortag David besuchen wollen, aber das war nicht möglich gewesen. Er lag wieder auf der Isolierstation, wo der Zutritt nur engen Angehörigen erlaubt war. Es gab keine Ausnahmen. Die Blutwerte waren im Moment zu schlecht, um ihn in einem normalen Zimmer unterbringen zu können. Die Ärzte erklärten, man dürfe den Patienten keiner Gefahr einer Infektion aussetzen.
Noah hatte unlustig aufgelacht, als ihm klar geworden war, dass er in diesem Zusammenhang wohl wirklich genau das war. Er. Jemand, vor dem man David schützen musste.
Über seinen genauen Gesundheitszustand sprach freilich keiner der Damen und Herren in Weiß. Berufsbedingt. Die Schwestern und Pfleger waren da weit weniger schweigsam. Vor allem einer, Nils, hatte Noah bisher recht gut auf dem Laufenden gehalten. So hatte er auch erfahren, dass die Onkologen inzwischen eine Knochenmarks-Transplantation ins Auge fassten. Und, dass Davids Vater sich auch nach mehrmaligem Nachfragen nicht bereit erklärt hatte, eine Probe abzugeben. Angeblich reagierte der Mann weder auf schriftliche, noch telefonische Aufforderungen sich zu melden. Darum war Noah hingefahren. Er hatte es für eine gute Idee gehalten, direkt mit ihm zu sprechen.
"Und?", überfiel Emma noch im Vorraum ihren besten Freund, "wie ist es gelaufen?"
Er lächelte traurig, drückte der jungen Frau einen Kuss auf die Stirn und ging wortlos an ihr vorbei in die Küche. Mit unruhigen Händen griff Noah nach einem Glas und füllte es mit Mineralwasser. Noch bevor er davon trank, überlegte er es sich allerdings anders, angelte sich ein neues, schnappte sich eine Flasche Edelbrand und nahm beides mit zum Esstisch.
Emma war überaus irritiert von diesem seltsamen und äußert untypischen Verhalten. Langsam aber sicher bekam sie es mit der Angst zu tun.
"Noah?"
Der große Brünette atmete gezwungen ein und aus. Es machte den Eindruck, als müsste er sich verzweifelt bemühen, nicht die Fassung zu verlieren.
"So schlimm?"
"Ich dachte ... Ich dachte, der erschießt mich. Dabei habe ich nicht mal was davon gesagt, dass David und ich ... Aber ..."
"Dann ist es kein Missverständnis? Oder Kommunikationsproblem, oder so?"
"Nein. Davids Vater weiß, wie schlecht es ihm geht. Er will schlicht und einfach nichts mehr mit ihm zu tun haben."
"Kann man ihn nicht zwingen? Am Kragen packen und ins Krankenhaus schleifen?" Hätte man Emmas Gemütszustand in diesen Minuten als fassungslos bezeichnet, wäre das noch stark untertrieben gewesen.
"Niemand kann ihn zwingen. Er macht es freiwillig, oder gar nicht."
Sie suchte sichtlich nach Worten. Oder etwas das sie tun könnte, um Noah zu helfen eine Lösung zu finden, als es klingelte. Er schüttelte den Kopf, erleichtert dieses Thema nicht weiter besprechen zu müssen und stand auf um zu öffnen. Wer konnte das sein, so spät?
"Gott. Diese Bahnreisen machen mich fertig! Der Service lässt deutlich zu wünschen übrig. Ich brauche einen Drink! Sag bloß mein Lieber, du hast es endlich geschafft abzunehmen?", schallte es ihm, für seine Ohren zusammenhanglos und ohne jede Atempause entgegen.
"Lui?!"
Neugierig durch diesen überraschten Ausruf Noahs, war auch Emma dazu gekommen und dem Burschen vor der Tür sofort kreischend um den Hals gefallen.
"Süße", dessen Freude darüber, unverhofft die Cousine seines Mannes vor sich zu sehen, war groß und echt. "Du hier? Ich hatte keine Ahnung!"
"Lui?", versuchte Noah mit einem bangen Blick auf einen erschreckend großen Koffer, das Gespräch auf etwas Wesentliches zu lenken. "Hast du vor, länger zu bleiben?"
"Ich habe eine komplizierte Operation hinter mir." Theatralisch seufzend, griff Lui sich sein Gepäck und spazierte damit in die Wohnung. "Genau da", deutete er auf ein kaum sichtbares, hautfarbenes Pflaster auf seinem Hals, "wurde mir kürzlich ein Muttermal entfernt! So kann ich doch unmöglich unter Menschen gehen! Deshalb dachte ich, ich komme hier her!"
"Ja, das ..."
"Freut dich. Ich weiß." Wie selbstverständlich entledigte der kleine Asiate sich seiner Jacke und steuerte zielstrebig den Kühlschrank an. "Sag bloß, du hast nicht an Erdbeeren gedacht?!"
"Ich denke an nichts anderes."
"Sarkasmus ist nur was für Siegertypen, Schatz", wies er den Größeren umgehend zurecht. "Also?"
"Nein. Leider." In Noahs Mundwinkel schlich sich ein Lächeln. Kannte er den Wirbelwind doch schon viele Jahre und wusste nur zu gut, dass sich hinter seinem äußerst exzentrischen Auftreten ein zwar chaotischer, aber auch durch und durch liebenswerter Charakter verbarg. "Ich konnte ja nicht wissen, dass du heute bei mir noch einen Daiquiri mixen willst."
"Mit mir muss man immer rechnen."
"Ich werde es mir merken."
"Das will ich hoffen. Prosecco?"
"Bedien dich ruhig."
Noah hatte erklären müssen, dass im Gästezimmer bereits Emma schlief, weshalb nur die Couch im Büro noch blieb. Begeisterung erntete er dafür freilich keine. Die Gegebenheiten waren aber nun mal so, da half alles Rumzicken nichts. Er ignorierte das ohnehin gewohnheitsmäßig.
Selten war Noah so froh gewesen, Lui in seinen vier Wänden zu wissen. Der Bursche war anstrengend wie kaum jemand sonst, aber er würde für Ablenkung sorgen und Emma erst mal davon abhalten, weitere Fragen zu stellen. Es gab auch nichts weiter zu sagen.
Der Hausherr nutzte die Gunst der Stunde und entschuldigte sich. Er war wirklich am Ende. Dieser Tag hatte ihn geschafft.
"Ach, du lieber Gott", stellte Lui pragmatisch fest, als er mit Emma alleine war. "Er sieht furchtbar aus!"
"Er leidet."
"Bist du deswegen hier, Süße?"
Sie nickte. "Ich mache mir riesen Sorgen. Habe ich ihm natürlich nicht gesagt. Er denkt, ich mag so kurz vor dem Geburtstermin nicht mehr alleine sein. Dabei belassen wir es auch, verstanden?"
"Ich kann sehr wohl Geheimnisse für mich behalten, ja?!", regte er sich auf. "Ich bin sogar die Verschwiegenheit in Person! Und jetzt erzähl mal. Was ist hier los?"
Die junge Frau seufzte tief. "Noah war heute bei Davids Vater."
"Deinem Tonfall entnehme ich nichts Positives?"
"Du sagst es."
"Seinem Goldstück geht es nicht besser?", fragte Lui nach einer Weile. Er hatte Angst vor der Antwort. Jeder von Noahs Freunden, wie weit weg sie auch waren, wusste von Davids Erkrankung.
"Nein. Es wird immer blöder."
"Braucht er Stammzellen?"
"Ja."
"Scheiße."
Das traf es es erstaunlich präzise. Emma schaute grübelnd in ihren Tee. Nein, sie hätte es nicht treffender ausdrücken können.
"Gibt es dafür nicht eine Datenbank?"
"Keine Übereinstimmung. Und sein Vater lässt ihn hängen."
"Würde der passen?"
Sie zuckte mit den Schultern. "Das weiß keiner. Wäre zumindest eine Chance."
"Gibt's ja gar nicht! Ich meine ... was hat der Typ für ein Problem?! Hat er lieber einen toten Sohn als ..."
Emma kaute nervös auf einem ihrer Fingernägel. Ja, das war wohl so. Sie hatte sich bisher nur nicht erlaubt, es auszusprechen. Lui entschied sich ebenfalls dagegen und sagte eine halbe Flasche Prosecco lang kein Wort mehr. Ein fast schon geschichtsträchtiges Ereignis.
"Verdammtes Arschloch!", platzte es schließlich wutschnaubend aus ihm heraus. "Der lebt vermutlich in so einer watteweichen Dorf-Idylle und passt immer schön auf, dass ja die Nachbarn nichts zum Reden bekommen. Hauptsache, nicht auffallen! Garantiert hält der sich selbst für perfekt! Als ob der ..."
"Was wolltest du gerade sagen?", fragte die junge Frau nach.
"Ich meine ja nur, es soll gefälligst jeder erst mal vor seiner eigenen Tür kehren, bevor er einen Stein wirft!"
"Lui?" In Emmas Kopf begann es fieberhaft zu arbeiten. "Das ist es!"
"Ja?" Überaus angetan von dem Gedanken etwas Wichtiges beigetragen zu haben, was auch immer es sein mochte, rutschte Lui aufgeregt hin und her. "Was habe ich denn gesagt?!"
"Wir tauschen!", entschied sie resolut. "Du nimmst das Gästezimmer! Ich brauche das Homeoffice!"