Es war schwer zu erklären. Und sicher nicht das, was David erwartet hatte. Er hätte sich doch erleichtert fühlen müssen. Aber das war nicht so. Die ersten Tage war es noch ganz okay gewesen. Dann war es immer schwieriger geworden mit Schlafen. Von da an hatten die Gedanken in seinem Kopf noch viel mehr Zeit gehabt, ihm das Leben zu vermiesen.
Das war aber kein Grund, sich zu benehmen wie ein Vollidiot.
Noah hatte angerufen. Sicher drei oder vier Mal in den ersten Tagen. Dann nicht mehr. Kein Wunder, er hatte ja auch keine Antwort bekommen. Inzwischen waren mehr als zwei Wochen vergangen. Mit jeder weiteren Stunde würde es schwieriger werden, diese Funkstille zu erklären. David alleine war dafür verantwortlich. Und nur, weil er feige war. Weil er ihm auf keinen Fall sagen konnte, dass er andauernd über die Frau nachdenken musste, die sie beide für mehr als Freunde gehalten hatte. Und an ihre Erklärung, wie sie darauf gekommen war. Was sie sich eingebildet hatte, gesehen zu haben.
Noah hatte auch kein Wort darüber verloren, obwohl er es gehört haben musste.
Es gab mehrere Möglichkeiten. Die wahrscheinlichste war, dieser Unsinn war so wenig erwähnenswert, dass Noah ihn längst vergessen hatte.
David war sich nur schon lange nicht mehr sicher, ob es wirklich das war was er hören wollte, würde er fragen.
Du weißt wo ich bin, wenn du es dir anders überlegst.
Wusste er und hatte er. Weil es so wie es jetzt war, zwischen ihnen nicht bleiben durfte.
Noah hatte einen langen Arbeitstag gehabt. Und echt keine Lust mehr, zu kochen. Daher hatte er spontan beschlossen sich etwas bei dem Italiener zu holen, der unweit seiner Wohnung in der Altstadt lag. Das war sehr praktisch. Gerade an Tagen wie heute. Die Aussicht auf Pasta, vorzugsweise schon im gemütlichen ich-bin-zuhause-und-mache-keinem-mehr-die-Tür-auf-Look war gar nicht schlecht. Sein Fernseher würde ihm Gesellschaft leisten. Gechillt. Alles bestens.
Oder er machte sich selbst etwas vor. Er hatte zuletzt vor über zwei Wochen mit David gesprochen. Er reagierte nicht auf seine Anrufe, öffnete die Wohnungstür nicht. Vielleicht war er aber auch wirklich nicht zuhause gewesen. Selbst wenn doch, wenn er die Zeit für sich alleine brauchte, sollte er sie haben. Dennoch fehlte er ihm von Tag zu Tag mehr und Noah wurde deswegen zunehmend unruhig. Was, wenn sich nichts daran änderte? Wenn der Andere ihm weiterhin aus dem Weg ginge? Für immer? Was dann?
Eine Stimme die Noah gut kannte, riss ihn aus seinen Gedanken. Xavier setzte umgehend sein typisches, charmantes Lächeln auf. Wenn es diesmal auch ein wenig gezwungener aussah, als sonst. "Na, Lieber", fragte er und küsste den Größeren auf beide Wangen, "es freut mich, dich zu treffen! Warum sehe ich dich so selten?"
"Du siehst mich doch gerade", antwortete Noah ihm schmunzelnd. "Täusche ich mich, oder bist du verärgert?"
"Vor dir kann ich nichts verbergen, nicht wahr?" Xavier wischte sich seufzend eine seiner rabenschwarzen Locken aus dem Gesicht. Er öffnete seine Jacke, unter der ein vollgekleckertes Kleidungsstück zum Vorschein kam. "Ich war eben in einem Restaurant und bekam eine großzügige Portion Ketchup ab! Der Bengel wollte seine Mutter treffen. Ist mir aber kein Trost. Ich habe in zwanzig Minuten einen Termin. Ich schaffe es unmöglich noch nach Hause um mich umzuziehen. Eine Katastrophe! So kann ich mich keinesfalls sehen lassen."
Ja, es hatte ihn voll erwischt. Noah konnte ihn durchaus verstehen. "Ich wohne nur ein paar Schritte von hier. Wenn es dir hilft, gebe ich dir ein sauberes Hemd. Keines von meinen", winkte er lachend ab, weil Xavier ihn amüsiert anblinzelte. Dass sie beide nicht die gleiche Größe hatten, war unmöglich zu übersehen. "Aber ich habe zwei hängen, die dir passen sollten."
"Du rettest mir das Leben!"
Mit größtem Interesse ließ der hübsche Mann seinen Blick durch das riesige Penthouse schweifen. Es war also wahr, was man sagte. Die Wohnung passte zum Auto. Nun, was ihn betraf, hatte daran nie ein Zweifel bestanden. Menschenkenntnis gehörte praktisch zu seinem Berufsbild. Und Noah war eben ein wandelndes Understatement.
"Schlafzimmer", meinte der knapp und deutete ihm die Treppe nach oben zu folgen.
"Dass ich das einmal von dir höre!"
Lachend reichte der Größere ihm die beiden Oberteile, die in Frage kamen. "Hier! Die sollten gehen."
Zielsicher griff der Dunkelhaarige nach dem Beerenfarbenen. In Windeseile streifte er es über. "Es ist perfekt." Das war es wirklich. Es passte ihm wie angegossen und die Farbe stand ihm ausgesprochen gut. "Wem gehört es?"
"Einem Freund."
"Deinem Freund?"
"Nein. Es sind Julians Hemden. Er hat bestimmt nichts dagegen, wenn du dir eines borgst."
"Dein Ex? Interessant. Sag, was ist eigentlich mit diesem hübschen Kleinen von neulich? David? Hieß er nicht so?"
Noah setzte sich auf sein Bett. "Es ist ... Ich weiß es nicht."
"Und ich verstehe dich nicht. Warum machst du es dir selbst so schwer? Du hast doch keine Schwierigkeiten, jemanden zu finden."
"Ich liebe ihn."
"Ach, herrje. Hast du ihm das gesagt?"
"Kann ich nicht."
"Worauf willst du warten?!"
"Bevor von ihm nichts kommt ... bin ich nicht sicher, was ich damit vielleicht anrichte."
"Und von ihm kommt nichts?"
Noah zuckte mit den Schultern. Er sah traurig aus.
"Ich bedauere sehr, dass ich so wenig Zeit habe. Es ist zu dumm, aber ich muss wirklich los! Vielen Dank für das Hemd, Noah. Du bekommst es nächste Woche zurück. Wir sehen uns doch am Dienstag? Wie immer?"
"Ich denke schon. Ja."
"Lass uns das Gespräch dann fortsetzen. Wenn du es möchtest. Und wenn ich mich erkenntlich zeigen kann ..."
"Ist wirklich nicht nötig."
"Was für ein Jammer!", seufzte Xavier betont theatralisch und lief lachend, das Hemd noch halb offen, die Treppe nach unten in Richtung Tür.
David musste nicht klingeln um ins Gebäude zu kommen. Die Hausmeisterin machte im Eingang sauber, darum war die Haustür schon geöffnet. Sie begrüßte den jungen Mann ehrlich erfreut. Er wechselte einige Worte mit ihr, erkundigte sich wie immer nach ihrem kleinen Hund, und entschied sich, die Treppe nach oben zu nehmen. Reine Zeitverzögerungstaktik. Wenn Noah sauer war und ihm gleich die Tür vor der Nase zuknallte, wäre es kein Wunder. Immerhin kannte der Mann genug Leute, die sich nicht so daneben benahmen. Die nicht so schwierig waren. Nicht erst allen Mut zusammennehmen mussten, um sich endlich mal wieder bei ihm sehen zu lassen.
Noahs Wohnungstür wurde nicht zugeknallt, sie wurde vielmehr von innen aufgerissen. David wich instinktiv zwei Schritte zurück. Diesen Kerl hatte er schon mal gesehen. Aber wo?
"Na, sieh mal einer an", meinte der Dunkelhaarige und zog dabei leicht eine Augenbraue hoch. "David, nicht wahr?"
Genau. Kino. Xaver? Xavier! Der Typ knöpfte sich in Zeitlupe ein Hemd über seinem perfekt trainierten, leicht Solarium gebräunten Oberkörper zu, während er David von oben bis unten in Augenschein nahm.
"Er ist noch im Schlafzimmer. Soll ich ihn rufen?"
Die Worte drangen langsam in Davids Innerstes. Sickerten ein, wie Wasser in Sand. Er hatte sie gehört, aber er konnte oder wollte sie nicht verstehen. Ihm wurde kalt und heiß zugleich.
"Ist dir nicht gut?" Das bereits bekannte, unergründliche Lächeln breitete sich wieder in Xaviers hübschem Gesicht aus. Und dann ging er auch noch ein paar Schritte auf den Rotblonden zu, sah ihn eindringlich an.
"Entschuldigung. Ich ... wusste nicht ..."
"Wir werden alle nicht jünger, nicht wahr?" Der Größere strich sich eine seiner wilden Locken aus der Stirn. "Wenn du einen Rat von mir willst, such dir auch beizeiten einen Mann, der dir den Lebensstil finanzieren kann, den du verdienst, Herzchen."
"Ich will keinen Rat", sagte David leise. "Und brauche keinen, der für mich sorgt."
"Sondern?" Das klang ebenso verwundert, wie aufrichtig interessiert.
"Nur einen, der mich liebt."
"Gott, wie niedlich!" Xaviers manikürte Finger streiften die Wange seines Gegenübers. "Liebe kommt, Liebe geht. Ein Scheidungsurteil mit Unterhalts-Vereinbarung besteht", zwinkerte er und drückte den Knopf des Liftes. "Merk dir das."
Nur ein sehr exklusiver Herrenduft war zurückgeblieben, nachdem der schöne Mann verschwunden war.
Davon hatte Noah nie etwas gesagt. Von dem.
Es war aber auch völlig naiv gewesen anzunehmen, es gäbe niemanden in seinem Leben. Er hatte nur nie darüber geredet, so einfach war das. Und die Frage, ob er für David wirklich mehr empfinden könnte als Freundschaft, hatte sich damit ebenfalls schlagartig beantwortet. Natürlich war da nichts! Er hatte seine Chance gehabt und sie nicht gewollt. Jetzt musste er damit leben, dass ein Anderer sie hatte.
Dass ein Anderer Noah hatte.
Xavier war äußerst zufrieden mit sich. Von wegen, da kommt nichts! Wie der Kleine mit aufeinander gepressten Lippen und geballten Fäusten da gestanden hatte, hatte er ausgesehen, als würde er jeden Moment auf ihn losgehen! Ein offenes Buch, aber ehrlich.
Noah würde sich freuen, das zu erfahren!