Wie schön das war! Sich sehen können ohne Gesichtsmasken. Einander berühren dürfen, ohne Handschuhe tragen zu müssen. David war zurück auf seiner Station und Noah konnte ihn gar nicht loslassen. Was sein Schatz ohnehin verhindert hätte. Die Stimme der Ärztin neben seinem Bett so gut es ging ausblendend, kuschelte er sich glücklich an, lauschte dem Herzschlag seines Liebsten und stahl sich zwischendurch immer mal wieder einen zärtlichen Kuss. Noah schmolz heimlich dahin.
Die Übertragung der Stammzellen war unspektakulär verlaufen. Es war rein optisch ein simpler Infusionsbeutel gewesen, wie David ohnehin fast durchgehend einen hängen hatte. Freilich war dessen Inhalt mit nichts sonst zu vergleichen gewesen.
Schlimm hatte sich angefühlt, was dem voraus gegangen war. Das was die Ärzte Konditionierung genannt hatten, und was nichts anderes als die komplette Zerstörung seines eigenen Knochenmarks bedeutet hatte. Und dann noch in verschärfter Einzelhaft, wie Nils zwinkernd gemeint hatte. Wegen der Ansteckungsgefahr. Schon wieder. Danach hatte auch der stets gut gelaunte Krankenpfleger nicht mehr zu David dürfen. Seine Kontakte waren auf nur noch sehr wenige Personen beschränkt worden, aber einer von ihnen war Noah gewesen. Jeden Abend hatte er für eine halbe Stunde zu ihm dürfen. Wer auch immer das entschieden hatte, der junge Mann würde ihm oder ihr ewig dankbar dafür sein.
Etwa zehn Tage nachdem sich die neuen Zellen in seinem Körper befunden hatten, war geschehen worauf alle gewartet und gehofft hatten. Sie hatten begonnen gesundes Blut zu produzieren.
"... und deshalb werden Sie im Anschluss direkt in eine Kur- Einrichtung überweisen."
"Bitte, was?!" Schlagartig war Davids Aufmerksamkeitslevel in ungeahnte Höhen geschossen. So richtig hatte er nicht mitbekommen, was die Ärztin vor seinem Bett über bedenklichen Allgemeinzustand und Erholung zu sagen gehabt hatte.
"Na", beruhigte die Ärztin ihn, "einige Zeit werden Sie uns bis dahin noch erhalten bleiben."
"Nein, ich will nicht!" Umständlich befreite er sich aus Noahs Armen und starrte die Frau entsetzt an. "Ich will nach Hause!"
"Denk erst mal darüber nach", versuchte der Mann an seiner Seite ihn zu überzeugen, "Das ist eine gute Sache um wieder Kraft zu sammeln. Das ist wichtig. Es wird dir dort sicher gefallen."
"Es gefällt mir daheim!"
Die Heftigkeit der Ablehnung war überraschend. Hilfesuchend blickte die Ärztin zu Noah.
"Nugget, ich war auch mal in einem Reha-Zentrum. Mir hat es unglaublich geholfen. Die Leute dort wissen genau was sie tun und was du brauchst", lächelte er so zuversichtlich wie nur möglich. Es wäre ihm ebenfalls lieber gewesen, David eher heute als morgen nach Hause bringen zu dürfen. Aber dass er in keiner guten Verfassung war, und man etwas dagegen unternehmen musste, war nicht von der Hand zu weisen. "Außerdem ist es kein Knast. Ich komme dich besuchen."
"Was ich brauche, weiß ich selbst! Und dazu gehört sicher nicht noch mehr Krankenhaus!"
"Das verstehe ich ja." Der Größere griff nach seiner Hand und drückte sie leicht. "Du musst das nicht sofort entscheiden."
"Also, eigentlich ...", begann die Frau, besann sich dann jedoch, seufzte einmal tief und beschloss ihr Glück lieber ein andermal wieder zu versuchen.
Mit funkelnden Augen sah David ihr hinterher.
"Ich habe etwas, das du mögen wirst", fiel Noah gerade rechtzeitig ein, um schnellstmöglich das unselige Thema zu wechseln. Er fasste in eine mitgebrachte Tasche und beförderte ein Foto in einem silbernen Rahmen ans Tageslicht, das er auf dem Nachtkästchen abstellte.
"Oh!" Davids Gesichtsausdruck wurde sofort weich. "Herbert. Auf deiner Couch." Der junge Mann griff nach dem Bild der Katze und betrachtete es sehnsüchtig. "Ich vermisse sie. Danke. Das hast du ganz besonders lieb ausgesucht." Traurig stellte er das vermeintliche Andenken zurück.
"Nein, du ..." Noah wirkte unsicher. "Es hätte zuerst eine Überraschung sein sollen. Aber ich glaube, du kannst etwas brauchen, worauf du dich freuen kannst. Ich habe da nur was nicht bedacht", murmelte er, während er aufstand und eine Nummer auf dem Handy anwählte. "Emma? Bist du noch da?"
Mehr hörte David nicht mehr, weil Noah das Zimmer verließ. Keine Minute später saß er wieder neben ihm und behielt dabei konzentriert sein Telefon im Auge. Tatsächlich kündigte nur wenig später ein leises Summen den Eingang einer Nachricht an. Ihr Empfänger nahm sie äußerst zufrieden zur Kenntnis.
"Schau, Nugget", freute er sich. "Noch eines."
"Ja", lächelte David. "So süß ... Moment mal." Ein genauer Blick auf das was neben dem Tier lag, ließ den jungen Mann den Atem anhalten. "Aber ... Das ist Luisa. Wie kann es sein, dass Luisa und Herbert gemeinsam auf einem Foto sind?" Abwechselnd schaute er Noah und dann wieder das Display an. Das konnte einfach nicht sein. Als Luisa geboren wurde, war die Katze längst nicht mehr da gewesen.
"Gesucht, gefunden", schmunzelte er.
"Herbert ist bei dir?" Fast tonlos kamen David diese Worte über die Lippen. "Seit wann?"
"Schon länger."
"Aber ... Warum?"
"Für dich. Weil du den kleinen Tiger lieb hast. Darum."
Gesucht, gefunden? Für ihn? Schon länger? Etwa schon bevor ein geeigneter Spender in Sicht gewesen war?
"Du ... hättest mich in jedem Fall hier rausgeholt, nicht wahr?" Die einzig logische Schlussfolgerung, nachdem die Informationen erst mal durchgesickert waren.
"Oh, Nugget." Noah war überhaupt nicht sicher, ob er dieses Gespräch führen sollte. Geschweige denn, ob er es je wollte. "Ich wusste doch, wie sehr die Katze dir fehlt. Du solltest Dinge um dich haben, die dir Freude bereiten. Bitte, denk nicht, ich hätte dich aufgegeben. Das habe ich nie, so war das nicht, ich ..."
"Ich liebe dich."
"Was?"
"Danke." David fiel Noah so heftig um den Hals, dass er nur mit Mühe nicht nach hinten kippte. "Einem Mensch wie dir bin ich noch nie begegnet. Du bist der beste von allen und ich liebe dich. Immer."
"Ich liebe dich auch immer." Noah atmete tief durch, zog David ebenfalls fest an sich und verharrte einige Minuten mit geschlossenen Augen. Vielleicht war es keine schlechte Idee, gleich noch etwas anderes loszuwerden, das ihm auf der Seele brannte. Wenn er schon bei der Wahrheit war. "Nugget, wegen ... ich muss dir was sagen."
"Du hast meinen Vater gefunden."
Der Schock stand seinem Gegenüber so deutlich ins Gesicht geschrieben, dass es für David schwer zu ertragen war. "Schon gut. Ich habe mich eh schon gefragt, wann du wohl damit rausrückst." Liebevoll nahm der Kleinere das Gesicht seines Liebsten in beide Hände. "Nein, es war diesmal keine undichte Stelle. Aber ich kann Eins und Eins zusammenzählen."
Dafür, dass Noah plötzlich keine Zeit mehr gehabt hatte, auch von Emma tagelang nichts mehr zu sehen gewesen war, musste es schließlich eine Erklärung geben. Und ein Spender aus der Datenbank? So plötzlich? Ja, hätte sein können. War aber eher unwahrscheinlich.
Seinen Schatz machte das vollkommen sprachlos.
"Du musst dir deswegen keine Sorgen machen", fuhr David leise fort. "Ich komme damit zurecht, wie es ist. Ich bin unendlich dankbar. Dir und ihm. Dass er mir geholfen hat, ist viel mehr, als ich jemals zu hoffen gewagt habe. Darüber hinaus erwarte ich nichts."
Sich zu wünschen, der Mann würde sich für ihn interessieren, wäre wohl weltfremd. Wenn sich irgendwann die Gelegenheit bieten würde ihm Danke zu sagen, nur das, eines Tages vielleicht, wäre es dennoch ein Geschenk.
"Genau deswegen muss ich mit dir reden. Max ruft mich jeden zweiten Tag an, um zu fragen wie es dir geht."
"Max?", blinzelte David.
"Dein Vater heißt Maximilian. Er möchte dich gerne kennenlernen, aber er wird nicht herkommen, wenn du es nicht willst."
"Ja?" Es war eine Mischung aus Erleichterung und Angst, die seinen Körper flutete bis in die Finger- und Zehenspitzen. Hitze und Kälte zugleich. "Weißt du sonst noch etwas über ihn?"
"Er lebt gar nicht so weit von hier, in Bayern, ist verheiratet und hat zwei Kinder. Er hat mich gefragt, ob ich mal vorsichtig in Erfahrung bringen könnte, ob du ihn überhaupt sehen willst?"
Das war nicht nur überraschend, das war surreal. Wie seine Nägel sich in Noahs Unterarme gruben, merkte David vor lauter Anspannung gar nicht. Diese Entscheidung traf er aus gutem Grund, noch bevor er Zeit hatte darüber nachzudenken.