"Nugget? Wo bist du denn?" Sichtlich überrascht betrat Noah Davids Wohnung. Eine Frau mit einer Aktentasche hatte von innen die Tür geöffnet, gerade als er klingeln wollte. Sie hatte kurz abschätzend zu ihm aufgesehen, hatte dann aber gelächelt und war zur Seite getreten, damit er vorbei konnte.
David saß im Badezimmer auf den Fliesen. Er hatte die Knie nah an den Oberkörper gezogen und verbarg sein Gesicht in einem Handtuch. Noah ging vor ihm in die Hocke und legte ihm eine Hand auf die Schulter. "Hey, alles in Ordnung?"
Ein paar Augenblicke brauchte der Goldschmied, um die Situation richtig einzuordnen. "Warum bist du denn hier? Waren wir verabredet? Habe ich was vergessen?"
"Nein, gar nicht. Ich möchte mich einfach nur bedanken."
"Wofür denn?"
"Lächelnd öffnete der Größere die flache Schachtel, die ihm David in eine Schublade gelegt haben musste. Es konnte niemand sonst gewesen sein. Sorgfältig auf Samt gebettet, befand sich darin jener Anhänger, den Noah damals kaputt auf einem Flohmarkt gefunden hatte. Das Schmuckstück erstrahlte im wahrsten Sinne des Wortes in neuem Glanz. "Ich habe das eben so gefunden und dich nicht einfach nur anrufen wollen! Du hast das repariert und verlierst kein Wort darüber?"
"War keine große Sache."
"Ich sehe das anders."
"Wirklich nicht der Rede wert. Habe ich gerne gemacht." David war blass und seine Bewegungen fahrig, als er das Handtuch zwischen seinen Fingern so fest zu einem Ballen presste, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Das kalte Wasser hatte nicht geholfen. Ihm war schlecht.
"Nugget. Sieh mich mal an." Noah legte das Schmuckstück auf dem Waschbecken ab, griff vorsichtig nach beiden Fäusten und umschloss sie mit seinen Händen. "Wer war das gerade?"
"Niemand."
"Aha." Er setzte sich ebenfalls auf den Boden und ließ den Anderen dabei nicht aus den Augen. "Und was hat Niemand von dir gewollt?", fragte er sehr ruhig.
Hier stimmte etwas ganz und gar nicht. David sah ihn weder an, noch machte er den Eindruck, als würde er etwas erzählen wollen. Er reagierte überhaupt nicht darauf, registrierte aber dann doch, dass Noah neben ihn rutschte und hob für einen Moment fragend den Blick.
"Ich kann ewig hier sitzen. Ich kann vielleicht alleine nicht mehr aufstehen", meinte der Brünette knapp und deutete dabei wage auf sein Knie. Es war zum Glück keine nennenswerte Verletzung, doch den Verband musste er noch tragen. "Aber das hier halte ich sehr lange durch. Wenn du also erst in ein paar Stunden darüber reden möchtest, ist mir das auch recht."
Wollte David nicht. "Was, wenn ich einfach gehe?"
Der Größere nickte, legte einen Arm um seine Schultern, griff mit dem anderen hinüber, zog eine Hand zu sich, neigte dabei leicht den Kopf in seine Richtung und flüsterte, "Versuch es."
War das sein Ernst? Ein scheues Lächeln huschte über das Gesicht des jungen Mannes. Er hätte trotzdem jederzeit aufstehen können. Noahs Griff war nicht annähernd fest genug, um das zu verhindern. Nicht ansatzweise. Die Situation war nicht mal ausreichend besorgniserregend, um Davids Fluchtinstinkt zu wecken. Und das wollte etwas heißen.
Aber das wusste Noah sicher auch selbst. Er war groß und kräftig. Er konnte bestimmt sehr gut einschätzen, wie viel es gebraucht hätte um den Anderen am Boden zu halten, wäre das tatsächlich seine Absicht gewesen. Eine ganze Weile saßen sie nur schweigend nebeneinander.
"Nugget? Wer war die Frau?"
Noah würde so schnell nicht aufgeben. Da kannte David ihn längst besser.
"Eine Anwältin", murmelte er abwesend.
"Und was wollte die von dir?"
Das Schulterzucken, das als Antwort kam, reichte wie befürchtet nicht aus.
"Sag bloß, der Typ hat dich angezeigt?"
"Wer?"
"Dieser Kerl, den du damals am Parkplatz vor dem Haus vermöbelt hast?"
"Nein", seufzte der Rotblonde. "Ich ihn. Darum ging es aber nicht. Oder ... nur entfernt. Ist schwierig zu erklären."
"Versuch es."
Seine Augen brannten, der Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Und ausgerechnet Noah musste ihn hier so sehen! "Roland, also mein Exfreund, muss sich nächste Woche wegen ... ein paar Sachen vor Gericht verantworten. Die Frau hätte gerne, dass ich aussage."
"Zu seinen Gunsten, oder was?"
"Nein. Sie vertritt die Gegenseite."
Noah überraschte das. "Aha? Und die Gegenseite ist in diesem Fall wer?"
Wieder schüttelte David nur den Kopf.
"Worum geht es denn bei der Verhandlung?"
Es war ohnehin nur eine Frage der Zeit gewesen. Und von Anfang an klar, dass dieses Leben nur geliehen war. Mitsamt dem kleinen bisschen Glück darin. Das gab es auf Dauer vielleicht für andere Menschen. Aber nicht für ihn.
Und doch war da ein kleiner Funken Hoffnung gewesen. Besonderes in letzter Zeit. Ganz tief drinnen. Bis eben noch. Jetzt nicht mehr.
"Gemeinschaftliche Körperverletzung, Freiheitsberaubung, Nötigung." Seine Stimme war beängstigend tonlos. "Und Vergewaltigung."
"Bitte, was?"
"Der Junge der ihn angezeigt hat, hat schlechte Karten. Es wurde nicht mal U-Haft verhängt. Sie behaupten, es wäre einvernehmlich gewesen. Er hätte das gewollt. Bei zwei gegen einen ist es schwer, das Gegenteil zu beweisen. Wenn der Richter es ihnen glaubt, bleibt nur die Körperverletzung. Der Rest ist vom Tisch. Sie gehen wahrscheinlich mit Bewährung nach Hause."
"Sie?"
"Mhm."
"Also ... Roland und ...?"
"Ein Bekannter von ihm. Ich weiß nicht, was da Krankes zwischen denen läuft. Will es auch nicht wissen."
"Okay. Wie kommt die Frau auf dich?"
"Sie hat ihren Job gemacht. Hat herausgefunden, dass ich eine Zeit lang mit Roland zusammen war, dass ich von einem Tag auf den anderen aus Augsburg abgehauen bin und alle Kontakte abgebrochen habe. Zu jedem. Nicht, dass es viele gewesen wären. Ein Privatdetektiv hat meine Adresse gefunden. Eines Morgens stand dann jemand von der Kanzlei vor meiner Tür."
"Wann war das?"
"Ist schon länger her. Das genaue Datum weiß ich nicht mehr. Aber ... ein paar Stunden später bin ich dir begegnet."
Noah schloss die Augen. Gerade begann er so vieles zu verstehen. "Okay." Auch, wenn er Angst hatte zu fragen, er musste das wissen. "Und ... was will sie jetzt genau von dir?"
"Was glaubst du denn, was sie von mir will?" Sein Lachen klang bitter. "Ich soll mich hinsetzen und erzählen was die mit mir gemacht haben."
"Mit ... dir?"
"Der Junge sagt die Wahrheit, ich weiß es. Er tut mir leid. Er ist gerade mal neunzehn Jahre alt. Er ist mutiger als ich. Er hat sich getraut, die beiden anzuzeigen. Ich nicht."
"Nur, damit ich das nicht falsch verstehe, Nugget. Das alles, wofür sie jetzt vor Gericht stehen ... haben sie mit dir auch gemacht? Und du warst die ganze Zeit alleine damit? Warum, um Gottes Willen, hast du keinem etwas davon gesagt?"
"Kannst du dir denn nicht vorstellen, wie sehr ich mich schäme? Wie ginge es dir denn, wenn du über so was reden müsstest? Ich will das einfach nur vergessen. Ich bin ja auch selbst schuld."
"Wie kommst du denn auf diesen Unsinn? Du glaubst doch nicht wirklich, dass du etwas dafür kannst!"
"Wir waren an diesem Abend in einem Club. Haben richtig Spaß gehabt. Gefeiert. Getrunken. Ich auch. Ich habe mir nichts dabei gedacht, als Roland seinen Kumpel noch mit zu mir genommen hat. Und ich hätte dem auch nie zugetraut, dass er ... so drauf ist. Oder dass die zusammen so was abziehen würden. Niemals. Roland ist ... nur ein Kontrollfreak, hat höchstens mal zugeschlagen, wenn was nicht so gelaufen ist, wie er es sich vorgestellt hat. Aber dieser andere Kerl ... Boah. Der ist ein echt perverses Arschloch."
"Trinkst du deshalb nie was?", fragte Noah vorsichtig.
"Wenn ich es gelassen hätte, hätte ich vielleicht eher gemerkt, was die vorhaben. Dass da irgendwas nicht stimmt. Keine Ahnung."
Längere Zeit sagte keiner mehr etwas. David, weil er sicher war, dass er schon viel zu viel gesagt hatte. Und Noah, weil er einfach nicht wusste was er darauf antworten sollte. Er hielt den Kleineren nur fester. Nicht mit Absicht. Es war ein Reflex.
"Nugget? Was wirst du jetzt tun?"
"Weiß nicht. Ich habe gehofft dass diese Anwälte mich in Ruhe lassen, wenn ich wenigstens beweise, dass Roland gewalttätig ist. Es genügt aber nicht."
"Moment mal. Was meinst du damit?"
"Ich habe dafür gesorgt, dass er wieder zuschlägt."
"W..."
"Bitte. Er hätte mich nie gefunden, wenn ich es nicht gewollt hätte."
"Wie kommst du denn auf so eine verrückte Idee? Was hast du gemacht?"
"War einfach. Ich bin nach Augsburg gefahren, habe mich eine Viertelstunde in seine Stammkneipe gesetzt und total naiv mit dem Barkeeper geflirtet. Dem habe ich alles erzählt, was er wissen musste. Ich bin sicher, Roland hat noch am selben Abend erfahren, wo ich bin. Kurz darauf stand er wie beabsichtigt bei mir auf der Matte. Das Ergebnis hast du gesehen."
Noah holte erst mal tief Luft. "Das war Absicht?"
"War es", nickte David. "Halte ich aus, dachte ich. War ja nicht das erste Mal. Obwohl ich zugeben muss, dass der Plan eine kleine Schwäche hatte. Ich habe nämlich nicht damit gerechnet, dass er gleich versucht mich umzubringen. Wenn er gewusst hätte, dass ich es darauf angelegt habe ihm was anzuhängen, hätte er es sicher getan. Sein Zorn war auch so schon grenzenlos. Weil ich die Frechheit besessen habe, mich zu wehren."
Der Größere schaute ihn nur noch entsetzt an.
"Ich habe mich außerdem für gut vorbereitet gehalten. War leider der zweite Irrtum. Wenn du nämlich so hart getroffen wirst, dass alles schwarz wird vor dir, ist es praktisch vorbei. Das findest du blöderweise im Training nicht raus. Wie auch immer. Funktioniert hat es ja trotzdem, danach bin ich wie vorgesehen zur Polizei gegangen. Als Roland nach einigen Wochen wiederkam, war er wahnsinnig liebenswert. Er entschuldigte sich sofort, sagte mir wie leid ihm alles täte. Na ja, das Übliche."
"Er wollte, dass du die Anzeige zurück ziehst?"
"Ja. Auch wenn das eine mit dem anderen nichts zu tun hat, wird es doch zur Sprache kommen."
"Das war an dem Abend, an dem Tom da war."
"Ja. Ist aber nicht so gelaufen, wie Roland sich das vorgestellt hat. Ich kann aus Fehlern durchaus lernen und habe ihm keine Chance mehr gegeben. Habe ihn danach nicht wieder gesehen."
Noah war nicht weniger zornig, als fassungslos. Er suchte nach Worten, fand aber keine die ausdrücken hätten können, wie hilflos er sich gerade fühlte. Für den Moment war er glücklich, nur so sitzen zu können. David im Arm zu halten. Der Verdacht, dass das sowieso besser war, als weiter über diese Sache zu reden, erhärtete sich ohnehin von Minute zu Minute mehr. "Wo wir gerade beim Thema sind. Warum sehe ich Herbert nicht? Sie kommt sonst immer zu mir."
Unendlich traurig schüttelte der Kleinere den Kopf. "Nicht mehr da."