Noah, der am Haupteingang des Kino-Centers gewartet hatte, bemühte sich um ein Lächeln. Er war nicht sicher gewesen, ob David wirklich kommen würde. Jetzt stand er vor ihm und alles war so seltsam. Der große Brünette hatte sich lange überlegt, wie er mit der Situation umgehen sollte. Die letzten Tage hatte er über nichts anderes mehr nachgedacht. Nicht, dass es in den Nächten besser ausgesehen hätte.
Um all den quälenden Fragen aus dem Weg zu gehen, wäre einfach nicht aufzutauchen eine Möglichkeit gewesen. Daheim bleiben und heimlich die Wunden lecken, die ihm ein Geräusch aus einem verschlossenen Zimmer zentimetertief ins Fleisch gerissen hatte. Das wäre gegangen. Aber es hätte nichts besser gemacht. Und auch nichts geändert. Aber woran eigentlich? Was wusste er schon? Das waren doch alles im Grunde nur haltlose Vermutungen.
"Du hättest nicht alleine kommen müssen", startete Noah schließlich den zaghaften Versuch einer Aufklärungsmission.
"Bin ich gar nicht. Ich habe Nevena schon im Bus getroffen."
Diese Antwort brachte leider kein Licht ins Dunkel.
Die Team-Assistentin ließ Davids Hand los und verkündete fröhlich, "Ich geh schon mal die Karten abholen!" Sofort lief die junge Frau in Richtung der Kassen und stellte sich in eine Schlange. Die längste.
Seit er den Anderen entdeckt hatte, lächelte der Goldschmied auch ein wenig. Und wirkte dabei gar nicht mal so angespannt wie zuvor immer. Er sah überhaupt gut aus, trug wieder eine Hose, die ziemlich ins Auge stach. Das schien ein Faible von ihm zu sein.
"Noah!" Ein Mann, Mitte bis Ende zwanzig vielleicht, schlenderte lässig auf den Brünetten zu und küsste ihn auf beide Wangen. "Lange nicht mehr gesehen, ich freue mich."
"Viel Arbeit in letzter Zeit. Du weißt ja, wie das ist."
Der Lockenkopf zog eine Augenbraue hoch, und begann David mit interessiertem Blick zu mustern. "Willst du uns vorstellen?"
"Xavier, David", reagierte Noah knapp, weil sein Handy gerade klingelte. "Entschuldigt, da muss ich schnell rangehen." Er lief einige Schritte in Richtung Ausgang, wo es ruhiger war.
Der Rotblonde sah sich den Mann, der noch immer vor ihm stand, verstohlen an. Er war sehr gut angezogen, hatte manikürte Fingernägel und trug eine sündhaft teure Uhr. Sein ebenmäßiges Gesicht wurde von wilden, rabenschwarzen Locken eingerahmt. Es war im Grunde der Gesamteindruck, der ihn äußerst attraktiv erscheinen ließ. Die Art, wie er sich gab, wie er redete, sich bewegte. Dieses Lächeln, das nicht ganz zu ergründen war.
"Noah, hm?", wandte der Kerl sich an den Kleineren. "Gute Partie."
David war sich nicht ganz sicher, was das zu bedeuten hatte. Nevena hatte letzten Sonntag erklärt, dass die Firma klein war und noch am Anfang stand. Sie konnten es sich nicht leisten, so hohe Gehälter zu zahlen wie die Konkurrenz. Es waren wohl andere Dinge, die die Angestellten in diesem Unternehmen hielten.
Dass Noah nicht großartig viel verdiente, wusste der Goldschmied also längst. Das überraschte ihn nicht. Er hatte das spätestens in der Werkstatt vermutet. Um ehrlich zu sein, hatte der Brünette für ihn auch zuvor nie den Eindruck gemacht, als würde er zur High Society gehören. Eben zu jenen Schönen und Reichen, die sich all die Dinge leisten konnten, die in den Auslagen exklusiver Juweliere lagen. Er sah weder so aus, noch verhielt er sich so. Der Mann war einfach ganz normal. Und wenn es nach David ging, war das ziemlich gut.
"Ich liebe sein Auto", seufzte Xavier. "Ist es nicht toll?"
"Nun ... ich ... ja? Die Farbe ist mutig."
"Das stimmt allerdings. Da sieht man wirklich jedes Staubkorn. Warst du schon in seiner Wohnung?"
"Nein?"
"Zu dumm." Versonnen drehte er eine Haarsträhne um einen seiner Finger. "Ich auch nicht. Man sagt, sie passt zu seinem Wagen. Ich hätte zu gerne gewusst, ob es wahr ist." Noch immer betrachtete er den Goldschmied äußerst freundlich aber doch abschätzend, zückte schließlich eine Visitenkarte und gab sie David. Nur ein Vorname und eine Handynummer standen darauf. Sonst nichts.
"Danke?" Es war zwar nicht klar wozu das gut war, aber nett war es schon.
"Wir sehen uns", zwinkerte der Hübsche, wandte sich um und ging auf Noah zu, der eben sein Telefongespräch beendet hatte. Die beiden wechselten einige Worte, die David nicht verstehen konnte weil sie zu weit weg waren. Der Lockenkopf küsste den Anderen wieder und verschwand in Richtung Tiefgarage.
"Ist das auch ein Kollege von dir?", wollte der Kleinere wissen.
"Xavier?" Noah schien die Frage etwas zu amüsieren. "Ich fürchte, für seine Branche bin ich nicht hübsch genug."
"Und er für deine nicht intelligent genug", meinte Nevena trocken.
"Da wäre ich mir gar nicht mal so sicher", flüsterte der große Brünette nachdenklich.
Fröhlich wedelte sie mit den Karten. "Los, Jungs! Folgt mir unauffällig!"
Es waren Sitzplätze in einer der hinteren Reihen für sie reserviert. Leider würde weder Tom kommen können, der Dienst hatte, noch der ältere der Kollegen. Der hatte zu einer Beerdigung müssen.
David fand das schade. Er hätte sich gerne für das neue Bildbearbeitungsprogramm bedankt und sich ein wenig darüber ausgetauscht. Es war einfach toll! Nevena bat ihn durchzugehen. Der junge Mann ließ sich in den sechsten und letzen der Samt-bezogenen Sessel fallen.
Die Frau blieb am Gang stehen um Noah den Vortritt zu lassen. So würden die beiden nebeneinander sitzen. Perfekt! Von unten winkten begeistert die anderen drei. Der Brünette blieb stehen. So ein Mist. Was war der auch immer so höflich?!
Sowohl die Schwarzhaarige, als auch die Blonde begrüßten zuerst Noah und dann David, den das eher in Verlegenheit brachte, mit mehreren Küsschen. Der junge Mann in ihrem Schlepptau war unter einer Unmenge von Bechern und Tüten kaum zu sehen. Er nahm erleichtert neben David Platz und begann seine Schätze zu verteilen. Popcorn, Chips, Süßes, und Cola. Auch die anderen setzten sich. Nur Nevena stand unschlüssig am Rand. Sie musste sich etwas einfallen lassen und flüsterte in Richtung der anderen Frauen.
Kaum war das Licht ausgegangen, ging es los. Die Blonde beschwerte sich, weil vor ihr ein riesiger Kerl saß, über den sie nicht drüber schauen konnte. Der junge Kollege neben David tauschte mit ihr.
Die Schwarzhaarige wollte lieber am Gang sitzen, weil sie ganz wahrscheinlich gleich auf die Toilette müsste. Nach der Cola ganz sicher.
Nevena wollte aber da wo sie jetzt war nicht bleiben, weil eine Frau mit einer gewaltig aufgetürmten Frisur vor ihr hin und her wippte, die die Rothaarige nervös machte. Und so weiter.
Währenddessen versuchte David, der längst den Überblick über dieses Chaos verloren hatte, sich eine Wohnung vorzustellen, die zu einem himmelblauen Opel Corsa mit leicht verbeulter Karosserie passte. Es ging nicht.
Als endlich Ruhe einkehrte, mehrere Kinobesucher hatten sich schon beschwert, saß Noah neben ihm.
Der Brünette fand, er müsste etwas sagen. Aber wie? Ein lockeres Gespräch unter Freunden? Ihm vielleicht sogar versichern, dass er sich für ihn freu... Nein, das ginge echt zu weit!
Immer mal langsam. Sicher, da war jemand gewesen. Aber das bedeutete noch lange nichts. Das hätte irgendwer sein können. Oder nicht. Wollte er das überhaupt wissen? Dann lieber still sein.
"Noah?" Der Rotblonde blickte ihn verlegen an. "Kann ich dich was fragen?"
So viel zum Thema Schweigen. "Immer."
"Also du ..." Er atmete tief durch. So wie der Andere sich verhielt, so ruhig und irgendwie ausweichend, gab es definitiv ein Problem. Am wahrscheinlichsten war, dass er am Mittwoch doch etwas gemerkt hatte. Es wäre für den Goldschmied sicher am besten, die Karten auf den Tisch zu legen. Auszusprechen, was ihm Sorgen bereitete. Nicht, dass er darin geübt gewesen wäre. Aber es ging hier nicht um ihn. "Wirst du mich hinhängen?"
"Was?"
"Ja, weil ich ... also ich darf in meiner Wohnung eigentlich keine ..."
"Mitbewohner haben?" Das Wort war absichtlich so gewählt.
"Leider." Es war ihm gewaltig unangenehm. Das wenige Licht, das von der Leinwand zurückgeworfen wurde, reichte locker aus um das zu sehen.
Also doch! Nicht nur ein Besucher, nein, da wohnte sogar jemand bei ihm! Nun hatte Noah die Bestätigung für all seine Befürchtungen. Hätte er es nur gelassen. Dieses Gespräch fühlte sich schon jetzt wie emotionaler Selbstmord an. Harakiri! Oh ja, er spürte deutlich eine Klinge auf der Brust. "Das ist allein deine Sache." Der kalte Stahl bohrte sich ins Fleisch. "Wenn es dir gut geht damit", scheiße, tat das weh, "freue ich mich für dich."
Der Kleinere lächelte unendlich erleichtert. "Danke."
Atmen. "Wie lange denn schon?"
"Erst seit ein paar Wochen."
Blut ausspucken. "Große Liebe, was?"
"Auf den ersten Blick." Er sah so glücklich aus.
Die Klinge drehte sich. "Ah ... Aha."
"Ja. Herbert ist toll."
Tot.
Noah trank noch ein Glas mit ihnen allen und verabschiedete sich dann relativ schnell. Er hatte aber auch wirklich nicht gut ausgesehen. Seine Team-Assistentin wurde dadurch sichtlich in Unruhe versetzt. Für den Mann war am Montag ein Flug gebucht.
Unschlüssig hielt David am nächsten Morgen das Telefon in der Hand. Vielleicht sollte er einmal nachfragen, wie es ihm ging?