Emma hatte einen angestrengten Ausdruck im Gesicht und hielt sich krampfhaft mit beiden Händen an der Tür fest.
"Lui", versuchte sie so gelassen wie möglich zu klingen, "du darfst jetzt nicht hysterisch werden, okay?"
"Wer, ich? Wieso sollte ich?" Er war deutlich eingeschnappt. "Hysterie ist überhaupt nicht Teil meiner Persönlichkeit! Ich bin emotional extrem gefestigt, ein Fels in der Brandung! Das weiß jeder!"
"Okay. Ja." War gar nicht so einfach, zwischen den Schmerz-Wellen noch einigermaßen entspannt zu wirken. Währenddessen schon gar nicht. Jetzt, zum Beispiel! Emma krümmte sich. "Hör mir zu", stieß sie atemlos hervor. "Das Baby kommt."
Einige Sekunden brauchte er, bis die Nachricht durchsickerte. "Bitte was?"
"Jetzt!"
"Nein, nein", stellte er sofort entschieden klar, "der Termin ist erst in elf Tagen. Halt dich bitte an den Plan."
"Ich ... fürchte, ich kann nichts dagegen machen. Ich habe Wehen. Und bei der letzten Untersuchung war der Muttermund schon zwei Zentimeter offen, also ..."
"Na, dann mach ihn halt wieder zu", schlug er vor. "Und hör auf zu ... wehen."
"Ich kann nicht!"
"Kannst du nicht, oder willst du nicht?!"
"Lui!", schrie sie ihn an. "Ich erkläre dir das gerne mal genau, wenn ich mehr Zeit habe! Aber jetzt muss ich mein Kind zur Welt bringen!" Tränen des Schmerzes und der Verzweiflung traten in ihre Augen. "Ich brauche deine Hilfe!"
"Oh! Mein! Gott!" Wie befürchtet brach er in blanke Panik aus, rannte erst kopflos nach links, dann nach rechts. "Ich besorge Handtücher! Und heißes Wasser!", brüllte er.
"Wozu?!"
"Keine Ahnung! Das weiß ich aus dem Fernsehen!"
"War das eine Doku?", wollte Emma zur Sicherheit wissen.
"Nein. Doktor Quinn, Ärztin aus Leidensch..."
"Ruf einfach einen Notarzt!", flehte sie kraftlos.
Das Handy fiel ihm vor Aufregung aus der Hand, aber beim zweiten Versuch hatte Lui endlich die Rettungszentrale dran. Nachdem er der Person am anderen Ende der Leitung den Grund für diesen Hilferuf entgegen gekreischt hatte, wurde von ihm kaum weniger ruhig sein Name und die Adresse hinzu gefügt.
"Nein, sie hockt jetzt auf dem Boden und jammert!", beantwortete Lui eine an ihn gestellte Frage. "Ob sie atmet? Was sind Sie denn für ein Clown, natürlich atmet sie! Beeilen Sie sich gefälligst trotzdem! ... Wo? ... Ist das Ihr Ernst, ich soll ... Waaas?!" Vollkommen fassungslos schaute er auf Emma hinab, die erneut einen langgezogenen, gequälten Laut ausstieß. "Kommt überhaupt nicht in Frage, Sie kranker Freak! Geben Sie mir sofort Ihren Vorgesetzten! ... Nein ... Das mache ich nicht ... Ich sehe nicht nach! ... Auf gar keinen Fall! ... Was heißt, ich soll mich beruhigen?! Es geht hier um meine Freundin! Ich liebe sie, verdammt! ... Nein, ich bin natürlich nicht der Vater, wie kommen Sie denn darauf? ... Zum Mitschreiben: Das - tue - ich -nicht! ... Ja, das geht!", lenkte er schließlich ein und rannte umgehend in Richtung Ausgang. "Das hätten Sie auch gleich vorschlagen können, Sie Anfänger!", hörte Emma ihn noch schimpfen, als er bereits aus ihrem Blickfeld verschwunden war.
Generell hatte rein gar nichts was sie bisher mitgehört hatte zu ihrer Beruhigung beigetragen.
Nur wenige Minuten später, kam der junge Mann mit der Hausmeisterin zurück. Die Frau hatte nur Sekunden gebraucht, um zu sehen worum es ging.
"Bitte gehen Sie in den dritten Stock", sagte Sie betont gelassen, "klingeln Sie bei Sattler-Stolze und bitten Sie die Dame zu uns zu kommen." Sie kniete sich zu Emma auf den Boden, nahm ihre Hand und lächelte. "Keine Sorge, Mädchen. Gleich ist fachkundige Verstärkung da! Die SS war Hebamme, bevor sie angefangen hat, einen Ehemann nach dem anderen zu beerben", zwinkerte sie.
Emma fühlte sich sofort sicherer.
Frau Sattler-Stolze war dann auch wirklich schnell bei ihnen, entwendete dem hibbeligen Nervenbündel das Telefon und nahm die Sache in die Hand. Buchstäblich. Lui wurde blass.
"Vier Zentimeter", gab die ältere Frau an die Zentrale durch, verabschiedete sich mit einem knappen Gruß und legte auf. "Nicht pressen", wandte sie sich an Emma. "Es ist zu früh."
"Ich muss aber", weinte sie.
"Wenn die nächste Wehe kommt, sehen Sie nur mich an. Wir werden sie einfach gemeinsam veratmen, ja?"
"Einfach?"
"Es ist nicht leicht, dieses Gefühl zu unterdrücken. Ich weiß. Aber, Sie können das!", war die Nachbarin sich sicher. "Für Ihr Kind schaffen Sie das!"
"Jetzt", stöhnte Emma, die von der Hausmeisterin im Rücken gestützt wurde.
"Nicht pressen, nur atmen. Also, los." Die SS begann hechelnd nach Luft zu schnappen.
Was hatten die nur alle mit dem Atmen?! Gäbe es eine offizielle Liste mit dem Titel 'Dinge die Frauen wollen', wäre Sauerstoff offensichtlich ganz oben!
Emma machte tapfer mit. Lui, der viel zu fest ihre Hand hielt, auch.
"Prima", lobte die pensionierte Hebamme, "Sie machen das ganz toll."
"Dankeschön", freute der junge Mann sich aufrichtig. "Es funktioniert auch, ich fühle mich wirklich schon viel besser!"
Seiner Freundin entkam trotz allem ein Lacher.
Nun saß Noah da also. Mitten in der Nacht, in einem Familienzimmer auf der Geburtsstation und wiegte ein schlafendes Neugeborenes in den Armen. Er musste unwillkürlich an Herbert denken. Die Katze war deutlich schwerer gewesen. Es war ein wunderbares Gefühl, dieses ruhige, zufriedene Kind anzusehen. Vielleicht war es auch nur erschöpft? Er musste schmunzeln. Es konnte sicher auch anders. Noah kannte das von seinen Neffen. Kaum zu glauben, wie laut und energisch ein gerade mal knapp über drei Kilo schweres Menschlein seine Interessen vertrat, wenn es erst mal richtig wach war.
Emma war in einem der Badezimmer und würde sicher bald zurück sein.
"Entschuldigen Sie", bat der Mann eine Hebamme um Auskunft, die eben lächelnd nach dem Rechten sah. "Einer meiner Freunde müsste eigentlich hier sein. Er hat mich angerufen. Eher klein. Sportlich. Asiate. Haben Sie ihn gesehen?"
"Oh, ja", fiel ihr ein, "ich denke schon, so einer war vorhin hinter einer sehr hübschen Schwester her."
"Hm", schüttelte Noah nicht überzeugt den Kopf. "Das ist er nicht."
"Ihm passte wohl irgendwas an der Farbe der Baby-Armbändchen nicht", überlegte sie.
"Doch, das ist er."
Weit konnte Lui also nicht sein. Emma kam in einem Nachthemd zurück und setzte sich auf die Bettkante. Schweigend betrachtete die junge Frau ihren besten Freund. So entspannt hatte sie ihn lange nicht mehr gesehen. Ein schönes Bild. Es sah alles richtig aus. Wie Familie. Aber das war es natürlich nicht. Und genau das machte sie unendlich traurig.
"Wie fühlst du dich?", fragte er leise.
"Ging mir schon mal besser." Sie rang sich ein Lächeln ab. "Keine Ahnung, wie Kate Middleton das gemacht hat, ein paar Stunden nach der Geburt den Fotografen vor der Klinik zu winken und dabei auszusehen wie aus dem Ei gepellt."
"Das verlangt doch keiner."
Emma presste die Lippen aufeinander.
Er stand aus seinem Sessel auf, gab ihr das Kind, nahm neben ihr Platz und legte einen Arm um beide. "Das ist nur die halbe Wahrheit, stimmt's?"
Ja, stimmte. Sie schloss die Augen und lehnte sich gegen ihn. Es war ihr herzlich egal, was alle anderen dachten. Aber Noah? Wie lange hatte er das Baby schon angesehen? Warum sagte er nichts?
"Wissen Sie, was uns überhaupt nicht weiterbringt?", hörten sie Lui draußen zetern, nachdem irgendwo eine Tür aufgegangen war. "Dieser Ton, Schätzchen!"
"Hören Sie", verteidigte sich entrüstet eine zweite Stimme. "Ich leite diese Station seit fünfzehn Jahren, aber noch nie ..."
"Apfelgrün ist das neue Babyblau! Und dieses Schweinchenrosa! Also tut mir leid, geht gar nicht!"
"Junger Mann." Die weibliche Stimme bebte gefährlich. "Ich bin Ärztin, und ..."
"Und ich bin Fitnesstrainer!"
"Dann dürfte ja wohl klar sein, wie die Kompetenzen verteilt sind!"
"Endlich sehen Sie es ein!"
"Zwingen Sie mich nicht, den Sicherheitsdienst zu rufen!"
"Wenn Sie mich rausschmeißen, verklage ich Sie! Und wenn es mich alles kostet, was ... mein Mann hat!"
Die Stimmen entfernten sich wieder, Emma begann unweigerlich zu kichern. Noah ging es nicht anders. "Dann gehe ich ihn besser mal einfangen", beschloss er seufzend. "Ruh dich aus, Süße. Ich komme morgen wieder."
"Ja." Emma wischte sich eine Träne aus dem Gesicht. "Noah?"
Vor ihr stehend, legte er liebevoll eine Hand an die Wange seiner besten Freundin. "Dieses Kind ist wunderschön. Es ist vollkommen." Fest sah er ihr in die Augen. "Lass dir nie etwas anders einreden."
"Ja?"
"Natürlich." Es gab überhaupt keinen Zweifel daran, dass er es auch so meinte. "Unser Mädchen sieht aus, wie du", schmunzelte er. "Nur eben ... in etwas anderen Farben."