Völlig fertig stürmte David ins Haus und sofort die Treppe hoch. Mit vor Anstrengung zitternden Händen schloss er seine Wohnungstür im ersten Stock auf. Drinnen versetzte er ihr einen gezielten Tritt, durch den sie zurück ins Schloss fiel. Von dem ohrenbetäubenden Knall hatten sicher auch die Nachbarn noch etwas. Der junge Mann zuckte sofort zusammen. Die Lautstärke hatte er eindeutig unterschätzt. Er ließ den Rucksack noch im Vorraum auf den Boden fallen und setzte sich, am Ende seiner Kräfte, den Rücken an den Schrank gelehnt, daneben.
Was für ein Tempo! Und da hieß es immer, sportliche Höchstleistungen wären ohne Doping gar nicht möglich. Von wegen!
In freudiger Erwartung eines knusprigen Snacks kam die Katze aus dem Wohnzimmer gelaufen. Sie schien hocherfreut über Davids Auftauchen und strich ihm schnurrend, seine aufgelöste Gemütsverfassung weitestgehend ignorierend, um die Hosenbeine.
"Du glaubst nicht, wen ich eben getroffen habe", rang er nach Luft, griff dabei nach seinen Sachen und begann darin nach dem Handy zu wühlen, das er sicher dabei gehabt haben musste. Er fand es nicht.
Der kleine Tiger wirkte äußerst aufmerksam und gespannt. Kein Wunder. Er rechnete wie immer, mit was umwerfend Gutem. Vielleicht käme es diesmal aus der Tasche?
"Ich habe dir doch von diesem einen Kerl erzählt."
Herbert miaute ungeduldig.
"Genau der", nickte der Rotblonde. Dieses Tierchen hatte offenbar ein erstaunliches Gedächtnis. "Auf einmal stand er vor mir! Und ich Idiot rede auch noch mit ihm!"
David rappelte sich auf, hastete in die kleine Küche, griff nach einem Glas, füllte es hektisch mit kaltem Leitungswasser und stürzte es in einem Zug hinunter. Es half ein bisschen gegen das Brennen in der Kehle, aber nicht gegen die beängstigende Unruhe, die sich längst in seinem gesamten Körper breit gemacht hatte.
Auf lautlosen Pfoten war seine Mitbewohnerin ihm gefolgt.
Mit jedem tiefen Atemzug, auf den der junge Mann sich konzentrierte, fühlte er sich ein wenig besser. Immer ein und aus. Sich nur auf das Wesentliche zu beschränken, war sicher eine gute Idee. In diesem Fall Gleichgewicht und Sauerstoff. Na, bitte! Es funktionierte. Sein Herzschlag war schon nach kurzer Zeit wieder im Normalbereich. Ganz sicher.
Nun, vielleicht wäre jeder verantwortungsbewusste Kardiologe anderer Meinung gewesen, aber was verstünde der schon davon?!
"Weißt du, was mich am meisten stört?"
Unsanft und mit einem deutlichen Klirren landete das Kristall in der Spüle, es überlebte den Mordversuch erstaunlicherweise, und der junge Mann stützte sich mit beiden Händen auf der Arbeitsfläche ab.
"Dass er gar nicht mal so unrecht hat. Ich habe ihn wirklich in eine Schublade gesteckt. In letzter Zeit passiert mir das öfter. Bei den Jungs im Sportzentrum habe ich das auch getan. Und da habe ich mich gründlich getäuscht. Vielleicht irre ich mich wieder?"
Das Telefon lag neben neben der Obstschale. Super. Da hatte es wohl die ganze Zeit gelegen. Wenn also inzwischen jemand angerufen hätte, dann ... wäre keiner rangegangen. Und die Sache damit erledigt. Geklärt. Ein für allemal. Genau!
"Stell dir vor, er hat gesagt, ich hätte mir sogar das Lächeln abgewöhnt. Das ist ja wohl übertrieben. Oder? Findest du das auch?" Nervös biss David sich in die Unterlippe, schnappte sich das kleine Gerät und tippte bebend aber entschlossen das Display an. Doch nichts geregelt.
Besser wäre es natürlich gewesen! Warum er sich trotzdem irgendwie erleichtert fühlte, wusste er gerade auch nicht so genau.
"Ich glaube, ich war echt schon mal netter. Im Ganzen, meine ich." Genervt zog er an seinem verschwitzen Shirt, das ihm unangenehm am Oberkörper klebte. Die Haare am Kopf fühlten sich kaum besser an. "Ich mag mich im Moment nicht besonders. Ich muss duschen." Diese beiden letzten Sätze standen in keinem direkten Zusammenhang.
Herbert schien überhaupt nicht begeistert.
"Schau nicht so vorwurfsvoll." Um dem kleinen Tiger über das Fell streicheln zu können, ging der junge Mann in die Hocke. "Ich sage doch nur, so furchtbar ist der gar nicht", grummelte er leise. "Irgendwie. Aber erzähl das bloß nicht weiter! Um ehrlich zu sein, kommt der mir sogar ziemlich normal vor", fuhr er vorsichtig in seinen Überlegungen fort. "Mehr als ich. Ich meine ... ich rede mehr mit dir, als mit jedem sonst. Du weißt echt alles über mich! Hoffentlich schreibst du nie ein Buch", lächelte er. "Na, was ist? Magst du ein Leckerli?"
Mit wenigen Schritten war er im Vorraum, öffnete den Schrank und nahm eine kleine Packung aus dem obersten Fach. Was die Katze unbändig freute, weil sie natürlich sofort erkannte, was es war. Endlich! Sie bekam ausnahmsweise gleich zwei der geliebten, krossen Happen und fiel umgehend, mit fast jugendlichem Überschwang, darüber her.
"Was soll's", seufzte David schulterzuckend. "Du bist ja auch ein echt guter Zuhörer."
Das Tier beachtete ihn überhaupt nicht mehr. Kein bisschen! Sein Mensch merkte es sofort. "Ich möchte mal wissen, was da drin ist", flüsterte er mehr zu sich selbst, während er sich die Liste der Zutaten auf der Rückseite des knisternden Säckchens durchlas. Wirklich erhellend war das nicht. Egal. Glück war für jeden etwas anderes. Wenn es für einen von ihnen im Zoofachhandel erhältlich war ... umso besser.
"Gut. Ja, das ist einwandfreie Arbeit." Fred hatte sich die eingebauten Ersatzteile über dem Rand seiner Brille genau angesehen, hatte hier und da gezogen oder geklopft und war jetzt sichtlich zufrieden. "Das ist das Angenehme an alten Autos. Man braucht nur Werkzeug, um sie zu reparieren. Für die neuen braucht man einen Computer."
Noah lächelte. "Gut für mich."
"Ich komme halt mit einem Schraubenschlüssel besser zurecht, als mit einer Tastatur. Du scheinst mit beiden keine Probleme zu haben. Jede Generation hat ihre technischen Errungenschaften, das ist nun mal so, und es ist gut so. Aber ich habe den Anschluss an die euren schon lange verpasst. Es ist nicht mehr wichtig. In einem halben Jahr", freute der ältere Mann mit dem schütteren, weißen Haar sich, "bekomme ich meine Rente."
"Das ist schön. Hast du etwas Besonderes vor?"
"Ja und nein. Ich habe mir einen alten VW-Bus gekauft. Kein technischer Schnickschnack. Nur Mechanik. In abgelegenen Ecken der Welt ist das ein entscheidender Vorteil. Mit diesem Oldie werde zu meiner letzten Reise aufbrechen."
Der Jüngere sah besorgt auf den Anderen hinunter. "Warum sagst du das?"
"Oh nein", meinte Fred beruhigend und schüttelte den Kopf. "Versteh mich nicht falsch. Ich bin nicht sterbenskrank, oder so. Ich habe nur nicht vor, zurückzukehren."
"Dann willst du alles hinter dir lassen?"
"Ich will vor allem etwas vor mir haben. Den nie endenden Weg in das Abenteuer meines Lebens. Ich muss es tun. Ich möchte nicht sein, wie Mister Duffy."
"Sollte ich den kennen?"
"Er ist die Hauptfigur in einer Geschichte von James Joyce. Es geht darin um die Begleitumstände des Seins. Um den Kontakt mit sich selbst, im weitesten Sinne. Dieser Mann, Duffy, lebt sein ganzes Leben genau eine Tür neben seiner eigenen. Knapp daneben, eben. Verstehst du?"
"Durchaus. Seit wann planst du das schon?"
"Zu lange. Hätte ich die Idee sofort in die Tat umgesetzt, wäre meine Frau an meiner Seite gewesen. Sie ist schon vor Jahren verstorben. Nordafrika hat sie nie gesehen. Oder Nepal. Aber ich werde es sehen. Ich habe für sie zu lange gewartet. Ich werde diesen Fehler nicht noch einmal machen. Ich nannte es Vorsicht, doch wenn ich heute zurückblicke, dann sehe ich, es war nur Feigheit. Man darf ein Ziel nie aus den Augen verlieren und muss bereit sein, etwas zu wagen um es zu erreichen."
"Klingt einleuchtend. Schreib mir mal eine Ansichtskarte."
"Versprochen. Wer war das vorhin?"
"Was?"
"Der junge Mann auf dem Fahrrad."
"Oh. Er heißt David und arbeitet als Goldschmied in der Innenstadt."
"Kennst du ihn gut?"
"Nein, das nicht."
"Aber?"
"Ich möchte es gerne." Sicher war Noah ein wenig rot geworden. Seine Wangen fühlten sich zumindest so an.
Fred nickte. "Hast du ihm das gesagt?"
"Ja. Schon."
"Unsere Wünsche sind Vorgefühle der Fähigkeiten, die in uns liegen. Vorboten desjenigen, was wir zu leisten im Stande sein werden."
Der große Brünette blickte verwundert auf den Tankstellenpächter.
"Das ist nicht von mir", schüttelte der Alte sogleich den Kopf. "Johann Wolfgang von Goethe."
"Der muss es wissen."
"Gott träumt in den Dichtern, Junge. Sei mutig und folge deinem Herzen."
Ein Philosoph und Freigeist inmitten von Schmieröl und alten Autoreifen. Wer hätte das gedacht?
"Ich danke dir."
"Keine Ursache. Wenn die Werkstatt nicht gebraucht wird, kannst du jederzeit hier arbeiten."
"Das meinte ich gar nicht", lächelte Noah und stieg in den himmelblauen Corsa.
Wie nahe die Worte des großen Poeten, den Fred an diesem Abend zitiert hatte, den Ereignissen in der Zukunft noch kommen sollten, ahnte freilich niemand.