"Ob er es schon weiß? Jemand sollte es ihm sagen, das wird ihn bestimmt freuen!" David brachte das zum Lachen. Zwischen all den Tränen lachte er ein Mal laut auf. "Mein Vater hat nie etwas mit mir anfangen können. Ich mit ihm auch nicht, obwohl ich es immer versucht habe, weil ich es so gerne wollte. Ich verstehe gar nicht, warum es jetzt so wahnsinnig weh tut, ich glaube, ich breche auseinander!"
"Das wirst du nicht, Nugget." Beruhigend streichelte der Größere ihm immer wieder über den Rücken. "Ich halte dich fest zusammen."
Eine der Krankenschwestern hatte einen guten Bekannten im Labor, mit dem sie gelegentlich zu Mittag aß. Der war damit betraut gewesen, jene DNA-Probe zu untersuchen, die Davids Vater endlich doch abgegeben hatte.
Es war nicht ausgegangen, wie erhofft.
Erst hatte man an eine Verwechslung geglaubt. Aber nach neuerlicher Überprüfung musste diese Theorie verworfen werden. So hatte man den behandelnden Onkologen nicht nur mitgeteilt, dass Karl-Heinz Behrens als Spender für David Behrens nicht in Frage kam, sondern auch gleich, dass eine genetische Verwandtschaft der beiden Personen mit Sicherheit ausgeschlossen werden konnte.
Der Laborant hatte die spannende Neuigkeit über Spaghetti und grünem Salat der Schwester erzählt. Weil der Frau das nahe gegangen war, hatte sie sich einer befreundeten Kollegin anvertraut. Das Drama hatte seinen Lauf genommen. Genau in dem Augenblick, als auch Nils unter dem Mantel der absoluten Verschwiegenheit die schlechte Nachricht erfuhr, hatte David die Tür seines Zimmers aufgemacht ...
"Noah, ich muss dir was sagen, hörst du zu?" Noch immer bebte Davids ganzer Körper unter seinem hilflosen Schluchzen. So verzweifelt wie er sich vorhin noch an seine Robbe geklammert hatte, krallte er sich nun an Noah, der sich nicht anders zu helfen wusste, als ihn fest in seinen Armen zu halten. Ganz offensichtlich brauchte es hier aber mehr als das.
"Natürlich. Ich bin da." Aus dem Augenwinkel sah er die Ärztin, die die Tür öffnete und eilig wieder verschwand.
"Du und ich ... Erinnerst du dich?"
"Sicher."
"Auch an die Vereinbarung, die wir hatten?"
"Ja?"
"Die war mein Sicherheitsnetz. Mein doppelter Boden. Du hast immer alle deine Versprechen gehalten. Darum war ich mir sicher, du würdest mich gehen lassen, wenn ich es wollte.
Ich hatte Angst vor einer Beziehung. Nie wieder sollte mir jemand sagen, was ich zu tun oder zu lassen hätte. Ich wollte nicht mehr ständig erklären müssen, wohin ich gehe, wie lange ich weg bin, woher ich komme, mit wem ich geredet habe. Ich wollte frei sein." Das alles sprudelte förmlich aus ihm heraus. So schnell, dass es stellenweise schwer war, ihm zu folgen. "Das Verrückte ist, wenn ich heute darüber nachdenke, bin ich es erst gewesen, als ich mit dir zusammen war. Zum ersten Mal in meinem Leben vielleicht, habe ich mich nicht mehr gefürchtet. Du hast mich Nächte lang in den Armen gehalten, ohne dass ich etwas dafür tun musste. Du hast mich ... einfach sein lassen. Wäre alles geblieben wie es war, hätte ich das Netz nie gebraucht.
Dann bin ich krank geworden und gesprungen. Ich selbst, weil ich mir sicher war, sonst würdest du mich fallen lassen."
"David ..."
"Nein. Hör nur zu. Ich weiß nicht, wie viel Zeit ich noch habe, dir das zu sagen. Aber du musst es erfahren. Noah, ich habe es nicht für dich getan. Damit rechtfertige ich mich vor mir selbst, weil es leichter ist. Die Wahrheit ist, ich habe es für mich getan. Ich hoffte, so täte es weniger weh."
"David, nein. Sag mir, dass ich mich verhört habe. Ich kann nicht glauben, dass du wirklich angenommen hast, ich würde dich verlassen."
"Ich wäre dir nicht böse gewesen. Alle sind gegangen. Jedesmal. Und da habe ich noch nicht den ganzen Tag geschlafen und deutlich besser ausgesehen."
Wie fassungslos Noah über Davids Worte war, spottete jeder Beschreibung. "Ich dachte, du kennst mich besser."
"Aber das war doch der Grund. Ich kenne dich. Du bist ein zu guter Mensch, um das Weite zu suchen. Aber ich hätte mich trotzdem jeden Tag gefragt, ob du nicht lieber woanders wärst. Mit jemand anderem. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass deine Gefühle sich nicht ändern, wenn du mich so schwach siehst und ich wollte dich doch so gerne behalten! Du hast mir versprochen, du würdest der beste Freund sein, den ich je gehabt hätte und ich dachte, dann wärst du wenigstens noch da."
Der Größere schüttelte nur den Kopf. "Und dann hast du das alleine entschieden."
"Ja. Ich lag doch auch richtig. Du bist noch da. Und fehlst mir trotzdem so unendlich!"
Vorsichtig probierte Noah sich ein wenig zu lösen, aber er hatte keinen großen Erfolg bei dem Versuch, David ins Gesicht zu sehen. Der junge Mann hatte es fest gegen seine Brust gepresst und machte dabei den Stoff seines Shirts mit Tränen nass. "Sagst du mir gerade, dass du mich noch immer gern hast?"
"Nein, nicht gern. Ich sage dir, dass ich nie aufgehört habe, dich zu lieben. Das Eine hatte mit dem Anderen nichts zu tun. Du musst mir das glauben!"
"Es ging mich doch auch an, Nugget. Wieso hast du nicht mit mir darüber gesprochen?"
"Weil ich stark sein wollte. Ich dachte wirklich, dass es besser ist. Noah? Gehst du jetzt?"
"Ach Nugget. Ich kann nicht unbedingt behaupten, dass ich das verstehe." Noah zweifelte nicht an der Ernsthaftigkeit seiner Worte, merkte aber sehr wohl, dass David gerade mehr als nur ein bisschen neben der Spur war. "Es wird Zeit, dass du mir mal zuhörst."
Die Ärztin war zurückgekehrt. Sie hatte eine Spritze in der Hand und zeigte stumm die Absicht, David diese Injektion zu verabreichen. Noah erwiderte ihren Blick ebenso ernst. Wie nebenbei strich er den Ärmel des Pyjamas hoch und umfasste den erschreckend dünnen Oberarm. Die Frau nutzte den Moment, bedankte sich anschließend mit einem Nicken und verließ den Raum. David war nur kurz zusammengezuckt.
"Dass dein Selbstbewusstsein im Keller ist wenn du in einen Spiegel schaust, glaube ich dir. Das hat aber nichts damit zu tun was ich sehe, und jeder, der dich gern hat und dich mit dem Herzen sieht. Das was dich ausmacht, was dich besonders macht, das was du in deinem Inneren bist, ist so schön wie es immer war.
Auch dass du nicht schwach erscheinen willst, kann ich dir besser nachfühlen, als du denkst. Da wo du gerade bist, war ich auch schon. Es ist erbärmlich, ständig Schmerzen zu haben, bei allem was man tut auf Hilfe angewiesen zu sein und am Leben draußen nicht mehr teilhaben zu können. Darüber kann man schon den Mut verlieren. Aber Verzweiflung ist ein schlechter Ratgeber.
Ich kenne dich auch, Nugget. Weil du so oft enttäuscht worden bist, fällt Vertrauen dir schwer." Noah machte eine kurze Pause. "Würdest du es trotzdem nochmal wagen?"
"Was?"
"Mit mir? Du und ich? Bräuchtest du wieder eine Vereinbarung? Möchtest du ein Sicherheitsnetz?"
"Ich ... Nein!" Endlich war wieder ein bisschen mehr als die bunte Haube von ihm zu sehen.
"Nein zum Versuch, oder zum doppelten Boden?"
"Zum ... Ich ..." Déjà vu. Schon wieder den Faden verloren. "Brauche ich nicht, will ich nicht."
"Da bin ich froh. Habe nämlich, ehrlich gesagt, nur aus Höflichkeit gefragt."
"Ach so?"
"Na, hör mal. Ich bin lernfähig!" Ein Grinsen huschte über sein Gesicht. "Das passiert mir nicht nochmal", murmelte Noah mehr zu sich selbst.
"Dann ... kommst du zu mir zurück?"
"Würde ich so nicht ausdrücken." Er küsste seinen Schatz ruhig und liebevoll. "Ich war doch nie weg."
Davids glückliches Lächeln sagte mehr als alle Worte. Inzwischen hatte er die größte Mühe, die Augen noch offen zu halten. Das Beruhigungsmittel wirkte wahnsinnig schnell. "Bleibst du auch bei mir, wenn ich einschlafe?", fragte er leise.
"So lange du möchtest."
"Ich meine nicht ... diesmal."
"Ich weiß. Mach dir keine Sorgen."
Als Noah aus der Tür trat, huschte sofort eine Krankenschwester an ihm vorbei, ein Arzt hinterher. David war in guten Händen, dennoch war das Gefühl ihn alleine lassen zu müssen kaum zu ertragen.
Viel Zeit zum Grübeln blieb nicht. Juliane kam direkt auf ihn zu. Die junge Ordensfrau war in Begleitung eines älteren Pfarrers. Es war, als hätten sie auf ihn gewartet.
"Ich hätte gerne zu ihm reingeschaut", eröffnete der Mann das Gespräch, als er dem Jüngeren die Hand reichte. "Aber man hat mir bereits gesagt, dass er nicht in der Verfassung ist, Besuch zu empfangen."
"Er schläft", flüsterte Noah.
"Mhm."
Juliane nickte ihnen zu und ließ sie beide alleine. Sehr seltsam.
"Ich habe Ihrem Freund bereits gesagt, dass es sinnlos wäre."
"Bitte?"
Der Seelsorger schob seine Brille zurecht. Ein zaghaftes Grinsen zeigte sich in seinen Zügen, aber sein Blick hatte durchaus etwas Forschendes.
"Wie dem auch sei. Sie werden verstehen, dass ich an das Beichtgeheimnis gebunden war."
"Es tut mir leid. Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden." Das war die reine Wahrheit.
"Nun, Sie haben es ja auch ohne mein Zutun erfahren."
Zum Glück befand sich eine Sitzgruppe in unmittelbarer Nähe. Noah fiel mehr darauf, als dass er sich setzte. Der Mann hatte es gewusst!
"Anja Behrens hatte eine beste Freundin", fuhr der Pfarrer fort. "Ich habe sie aufgesucht. Sie hat sich an einen jungen Mann erinnert, der einige Wochen in der Gegend gearbeitet hat. Damals wurde ein kurzer Tunnelabschnitt an der Umfahrung gegraben. Sie meint, dass er Max hieß und konnte sich entsinnen, wo er gewohnt hat." Der Alte hielt ihm einen Zettel hin, den sein Gegenüber mit zitternden Händen ergriff. "Die Adresse habe ich Ihnen aufgeschrieben. Ich weiß, das ist nicht viel. Aber nach allem was ich bisher gehört habe ... gehe ich davon aus, Sie haben erfolgreichere Methoden in der Sache weiter zu kommen, als ich. Wenn ich diese auch nicht unbedingt gut heiße."
Noah blickte fassungslos auf den Zettel und wieder auf den Mann.
"Ich wünsche Ihnen viel Erfolg", lächelte der Alte. "Seien Sie so nett, und melden Sie sich zwischendurch bei mir. Der Herr sei mit Ihnen."
Damit wandte er sich um und ging.