"Dein Wachhund hat mich rein gelassen." Noah schmunzelte ein wenig, denn die Anwältin stand wirklich mit vor der Brust verschränkten Armen und entschlossenem Gesichtsausdruck direkt vor der Tür zur Herrentoilette im ersten Stock des Gerichtsgebäudes. Obwohl die Dame rein optisch ein zartes Persönchen war, hätte Noah sich nicht mit ihr anlegen wollen. Zum Glück stellte sich die Frage gar nicht erst. Die Frau hatte ihn wiedererkannt und ihm sogar die Tür aufgemacht. Er hätte sich arg täuschen müssen, wenn ihr Lächeln dabei nicht erleichtert ausgesehen hätte. "Gar nicht überrascht?"
"Dich hier zu sehen?" David drehte sich nicht um. Ihre Blicke begegneten sich im Spiegel über dem Waschbecken. "Eigentlich nicht." Auch wenn es so gewesen wäre, hätte er sich die Frage nach dem Warum erspart. Noah hätte ganz sicher wieder geantwortet, dafür wären Freude da. "Aber was hat dich so sicher gemacht, dass ich hier bin?"
"Dass du das hier tust, meinst du? Aus dem gleichen Grund, aus dem du die gefakte Hotelrechnung nie deiner Versicherung schicken wirst. Weil du einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn hast."
Der Goldschmied schüttelte langsam den Kopf, stützte sich mit beiden Händen am Beckenrand ab und sah nach unten. Es war ihm kaum noch möglich aufrecht zu stehen, so schlecht war ihm. Gleich müsste er da rein.
David war seit drei Tagen hier. Und das war gut. Die Anwältin hatte sich in dieser Zeit ausschließlich mit ihm beschäftigt. Er war in einem Hotel untergebracht worden und sie war seitdem praktisch immer bei ihm gewesen. Im Grunde hatte sie ihn nur zum Schlafen alleine gelassen. Es war ihre Aufgabe gewesen, ihn auf den heutigen Tag vorzubereiten.
Sie hatte ihm erklärt, wie er sich vor dem Richter verhalten sollte. Dass er kurz, sachlich und vor allem ruhig auf Fragen antworten sollte. Sie war mit ihm alles durchgegangen, was auf ihn zu kommen konnte. Und wohl auch würde. Die Gegenseite, hatte sie ihn gleich als erstes gewarnt, würde alles daran setzen, seine Glaubwürdigkeit in Zweifel zu ziehen. Mit allen Mitteln. Es würde ihm nicht erspart bleiben, den Hergang der Tat bis ins Detail zu schildern. Zusammen hatten sie das geübt. Von angemessenen einzelnen Worten, bis zu annehmbaren Formulierungen, um in schönstem Hochdeutsch zu beschreiben, was eigentlich unaussprechlich war. Immer und immer wieder waren sie es gemeinsam durchgegangen.
Der junge Mann würde zudem schlüssig erklären müssen, warum er keine Anzeige erstattet hatte, warum er keinen Arzt aufgesucht oder sich jemandem anvertraut hatte. Es gab wegen all dem keine Beweise. Alles würde davon abhängen, wie hoch der Richter den Wahrheitsgehalt seiner Aussage bewertete.
Die Anwältin hatte ihr möglichstes getan, ihn immer ermutigt und nichts dem Zufall überlassen. Bis hin zu seinem Äußeren. Den klassischen Anzug hatte sie als zu förmlich abgelehnt. Es war ihr peinlich gewesen, erstaunlich bei allem was sie davor besprochen hatten, aber sie hatte gemeint es wäre ein Vorteil, wenn David sich bemühen könnte, möglichst niedlich auszusehen. Um nicht zu sagen hilflos. Ihre Worte, nicht seine! Niemand der ihn beobachten würde, sollte glauben können, dass er auch nur die kleinste Chance gehabt hatte, sich zu wehren.
Heute Morgen war schließlich ein Herrenausstatter in sein Zimmer gerauscht, der seinen Job überaus ernst genommen hatte. Mit der Hose und dem Hemd das der Mann ausgesucht hatte, sah der Goldschmied noch in etwa aus wie er selbst. Allerdings jetzt mit einem unübersehbaren Hauch von Fashion. Der Wachhund war zufrieden gewesen und hatte ihn nicht mehr aus den Augen gelassen. Wohl auch aus Angst, ihr As im Ärmel könnte es sich doch noch einmal anders überlegen.
Sie war noch immer da, während ihr Chef seit Beginn der Verhandlung im Gerichtssaal stand.
David hatte beschlossen, sich nicht einschüchtern zu lassen. Von niemandem. Nicht vom Gericht, nicht von den Anwälten der Gegenseite und schon gar nicht von Roland oder seinem ... Komplizen. Leider war das leichter gesagt, als getan. Die Angst war wie eine Welle gekommen und über ihm zusammengeschlagen. Nur das Waschbecken hielt ihn noch aufrecht. Noah war schneller hinter ihm gewesen um ihn zu packen und mit beiden Armen festzuhalten, als David es mitbekommen hatte. So vergingen Minuten, die er mit geschlossenen Augen, den Rücken an den Anderen gelehnt einfach nur versuchte, weiter zu atmen.
"Herr Behrens? Sind Sie so weit?", kam eine Stimme von draußen.
"Einen Moment noch, bitte", antwortete Noah an seiner Stelle. "Nugget, hör mir zu." Er musste sich ein wenig hinunter beugen, um seine Wange an die des Anderen zu legen. "Du musst das nicht tun. Wenn du nicht bleiben willst, hole ich dich hier raus. Jetzt, sofort. Aber wenn du vor hast das durchzuziehen, ist es der perfekte Moment, um in diesen Saal zu gehen und den beiden Wixern da drin zu zeigen, mit wem sie sich lieber nicht angelegt hätten!"
David holte noch einmal tief Luft. "Oh, Gott. Ich kann das nicht glauben."
Was genau für ihn unbegreiflich war, war nicht ganz sicher. Entweder, dass er tatsächlich die Absicht hatte auszusagen, oder dass er sich eben in Noahs Armen umgedreht hatte um sich an ihm festzuhalten.
"Ich schon", sagte der Größere. Und meinte beides.
Es hatte knapp über zwei Stunden gedauert, bis die Tür zum Verhandlungssaal sich wieder geöffnet hatte. Davids zutiefst erschrockener Blick, als die Anwältin Noah gefragt hatte, ob er mit hinein kommen wollte, hatte ihn endgültig davon abgehalten das zu tun. Er hatte sich inzwischen auf eine der Bänke gesetzt und gewartet.
Kaum war die Juristin mit ihrem Zeugen auf den Gang getreten, umarmte sie ihn freudestrahlend. "Sie waren großartig! Seien Sie stolz auf sich!"
"Darf ich gehen?"
"Wollen Sie das Urteil nicht abwarten?"
David schüttelte sofort den Kopf. Er sah sich nach Noah um, der eben von seinem Platz aufstand. "Ich möchte gehen, bitte."
"Selbstverständlich. Ich rufe Sie an."
Immer mehr Menschen kamen aus dem Saal. Unter ihnen eine Frau, die eiligen Schrittes hinter David her lief. Er war schon fast bei Noah, als sie ihn einholte. "Warten Sie! Nur einen Moment. Ich kann Ihnen nie genug dafür danken, dass sie heute hier waren."
"Es ist nicht sicher, dass sie verurteilt werden", sagte er leise.
"Das ist mir nicht wichtig. Es wäre zwar eine Genugtuung, würde aber nicht ungeschehen machen, was meinem Jungen zugestoßen ist. Oder Ihnen. Aber Sie haben meinem Sohn eine gewaltige Last genommen. Erst seit Sie Ihre Geschichte erzählt haben, steht er nicht mehr wie ein Lügner da. Ein größeres Geschenk hätten Sie ihm und mir nicht machen können." Die Frau umarmte ihn fest und blickte dabei zu Noah, der schweigend wenige Meter entfernt stand. "Ich wünsche Ihnen von Herzen alles Gute, David. Zu wissen dass Sie nicht alleine sind, ist wirklich schön. Er liebt Sie sehr, das merkt man gleich." Sie ließ ihn los und trat einen Schritt zurück. "Es ist die Art, wie er Sie ansieht", lächelte sie und wischte sich dabei zwei Tränen aus dem Gesicht.
David war sofort klar, wen sie meinte. Die Frau irrte sich natürlich. Er konnte es aber nicht mehr richtig stellen, denn wie aus dem Nichts wurden sie von den grellen Blitzlichtern mehrerer Kameras getroffen. Es fielen im Durcheinander die Namen von Zeitungen, dazu Schlagworte wie Auflage, Exklusiv-Interview, Spitzen-Honorar ...
Schockiert taumelte er rückwärts, griff instinktiv nach Noahs Hand und rannte los. Den Gang entlang, die Stufen hinunter.
"Keine Sorge! Um die Schmierfinken kümmere ich mich", rief die Anwältin ihnen noch von oben hinterher.
Den gesamten Heimweg lang, sah David seitlich aus dem Fenster. Ohne ein einziges Wort zu sprechen. Zu viel ging ihm durch den Kopf.
Noah respektierte sein Schweigen. Erst an der Autobahn-Ausfahrt, kurz vor Ende der Fahrt richtete er wieder das Wort an ihn. "David, ... "
"Ich werde nie wieder darüber reden."
"Mit mir sollst du das auch nicht." Noah griff nach einer Visitenkarte.
"Eine Psycho-Tante? Vergiss es."
"Nein. Keine Psychologin. Gott sei Dank", dachte er laut nach, "dafür hat die Frau eindeutig zu wenig Empathie. Sie macht gerade ihren Facharzt für Psychiatrie."
"Wo ist der Unterschied?"
"Psychiater sind die mit dem Rezeptblock. Die wird dir sicher keine Gesprächstherapie vorschlagen. Du musst selbst entscheiden ob du so was möchtest, oder nicht. Aber wenn es dich interessiert, wird sie dir sehr genau erklären, was mit Roland und seinem Kumpel nicht stimmt." Das war ihr Spezialgebiet und würde David vielleicht helfen zu begreifen, dass er absolut nichts für das konnte, was ihm passiert war. Er hatte einfach nur das Pech gehabt, an zwei vollkommen kranke Menschen zu geraten. "Falls du im ersten Moment Angst vor ihr hast", meinte der Größere, "das vergeht."
"Was?!"
"Ja, na gut. Tut es nicht. Ich kenne sie seit Jahren und fürchte mich noch immer ein bisschen." Noah schüttelte grinsend den Kopf, weil er an den Tag denken musste, an dem er Helene zum ersten mal begegnet war. Über einen Maronigrill hinweg hatte sie ihn damals ganz schön in die Mangel genommen. "Du kannst sie jederzeit anrufen."
"Du hast ihr das erzählt?" Die Schärfe im Tonfall war nicht zu überhören. Die unterdrückte Wut auch nicht. "Weiß es jeder? Alle deine Freunde?"
"Natürlich nicht. Das würde ich nie tun. Ich habe mit keinem darüber gesprochen. Auch mit Helene nicht. Sie weiß nur, dass wir Freunde sind. Und wie ich sie kenne, wird sie dich nicht mal nach dem Grund für dein Interesse fragen. Wie gesagt. Ihre Bereitschaft sich in andere Menschen hinein zu fühlen, beschränkt sich auf ein absolutes Minimum. Okay?"
"Ja. In Ordnung." Seine Haltung entspannte sich etwas. "Entschuldige. Ich ... Mal sehen."
Noah hielt den Wagen direkt vor dem Eingang des Wohnblocks. "Wenn du nicht alleine sein möchtest, ..."
"Ich will nicht mehr reden und keinen mehr sehen!" Noch während David es sagte, merkte er wie zornig und patzig sich das anhörte. Kurz vergrub er sein Gesicht hinter beiden Händen und schüttelte dabei den Kopf. "Tut mir leid."
"Muss es nicht. Ich verstehe dich. Du weißt wo ich bin, wenn du es dir anders überlegst."
Das würde er nicht. Irgendwann vielleicht. Aber sicher nicht heute. Und doch hatte er eben kurz gezögert. Weil diese letzten paar Worte sich warm und weich auf seine Seele gelegt hatten, kaum dass Noah sie ausgesprochen hatte. Ein unverhofftes Gefühl am Ende dieses furchtbaren Tages.
Der Goldschmied nickte, stieg aus dem Wagen und nahm seine Tasche vom Rücksitz. "Ja. Ich weiß", antwortete er. Ein kaum sichtbares Lächeln huschte dabei über sein viel zu blasses Gesicht.