"David? Bist du noch in der Innenstadt?"
"Ja, ich bin in der Arbeit. Wir schließen heute um fünfzehn Uhr."
Es war kurz nach Mittag am vierundzwanzigsten Dezember. Und ganz schön viel los. Wer sonst keine Idee für ein Geschenk hatte und es sich leisten konnte, stürmte in letzter Minute das Juweliergeschäft in der Altstadt.
"Oh, Gott sei Dank! Könntest du bitte etwas für mich tun?" Noah klang gestresst. Jedenfalls, so weit man das am Telefon beurteilen konnte.
"Klar. Was ist es denn?"
"Ach, da ist dieses Formular vom Finanzamt. Ich habe es komplett vergessen. Es liegt auf dem Sideboard neben dem Esstisch. Darauf steht rechts oben eine zwölf-stellige Nummer. Die bräuchte ich dringend!"
"Okay?"
"Gehst du, wenn du fertig hast, schnell hoch in meine Wohnung und sagst sie mir durch? Oder schick mir ein Foto davon!"
"Wenn es sehr dringend ist, mache ich es sofort. Ich kann sicher ein paar Minuten raus."
"Nein! Ich meine ... das musst du nicht. Es reicht irgendwann am Nachmittag."
"Mach ich gerne."
"Ja? Das wäre super! Danke! Du fehlst mir so, Nugget."
"Du mir auch." David schloss kurz die Augen.
"So schade, dass ich dich nicht überreden konnte mit zu kommen."
Noah war schon seit zehn Tagen weg. Zu Anfang beruflich in Belgien und von dort direkt nach Südtirol, um die Feiertage bei seinen Eltern zu verbringen. Erst zu Silvester würde er wieder da sein.
David hatte nicht damit gerechnet, wie sehr er ihn vermissen würde. Das hatte nichts mit der Jahreszeit zu tun. An Weihnachten alleine zu sein, war der Goldschmied gewohnt. Es machte ihm schon lange nichts mehr aus.
"Du, ich muss mal wieder was tun. Oder zumindest so aussehen als ob", bemühte er sich einen kleinen Scherz zu machen. Der konnte allerdings nur mäßig über seine leicht belegte Stimme hinweg täuschen. "Ich melde mich gegen halb Vier bei dir."
"Sicher?"
"Versprochen. Bis später!"
"Danke, danke! Bis später, Nugget!"
Noah war zufrieden. Der Baum war fertig geschmückt, die Getränke gekühlt. Ein kleiner Einkauf musste noch sein, aber das würde nicht lange dauern. Für das Essen war Mama zuständig und würde sich das an diesem Abend auch nicht nehmen lassen.
Wie hektisch die Menschen waren! Keine Spur von stiller Nacht. David musste ein wenig schmunzeln, als er die Gasse entlang schlenderte.
Weihnachten war ihm schon lange nicht mehr wichtig. Es war nur ein Datum. Er ging um Mitternacht zur Kirche, aber sonst auch nichts. Seit seine Mutter nicht mehr am Leben war, hatte es kein Fest mehr gegeben. Nicht so richtig. Mit Baum und selbst gebackenen Keksen und allem. Das war für ihn als Kind so schön gewesen. So besonders!
Manchmal machte sich der Gedanke breit, sich wenigstens einen Christbaum in die Wohnung zu holen. Aber da war nirgendwo ein geeigneter Platz. Undenkbar, das Gewächs zwischen Bücherregal und Lese-Sessel zu quetschen, wo es nicht mal angemessen zur Geltung käme. Es wäre umsonst gestorben. Und die Sache mit den Plätzchen war sowieso aussichtslos. David hatte weder Talent, noch Geduld sich in die Küche zu stellen und zehn Sorten zu backen, nur um eine Auswahl zustande zu bringen, wie er sie sich vorstellte. Nicht, dass er es vor Jahren nicht trotzdem mal versucht hätte. Aber es gab Dinge, über die breitete man besser den Mantel des Schweigens. Nein, seitdem kaufte er sich lieber ein paar. Und jedes Jahr wieder, schmeckten sie gleich enttäuschend. Nicht weil sie schlecht gemacht gewesen wären, sondern einfach, weil sie nicht wie zuhause waren.
David schmunzelte ein wenig, als er auf das elektronische Türschloss drückte. Er konnte hier noch immer ein und aus gehen, wie er wollte.
Wie immer sorgte ein Bewegungsmelder dafür, dass es im Vorraum automatisch hell wurde. Und trotzdem war etwas ... anders als sonst? Egal. Der junge Mann brauchte auch nur das Formular, dann wäre er sofort wieder weg! Er war ohnehin schon ein klein wenig später dran als abgemacht, weil er vorhin wieder Nasenbluten gehabt hatte. Zum Glück hatte es diesmal einigermaßen schnell aufgehört. Leise seufzend schob er die Schiebetür zum Wohnzimmer auf, machte einen Schritt, erstarrte augenblicklich und vergaß kurzfristig sogar zu atmen. Ein gewaltiger, sicher drei Meter hoher Christbaum, strahlte und glitzerte direkt geradeaus. Auf dem besonders festlich gedeckten Esstisch brannten alle vier Kerzen eines Adventkranzes. Auch der Rest der Wohnung war da und dort geschmückt. Es roch nach Zimt und Orangen, als zwei starke Arme von der Seite seinen Oberkörper umfingen und weiche Lippen sich in seinen Nacken legten.
"Fröhliche Weihnachten, Nugget!"
"Noah!" David sah ja wirklich aus, als hätte ihn gerade der Schlag getroffen! "Was hast du ... Was machst du denn hier?!"
"Auf dich warten."
"Aber wenn du zuhause bist ... es gibt kein Formular, oder?"
"Wenn du möchtest, kann ich eines suchen!"
"Noah." David umarmte ihn, so fest er konnte. "Du solltest bei deiner Familie sein."
"Ich bin genau da, wo ich sein will. Und was das andere angeht", nachdenklich schaute Noah über den rotblonden Haarschopf des Kleineren hinweg in Richtung Küchentür. "Darf ich dir meine Eltern vorstellen?"
Noch nie im Leben war David so schnell anderthalb Meter nach hinten gesprungen. Was seinen Schatz nicht wirklich überraschte, immerhin kannte er ihn inzwischen recht gut. Verhalten schmunzelnd rückte der Vater seine Lesebrille zurecht, die Mutter fing an zu lachen.
Noahs Freunde waren eine Sache. Seine Brüder schon eine etwas andere, doch das ging gerade noch. Aber Eltern?!
Sehr viel Zeit sich zu sammeln, hatte der Goldschmied nicht. Nicola und Matteo polterten lautstark die Treppe herunter, dicht gefolgt von Tom. Noahs Mama umarmte und begrüßte David herzlich, der Vater gab ihm stumm aber nicht unfreundlich die Hand.
Zudem sprang in diesem Moment die Eingangstür auf. Emma ließ eine große Tasche auf den Boden im Vorraum plumpsen, sah kurz in die Runde und blieb an ihrem besten Freund hängen. "Konnte meinen Eltern ja wohl schlecht sagen, dass ich Weihnachten nicht mit dem Vater meines Kindes verbringe, oder?"
Noahs Eltern wechselten verwirrte Blicke, sahen erst ihn an, dann David und schließlich die junge Frau, deren Schwangerschaft Inzwischen nicht mehr zu übersehen war. Der Vater richtete sich zu seiner vollen Größe auf, was nebenbei gesagt recht beeindruckend war, um zum ersten Mal das Wort zu ergreifen. "Sohn", meinte er sehr ernst, "wir müssen reden."
Geredet wurde in dieser Familie anscheinend am liebsten am Tisch. Dabei gab es Tee, Kakao und Kekse in einer großen bunten Dose, die sofort Davids Aufmerksamkeit erregte. Er griff möglichst unauffällig nach einem Vanillekipferl.
Emma fühlte sich genötigt, die Sache selbst aufzuklären und erzählte einfach mal von ihrem Urlaub. Inklusive der Geschichte mit dem Klo, aber ohne diverse prickelnde Details. Obwohl David schon fand, dass Kokosgeschmack zu Weihnachten gepasst hätte. Manche Dinge, die gelegentlich danach schmeckten, aber natürlich eher weniger.
Da war auch etwas mit Nuss unter den Plätzchen. Und was Zusammengesetztes mit fruchtiger dunkler Marmelade in der Mitte. Die Dose wanderte näher und näher in Davids Richtung, während die werdende Mutter mit ihrer Erzählung inzwischen bei ihren Eltern angekommen war. Was er aber nur am Rande mitbekam. Bloß als Noah entsetzt, "Sie kommen aber nicht her, oder?!", ausrief, war seine Aufmerksamkeit wieder kurz auf das Gespräch gerichtet. Emma verneinte das zum Glück. Was bedeutete, dass sich die Kekse endgültig über ungeteiltes Interesse freuen durften.
Inzwischen konnten sich die Zwillinge, angesichts der Misere in der ihr großer Bruder steckte, vor Lachen kaum noch halten. Und auch das Schmunzeln in Davids Gesicht wurde immer deutlicher. Nicht, weil er das so lustig fand. Okay. Ein bisschen doch. Aber nein, das war nicht der Grund. Es war Noahs Mama, die ihm zwinkernd Kakao nachschenkte. Der Vater, offensichtlich die Ruhe in Person, der sich das alles nachdenklich schweigend anhörte. Matteo, Nicola, Tom und Emma, die ihm das Gefühl geben, als hätten sie sich erst gestern zuletzt gesehen. Und last but not least, sein Schatz, der ihm immer wieder einen entschuldigenden Seitenblick zuwarf, obwohl er mal wieder rein gar nichts dafür konnte.
Es wunderte David dann überhaupt nicht mehr, als es an der Tür klingelte, Tom aufmachte und über seine Schulter rief, "Ey, Noah! Hier ist ne Lady, die sagt, du hättest ihre Tampons!"
Die Dame war vorhin gleichzeitig mit Noah vom Einkaufen gekommen. Im Lift hatten die beiden aus Versehen die Tüten vertauscht. Tom warf einen prüfenden Blick in das Sackerl, das die dralle Blonde ihm unter die Nase hielt. "Na ja. Dafür haben Sie Jalapenos!"
"Und wo soll ich die hinstecken, Sie Armleuchter?", blaffte sie, entschuldigte sich aber sofort für den rüden Ton. "Tut mir leid. Seit ich auf Diät bin, bin ich irgendwie voll aggressiv."
"Und dann funktioniert's nicht mal", stellte Tom nüchtern fest. Von der Frau, die einen drohenden Schritt auf ihn zu machte, kassierte er umgehend einen mehr als vernichtenden Blick, der ihn instinktiv zurückweichen ließ. Ein Gefühl niederkämpfend, das er vom Hörensagen kannte: Angst.
Derweil hatte Noah die richtigen Einkäufe aus der Küche geholt, er hatte sie in der Hektik einfach zur Seite gestellt gehabt ohne sich mit dem Inhalt zu beschäftigen. "Es war keine Absicht. Bitte entschuldigen Sie."
"Nicht so wild. Also dann. Frohe Weihnachten."
"Möchten Sie eine Tasse Tee mit uns trinken?", fragte Noahs Mutter.
"Oder ein Glas Wein?", wollte Noah wissen. Immerhin hatte die Frau seinetwegen Unannehmlichkeiten gehabt.
Nachdenklich sah sie ihn an. "Sie sind der Kerl, mit dem meine Tante mich die ganze Zeit verkuppeln will!"
Aus Richtung des Vater kam nur noch ein leises Seufzen.
Dass Noah sich neben ihn auf den Boden kniete, merkte David im allgemeinen Durcheinander gar nicht. Erst als dessen warme Hand nach seiner griff, wurde ihm bewusst, dass er vollkommen in sich versunken gewesen war. Mitsamt der Keksdose auf dem Schoß, durch deren köstlichen Inhalt der junge Mann sich überglücklich testete, seit er sie gefunden hatte.
"Du, Nugget?" Er war schon so lange still. "Das ... Also, dass hier so viele Leute sind ... Geplant hatte ich am Anfang nur dich und mich, aber ... Irgendwie ..."
Da biss David sich schon auf die Unterlippe. Noah sah auch zu niedlich aus, wie er versuchte eine Erklärung für das zu finden, was doch nichts anderes als sein Leben beschrieb.
"Tut mir so leid, ich ... habe keine Ahnung, wie das wieder passiert ist!"
"Ich weiß", lachte David los. Ihm kamen schon Tränen, er konnte wirklich nicht mehr, als er dem sichtlich bedrückten Häufchen neben sich um den Hals fiel. "Oh, Noah. Ich liebe dich!"
Der Größere richtete sich auf, vollkommen überrascht, ihm war, als wäre sein Herz gerade gestolpert. Hätte sich überschlagen und würde vielleicht niemals wieder den richtigen Takt finden! "Das hast du noch nie zu mir gesagt!"
David löste sich gerade weit genug, um ihm in die Augen sehen zu können. Zärtlich nahm er sein Gesicht in beide Hände und flüsterte, "Ich liebe, liebe, liebe dich", in einen langen, innigen Kuss.