Noah hatte im Rettungswagen mitfahren dürfen, der Zutritt zur Notaufnahme des Krankenhauses war ihm aber verwehrt geblieben. Wie alle anderen auch, hatte er warten müssen. Mit furchtbar viel erbärmlich schlechtem Kaffee aus einem Automat. Rastlos hin und her laufend, auf dem Flur vor einer Reihe von Türen. Hinter einer von ihnen musste David liegen und es war nicht mal möglich, herauszufinden hinter welcher.
"Sind Sie Noah?", sprach ihn eine Krankenschwester mit langen braunen Haaren an.
"Ja!"
"Angelika", informierte die junge Frau ihn freundlich. "Da fragt jemand nach Ihnen. Möchten Sie mitkommen?"
Müde lächelnd streckte David eine Hand nach ihm aus. Die Erleichterung, die Noah empfand als er ihn sah, hätte keiner in Worte fassen können. Er konnte gar nichts dagegen machen, dass ihm Tränen in die Augen schossen, als er das Gesicht seines Liebsten mit Küssen bedeckte. Den äußerst überraschten Blick, den die Krankenschwester mit einer Ärztin tauschte die ebenfalls im Zimmer war, bemerkte keiner der beiden Männer. Zumal die Damen sich äußerst taktvoll im Hintergrund hielten, bis sich Noah seiner Unhöflichkeit bewusst wurde und sich der älteren Frau vorstellte. "Verzeihen Sie. Ich ..."
"Lassen Sie nur", unterbrach Frau Dr. Haller ihn grinsend. "Im Leben muss man Prioritäten setzen, nicht wahr? Wir sind hier noch ein bisschen schläfrig", zwinkerte sie in Davids Richtung. "Vielleicht können Sie ein wenig Licht ins Dunkel bringen? Wissen Sie etwas über die Einnahme von Medikamenten, beziehungsweise deren Dosierung innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden?", kam die Medizinerin gleich zur Sache.
"Dosierung nicht", verneinte Noah. "Aber das hier war bei ihm." Er hatte alles was auf Davids Nachttisch gestanden hatte in eine Tasche geworfen, die er ihr übergab.
"Da hat einer mitgedacht", freute sich die Ärztin. "Sehr schön. Dann wollen wir mal." Zügig räumte sie diverse Schachteln und Fläschchen aus. "Die Antibiotika hat Ihnen Ihr Hausarzt verschrieben?", wandte sie sich an David.
"Mhm."
"Hatten Sie davor schon welche?"
"Ja. Aber nur fü... für fünf Tage. Die haben nicht geholfen."
"Und das hier ist alles was Sie eingeworfen haben?"
David warf einen bangen Blick zu Noah.
"Nugget? Es ist wichtig."
"Ich hatte so schlimm Kopfweh", meinte der junge Mann leise. "Und meine Schmerz... Schmerztabletten waren alle. Da ist mir eingefallen, dass du immer welche von deinen dabei hast. Für den Notfall."
"Oh, Gott." Erschüttert fasste Noah in die Innentasche seiner Jacke. "Von denen hast du eine geschluckt? Eine ganze?"
"Na ja. Nein. Zwei. Ich ... Ich dachte, du hast sicher nichts dagegen, wenn ich mir welche nehme. Entschuldige. Ich hätte vorher fragen sollen."
Nur Sekunden später reichte Noah der Ärztin einen Blister. Es fehlten tatsächlich zwei Pillen.
"Huch!", rief die Frau aus. "Wie kommen Sie denn zu diesen Leckerchen?"
"Hatte einen Unfall."
"Nervenschaden?"
"Ja."
"Nehmen Sie sie regelmäßig?"
"Nein. Nur noch, wenn gar nichts mehr geht."
"Das heißt was?"
"Die letzte vor ... elf Wochen."
"Gut", nickte sie zufrieden, rollte auf ihrem Sessel zum Schreibtisch und tippte energisch auf die Tastatur ihres Computers ein. "Gegen einen verantwortungsbewussten Umgang habe ich nichts einzuwenden. Das gilt allerdings nicht für Sie, Herr Behrens." Ernst sah sie auf ihren Patienten hinunter. "Ich wage zu behaupten, in dieser Dosierung wäre Ihnen auch ohne die Wechselwirkung das Licht ausgegangen."
"Es tut mir leid."
"Eine Wechselwirkung?", fragte Noah.
"Im Moment", überlegte sie, "gehe ich stark davon aus. Die Ergebnisse der Blutuntersuchung sind noch ausständig. Aber ich möchte Sie ohnehin, ganz unabhängig davon, einige Tage zur Beobachtung hier behalten."
"Aber ...", wandte David ein, und wurde sofort von seinem Schatz unterbrochen.
"Kein Aber. Genau so machen wir das."
"Die Hochzeit."
"Wir bleiben hier. Mach dir keine Gedanken. Ich kläre das."
"Wir? Noah, du musst fahren! Du bist der Trauzeuge!"
"Kommt überhaupt nicht in Frage. Nicht ohne dich."
"Willst du Isabella umbringen?!"
"Was?"
"Du kannst ihnen doch nicht zwei Tage vorher absagen!"
"Sie verstehen das."
Hilfesuchend schaute David zu der Frau neben sich auf.
"Sie haben wohl noch nie eine Hochzeit organisiert, was?", murmelte sie. "Wenn Ihnen an den beiden was liegt, hören Sie mal lieber auf ihn."
"Nein. Ich kann nicht."
"Nimm doch Emma mit, sie verreist doch so gerne. Sie wird sich freuen."
"Wie kommst du denn auf Emma? Warum sollte ich?!"
"Wegen der Sitzordnung?"
"Hm? Was hat das damit zu tun?"
David und die Ärztin rollten gleichzeitig mit den Augen.
"Sie können nicht unangekündigt ohne Begleitung erscheinen. Im schlimmsten Fall muss die gesamte Platzverteilung umgeworfen und neu überdacht werden", schüttelte sie den Kopf.
"Ähm..."
"Du kannst doch hier sowieso nichts machen", beruhigte David ihn. "Ich habe dir einen ordentlichen Schreck eingejagt. Entschuldige. Das wollte ich nicht. Aber jetzt ist es nicht mehr nötig, dass du dir Sorgen um mich machst. Nirgendwo wird sich besser gekümmert, als im Krankenhaus, oder? Sieh mal, mir geht es jetzt schon viel besser. Und nur, weil diese Infusion hier hängt."
"Da ist was dran", stimmte die Frau ihm zu.
Der große Brünette rang sichtlich um eine Entscheidung. "Mir gefällt diese Idee überhaupt nicht."
David ließ einfach nicht mit sich reden. Es war fast, als wolle er ihn loswerden. Er beharrte darauf, Noah solle nach Italien fahren. Der beendete diesen Versuch einer Beziehungskrise schließlich, indem er zähneknirschend nachgab. Das Argument, es wäre nur fair an Josefs Seite zu stehen, wenn dessen Schwiegervater nach so vielen Jahren endlich erfahren sollte, wer seinen Gartenpavillion abgefackelt hatte, war immerhin nicht ganz von der Hand zu weisen. Trotzdem konnte Noah sich kaum losreißen. Er hielt David sicher noch eine halbe Stunde im Arm, küsste ihn unzählige Male. "Ich komme so schnell wie möglich zurück, ja?"
"Wirst du nicht. Du nimmst dir bitte Zeit für deine Freunde, die freuen sich nämlich auf dich. Sie haben dich viel zu lange nicht mehr gesehen und wünschen sich, dass du diesen besonderen Tag mit ihnen feierst. Nur daran sollst du denken. Verstanden?"
"Aber ..."
"Will ich gar nicht hören. Grüß Josef und Isabella ganz lieb."
Zerrissen hatte Noah ausgesehen, als die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war.
"So", lächelte die Ärztin David an. Seine grünen Augen wirkten unendlich traurig, und doch sah er erleichtert aus. "Wollen wir uns unterhalten?" Sie legte ihre Hand auf seine. "Wann haben Sie diese Grippe-Symptome zum ersten Mal bewusst wahrgenommen?"
"Ich weiß nicht genau. Vor ein paar Wochen."
"Wie hat das angefangen? Müdigkeit?"
"Ja. Schon."
"Noch etwas? Schmerzen?" Sie sah ihn durchdringend an. "Nasenbluten?"
"Sagen Sie es ihm nicht. Bitte."
"Das ist doch keine Arbeit für einen kräftigen jungen Mann. Du solltest beim Bundesheehr sein! Deinem Land dienen!", knurrte der Alte im Bett schräg gegenüber unzufrieden den Krankenpfleger an, der gerade damit fertig geworden war, ihn zu waschen.
"Wonach sieht das aus, was ich hier mache?", fragte der Bursche ruhig zurück. Mehr als ein missmutiges Schnauben fiel dem Kranken daraufhin nicht mehr ein.
"N'Abend, Herr Behrens. Ich bin Nils", stellte der Pfleger sich vor. Er hatte ein freundliches Gesicht, wache braune Augen und hellbraune Haare, die nicht ganz geordnet vom Kopf abstanden. "Wollen wir?", fragte er aufmunternd und griff schon nach der Decke.
"Ich ... Nein, ich kann das alleine. Danke", lehnte David ab, die Finger an den Bettbezug geklammert.
"Das muss Ihnen nicht unangenehm sein", lächelte der Andere. "Ich bin dafür da, Ihnen das Leben ein bisschen zu erleichtern."
"Nein, bitte ... lassen ... Ich ... will das nicht!"
Nils war nicht erst seit gestern im Krankenhaus beschäftigt. Er hatte es mit allen möglichen Arten von schwierigen Patienten zu tun. Es gab die grundsätzlich Unzufriedenen, die Besserwisser, die Schwarzseher, die Schamhaften und eine ganze Menge mehr. Aber dieser gehörte in keine der Kategorien. Was Nils gerade zu sehen meinte, war etwas völlig anderes. Angst? "Möchten Sie, dass ich eine Kollegin hole?"
"Das ... Ginge das?"
"Kein Ding. Es ist einfach so, dass den Damen oft ganz schön viel zugemutet wird. Deshalb übernehme ich standardmäßig die Zimmer der Männer." lächelte er. "Das bedeutet aber nicht, dass Sie sich von mir anfassen lassen müssen."
"Bitte, es ... hat nichts mit Ihnen zu tun. Ich ..."
"Keine Sorge, ich nehme das nicht persönlich. Und ich habe schon gesagt, ich heiße Nils. Du ist mir übrigens lieber als Sie."
Der junge Mann atmete sichtlich auf. "Okay." Sogar ein kleines Lächeln wurde sichtbar. "David."
"Freut mich, David. Dann sage ich mal im Schwesternzimmer Bescheid", zwinkerte Nils fröhlich. "Ein paar Minuten wird es dauern, ja?"
"Ja. Nils? Vielen Dank."
"Nicht dafür. Bis später."
Als Davids Telefon klingelte, atmete er erst einmal tief durch. Er musste sich sammeln, um sicher und glaubhaft zu klingen. Allzu laut sprechen wollte er auch nicht. Alfons, gleich gegenüber, sah zwar so schlecht dass er zum Lesen Brille und Lupe brauchte, aber dafür hörte er jedes Wort!
Natürlich war es Noah, der sich besorgt erkundigte, wie es ihm ging. Schon wieder. Und erneut versicherte David ihm, es wäre alles in Ordnung, er fühlte sich wesentlich besser, es bestünde überhaupt kein Grund zur Sorge. Mit einem, "Ich liebe dich auch", verabschiedete er sich nach nur wenigen Minuten, die ihm alle Kraft abverlangt hatten, die er noch in sich gehabt hatte. Am liebsten hätte er laut aufgeschrien.
"Willst du ihr nicht die Wahrheit sagen?", grummelte der Alte.
"Bitte?"
"Das war ja wohl deine Freundin, was? Ich meine ja nur. Kann ja nicht lange dauern, bis sie es von selbst herausfindet." Über die Ränder seiner dicken Brillengläser hinweg warf er ihm einen ernsten Blick zu. "Junge. Du liegst auf der Onkologie."