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Langsam drehte er/ sie sich um ...
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Der Wind pfiff und wirbelte die Blätter über die breite Allee. Mächtige Platanen säumten seinen Weg, aber er hatte keinen Blick für sie übrig, erfasste ihre erhabene Schönheit nicht. Der Mann hatte es eilig. Aktenkoffer unter den Arm geklemmt, hastete er auf dem Kiesweg entlang.
Den Kopf hielt er gesenkt, kein Wunder, hatte der wolkenverhangene Himmel gerade beschlossen, die ersten zarten Tropfen hinunter auf die Erde zu schicken. Und noch etwas anderes hatte er geschickt.
Aber davon ahnte der Mitfünfziger noch nichts.
Obwohl es kaum möglich war, beschleunigte er seine Schritte weiter. Der Kies knirschte unter seinen schwarzen Lackschuhen. Kein passendes Schuhwerk für dieses Wetter. Erste Schlammspritzer hatten sich ihren Weg auf die am Morgen noch plank polierten Markenschuhe gebahnt. Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Vor seinem Gerichtstermin musste er sich dringend die Schuhe abwischen. Warum war der Parkplatz auch so weit entfernt? Wer hatte den Einfall gehabt, das Gerichtsgebäude in diesen alten Gemäuern unterzubringen, welche die kleine Parkanlage säumten und früher ein herrschaftliches Anwesen waren?
Derjenige war schuld daran, dass er jetzt diesen Spaziergang unternehmen musste. Keine Parkgarage wie andernorts. Zugang nur für die Fahrzeuge der städtischen Gärtnerei, nicht für seinen Luxusschlitten. Er schnaubte.
Wenigstens sein langer Mantel und der Hut schützten vor Wind, Kälte und Regen. Immerhin war sein Hemd und das Jacket darunter sicher. Nicht, dass ihn diese Umstände seinen guten Ruf kosten würden.
Der Anwalt schob den Ärmel der linken Hand nach hinten und warf einen Blick auf seine goldene Armbanduhr, teuer und zuverlässig. Zehn vor elf. Er war pünktlich. Hatte noch Zeit für einen kleinen Abstecher, dachte er jedenfalls. Wie sehr er sich irren sollte, konnte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen.
Der Regen legte an Intensität zu. Große Tropfen schlugen auf den gepflegten Rasen und den Kiesweg. Sie hinterließen runde Abdrücke darin.
Aber auch dafür hatte der Mann keinen Blick. Vielleicht fünfzig Meter vor ihm lag sein Ziel, der Eingang zum Amtsgebäude. Eine handvoll ausgetretene Stufen führten hinauf. Die Außenfassade mit Stuckmalereien und Fresken verziert. Aber auch für die architektonische Schönheit hatte er nichts übrig. Zum Glück waren an diesem Vormittag - wegen des wenig einladenden Wetters oder sonstiger Umstände - keine weiteren Passanten unterwegs. Er seufzte. Wohin ihn seine Berufswahl nur manchmal brachte. Aber alleine war er keineswegs.
Nur noch zwanzig Meter. Gleich würde ihn das große Portal schlucken und er im modernisierten Inneren verschwinden, bereit, dass zu tun, wofür er studiert hatte und gemacht worden war. Paragraphen auslegen, Argumente anführen, sich in Rage reden.
Etwas knirschte hinter ihm. War also doch noch jemand unterwegs. Er eilte weiter, unbeeindruckt.
Das Knirschen kam näher, wurde lauter. Nur noch wenige Meter bis zu seinem Ziel. Er würde sich nicht aufhalten lassen.
Jemand tippte ihm an die Schulter, sanft und zaghaft.
Er tat, als habe er es nicht bemerkt. Sein schwarzer Schuh mit den hellbraunen Sprenkeln darauf setzte sich auf die erste Stufe. Der Griff wurde fester, fordernder. Ließ sich kaum mehr ignorieren, verhinderte, dass er einen weiteren Schritt machte. Er versuchte sich loszureißen, vergebens.
Der Griff hatte ihn inzwischen gepackt wie eine eiserne Fessel. Körperkontakt konnte er nicht ausstehen und dann auch noch derart penetrant.
Langsam drehte er sich um und erstarrte.
Da war niemand. Er fühlte noch immer die Berührung. Etwas hatte ihn gepackt, von ihm Besitz ergriffen. Sein Atem stockte. Etwas wand sich nach seinem Herzen, welches schon vor Jahren versteinert war, aber noch nicht stehengeblieben. Er bekam keine Luft mehr. Irgendwo in der Ferne läutete eine Glocke. Er registrierte kaum den Klang. Es rauschte in seinen Ohren. Er konnte sich nicht rühren. Die lederne Aktentasche entglitt seinem Griff, polterte zu Boden und kam im Schlamm zu liegen. Langsam sackte er auf den Stufen zusammen, wo er bald darauf von einem Verwaltungsbeamten gefunden wurde. Vermutete Todesursache: Herzstillstand. Geschätzter Todeszeitpunkt: Elf Uhr.
Dass in Wahrheit etwas ganz anderes hinter seinem plötzlichen Dahinscheiden steckte, würde weder er selbst noch irgendjemand sonst jemals erfahren. Würde ja auch nichts mehr an den Tatsachen ändern - hätte er als Anwalt in seinem Schlussplädoyer vermutlich gesagt.
Wie so oft in seinem Leben, würde die Aussage noch ein letztes Mal gelten.