Jedes Dorf in diesem vergessenen Landstrich hatte seine eigenen Sitten und Gebräuche.
Ramirka erschien es manchmal, als führten die Dorfältesten eine Art Wettstreit aus, wer die meisten und kompliziertesten Bräuche sein eigen nennen konnte. Sie seufzte und riss den Blick von ihrem Geliebten los, um ihn über den winterlichen Himmel schweifen zu lassen.
Sie seufzte, denn es half alles nichts. "Ich muss mich sputen."
Ein letzter Kuss besiegelte ihre Worte. Das Christfest war vorüber und die Sitte ihres Ortes verlangte, dass sie vor Einbruch der Dunkelheit zurück sein musste.
Ariald löste seine Lippen von den ihren, öffnete die Augen und folgte ihrem Blick. "Es dämmert, Liebes. Ich sehe schon den Abendstern. Aber du wirst zurück sein, ehe die Nachtglocken läuten. Die Tage werden bereits länger." Ein letztes Mal strich er ihr über die Wange und schob eine Haarsträhne unter ihr Kopftuch. Dann lächelte er ihr noch einmal zu, so dass ihr warm ums Herz wurde. Mit einem entschlossenen Ruck riss sie sich los und begab sich auf den Rückweg in ihr Dorf.
"Lauf schon, Mädchen!", rief er ihr hinterher.
Der Nachhall seiner warmen Stimme und die Erinnerung an die Grübchen auf seinem Gesicht versüßten ihr die ersten Schritte des Weges. Bald würde sie ihn wiedersehen und wenn die Fastenzeit vorüber war, würde man Hochzeit halten. Sie hatte die Probe bestanden, mit seiner Mutter, der Großmutter und der Tante die Christbrote gebacken, jede Aufgabe sorgsam erfüllt, die man ihr gestellt hatte. Aufgedeckt, abgeräumt, abgewaschen, den Boden gefegt, die Tiere versorgt, Wasser geholt, den Ofen geschürt, Lieder gesungen, mit den Frauen gestickt und Kleidung ausgebessert, mit den Kindern geholfen und den Säugling seiner Schwester geschaukelt - wie man es von einer guten Frau erwartete. Ihre Mutter würde stolz sein.
Ramirka lächelte selig. Jetzt freute sie sich darauf, ihre Eltern und ihre Brüder wiederzusehen.
Als sie die Anhöhe erreicht hatte, drehte sie sich ein letztes Mal um. Der Himmel war merklich dunkler geworden und am Horizont zeigte die Wintersonne ein letztes Mal ihre Pracht. Aber Ramirka hatte keine Augen für das leuchtende Schauspiel aus rotgoldenen Tönen, sondern wandte ihren Blick hinunter zu Arialds Dorf. Von ihrem Versprochenen aber war nichts mehr zu sehen. Nur noch die Zweige der Obstbäume zeichneten sich als schemenhafte Schatten neben den Dächern der Häuser ab. Irgendwo über den Hügeln funkelte der Abendstern einsam und alleine. Er würde es nicht lange bleiben, Ramirka sollte wohl besser rennen, wenn sie noch vor den Glockengeläut der Dorfkirche zurück sein wollte.
"Spute dich!", hatte die Mutter gemahnt. "Es ist unschicklich, zu spät zu sein."
Ihr Großvater hatte nur geschnaubt. "Geschwätz der Frauen", hatte er gebrummt. "Jeder weiß, dass man in den Raunächten nicht mehr unterwegs sein sollte."
"Sei still", hatte die Mutter gemahnt und ihrem Vater eine Hand auf die Schulter gelegt. "Mach dem Mädchen doch keine Angst."
Warum kamen ihr die Worte ausgerechnet jetzt in den Sinn?
Der kürzere Weg nach Hause führte zuerst eine Anhöhe hinauf und dann durch einen Wald. Die Fuhrwerke der Bauern hatten Spuren in den Boden gegraben, denen sie gut folgen konnte. Jetzt im Winter war der Untergrund gefroren. Ramirka konnte die Erdklumpen unter den Sohlen ihrer Schuhe spüren. Rennen war auf diesem unebenen Boden unmöglich. Der lange und bessere Weg führte um den Wald herum, an den Felder vorbei, aber sie hatte noch ein wenig Zeit mit Ariald alleine verbringen wollen.
Die kahlen Äste hoben sich kaum mehr vom Abendhimmel ab. Auch das Abendrot verglühte bereits irgendwo hinter den Bäumen. Und wann war es so kalt geworden? Zu kalt für Schnee. Schnee hätte sich wie eine weiche Daunendecke über den Untergrund gelegt und den Boden geebnet. Auch das fahle Mondlicht hätte sich darin widergespiegelt und den Wald heller und freundlicher erscheinen lassen. Aber wünschen half nichts.
Das Mädchen schob die Hände tief unter ihren Umhang. Die Atemluft bildete weiße Wölkchen vor ihrem Mund. Entschlossen reckte sie das Kinn und marschierte weiter.
Ob man sie nicht heiraten ließe, wenn sie zu spät kam? Würde man sie bestrafen?
Ramirka schüttelte den Kopf und schaute nicht links noch rechts. Sie würde es schon noch rechtzeitig schaffen.
In Arialds Dorf gab es den Brauch, ein Mädchen am Abend alleine in den Wald zu schicken. Sie hatte die Männer am Feuer darüber reden hören. Zotige Geschichten, begleitet von viel Gelächter. Sie hatte nicht alles verstanden, wohl aber, dass man mutige Mädchen bevorzugte. Überhaupt hatten die Männer viel geredet und wann immer, hatte Ramirka mit einem Ohr gelauscht. Was hatte Dankmar gesagt? Über die Raunächte und dieses Mädchen?
In den Nächten zwischen dem Christfest und dem Dreikönigstag stand das Tor zur Anderswelt weit offen. In diesen Nächten zogen die verfluchten Jäger über den Himmel und kündeten von Unheil. Wer sie sah, dem drohte Krankheit und Übel.
Dieses Mädchen, vom den sie Dankmar hatte reden hören, hatte bei ihrer nächtlichen Waldprobe das Wütende Heer gesehen. Nur wenige Tage nach ihrer Rückkehr war sie tot gewesen.
Ramirka lief so schnell sie konnte und richtete den Blick starr auf den Boden vor sich. Was knackte da im Unterholz?
Sicher nur ein Tier auf der Futtersuche.
Noch dämmerte es. Die Jäger erschienen erst in der Nacht. Und wenn sie nicht hinschaute, konnte sie auch niemand sehen. Um sich Mut zu machen, summte Ramirka eines der Lieder, das sie am Christfeuer gesungen hatten.
Es half für eine ganze Weile.
Hatte Dankmar nicht auch erzählt, dass die Wilden Jäger Mädchen für ihr Vergnügen entführten? Manchmal auch junge Burschen. Diesen Teil hatte sie nicht genau verstanden. Aber um einen vergnüglichen Tanzabend war es dabei sicher nicht gegangen. Hoffentlich war Ariald wieder gut heim gekommen. Sie versuchte, an ihren Herzallerliebsten zu denken.
Alles würde gut werden. Da vorne machte der Weg eine Biegung und führte anschließend sachte bergab. Nur ein wenig, und sie würde die ersten Häuser vom Dorf sehen können, bald darauf sogar den Turm der Kirche. Wenn der Prediger wüsste, was für Flausen ihr durch den Kopf gingen. Heidnische Geschichten. Sie kicherte. Ihren Freundinnen würde sie davon berichten. Aber was war das?
Ramirka lauschte. Waren das Glocken? Sie schüttelte den Kopf. Starrte angestrengt durch die Tannen und vorbei an den kahlen Baumstämmen. Da war nichts, als eine dunkle Wand. Das war nicht die Glocke der Kirche, aber eindeutig ein Gebimmel und Geklimper. Spielte da jemand ein Instrument? Flöten oder Laute? War das Gelächter?
Jedenfalls kam es näher.
Ramirka war stehen geblieben und zwang den Blick nach unten. Auf dem Weg vor ihr hatten Fuhrwerke tiefe Furchen im Boden hinterlassen. Das darin gesammelte Wasser war gefroren. Die Eisdecke glänzte im Mondlicht, das sich darin spiegelte. Aber was war das?
Sie erkannte Bewegung darin. Gestalten zogen vorüber, verdeckten den Mond. Immer wieder. Genau konnte sie es nicht erkennen. Bloß nicht den Kopf heben, redete sie sich ein. Sie zog die Hände aus den Taschen, presste sie auf die Ohren und lief langsam weiter. Den Blick stur geradeaus gerichtet. Hinunter lief es sich leichter und das Mädchen kam schneller voran.
Endlich lichtete sich auch der Wald. Hier hatten die Holzfäller im Herbst gerodet und die dünnen Stämmchen erlaubten ihr, mehr von ihrer Umgebung zu erkennen. Dort vorne schimmerten ihr schon die ersten Lichter des Dorfes entgegen. Sie hatte es so gut wie geschafft. Die Nacht würde kalt und klar werden. Bestimmt hatte die Mutter ihr schon einen Stein ans Feuer gelegt, damit sie es später im Bett schön warm haben würde und wartete auf ihre Rückkehr. Ramirkas Gedanken wurden wärmer und auch ihre Schritte wurden damit leichter.
Und dann lichtete sich der Wald und die letzten Bäumchen gingen in struppiges Gebüsch über, ehe sie auf eine Wiese trat.
Dann blieb sie stehen. Völlig verzückt von dem Anblick, der sich ihr bot. Die Grashalme glänzten und funkelten im Mondschein. Wie von Zauberhand mit einer zarten Schicht aus Raureif überzogen.
Nur Ramirkas Schritte hinterließen eine Spur in dieser weißen Pracht. Fast so schön wie Schnee, dachte das junge Mädchen. Was war es doch gleich, was ihr Großvater über Raureif am Morgen gesagt hatte?
Die weisen Frauen legen ihre schützende Hände über uns. Sie nickte, genau das war es gewesen.
Sie kniete sich hin und fuhr sachte mit dem Finger über einen der Grashalme. Langsam und andächtig. Immer wieder. Wie gerne hätte sie ihrem Großvater einen der Halme gebracht. Aber das weiße Puder rieselte unter ihren Fingern nur allzu schnell zu Boden.
Und dann läuteten endlich die Glocken und sie eilte nach Hause.