"Einen Coffee to go, bitte." Banale Worte, tausendfach gesagt, die aber so gar nicht in diese Situation und zu diesem Tag passen wollten.
Jetzt stand der Becher achtlos und vorerst vergessen auf einem Bistrotisch. Der heiße Dampf bildete einen seltsamen Kontrast zu der Eiseskälte in seinem Inneren. Sein Herz war gefroren und daran konnte auch ein Heißgetränk nichts ändern. Seine Gedanken hingegen wirbelten wild durcheinander, ähnlich wie die Flüssigkeit, nachdem er mit einem Holzstäbchen den Zucker hineingerührt hatte.
Seine Hände zitterten, als sie das Buch entgegennahmen. Die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen, ebenso wie das Interieur des kleinen Straßenbistros, in dem er sich befand. Er lehnte sich an den Stehtisch, um nicht den Halt zu verlieren.
Nichts im Leben ist für immer und dass das Leben fair ist, hat niemand behauptet.
Du warst gerade einmal hundert Tage alt, als du den ersten Verlust in deinem Leben hinnehmen musstest. Vermutlich wird es einer der bittersten Verluste in deinem Leben sein. Dein Vater hat dich geliebt, Jonathan. Und er wäre gerne länger bei uns geblieben. Aber es hat nicht sein sollen.
Jedenfalls wünsche ich mir für dich, dass du lernst mit den Dingen umzugehen, die sich nicht ändern lassen und stark bist.
Eine Träne fand ihren Weg auf die Seite und den vergilbten Flecken nach zu urteilen, war es nicht die erste. Seine kalten Finger fuhren über die Fotografie als könne er den viel zu früh verstorbenen Vater greifen, an den er keine Erinnerungen hatte. Nur dieses Foto und die Worte seiner Mutter. Aber weder seine Finger noch sein Verstand konnten greifen, was ihm soeben übergeben worden war. Es war mehr als nur ein Foto und Worte. Es war so viel mehr als das. Es war die Erklärung, nach der er so lange gesucht hatte.
Um seinem Gegenüber nicht in die Augen sehen zu müssen oder noch schlimmer, den mitleidigen Blick auf sich zu spüren, las er erneut die wenigen Zeilen. Er blinzelte seine Tränen weg, und las dieses Mal langsam. Und endlich fanden die Worte ihren Weg in sein Herz. Viele Jahre zu spät, aber immerhin.
Hatte er gelernt, mit den Dingen zu leben, die sich nicht ändern ließen? Zwangsläufig.
War er stark? Er hätte so gerne ja gesagt, aber er wollte nicht lügen.
Straften ihn seine Tränen nicht gerade ebendiese?
Die Frau ihm gegenüber räusperte sich. Ihre Finger umklammerten den Kaffeebecher, den sie langsam an die Lippen führte. Er folgte der Bewegung ihrer Hände mit seinen Augen.
"Danke", murmelte er. Sie nickte und blies über das heiße Getränk. Er rechnete es ihr hoch an, dass sie nichts sagte, sondern ihm Zeit ließ, sich zu fangen.
Vorsichtig und sich innerlich wappnend, kämpfte er sich Seite um Seite durch das Fotoalbum, das seine Mutter ihm als Erinnerung an seinen Vater in seinen Babyjahren gestaltet hatte. Wenige Monate bevor das Schicksal erneut zugeschlagen und ihm einen weiteren, weitaus herberen Verlust beschert hatte.
Er war als Pflegekind in verschiedenen Familien aufgewachsen. Hatte nie seine eigene gehabt, aber viele andere kennengelernt. Nirgends war er auf Dauer zu Hause gewesen und mehr als dass seine Mutter bei einem Autounfall gestorben war, den er mit neun Monaten unbeschadet überlebt hatte, konnte ihm niemand sagen.
Er kannte Fotos seiner Mutter. In seiner Akte gab es welche. Er erinnerte sich, dass er sie gezeigt bekommen hatte, als er alt genug gewesen war und dass es schon damals schmerzte sie zu sehen. Später hatte es ihn weniger geschmerzt, dafür aber umso wütender gemacht und er hatte die Bilder nicht mehr angeschaut. Das Leben war nicht fair. Manche Dinge waren wirklich nicht für immer, aber die Wut und der Schmerz hatten ihn stets begleitet. Mal das eine, mal das andere mehr oder weniger dominant. Er schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter und verstaute das Album in seiner Umhängetasche. Dann schnappte er sich den Kaffeebecher und verabschiedete er sich von der Sachbearbeiterin, die sich die Mühe gemacht hatte, ihn ausfindig zu machen, nachdem man das Fotobuch bei der Räumung eines Hauses auf dem Dachboden gefunden hatte. Sie hatte auf eine persönliche Übergabe bestanden, vermutlich um ihn zu sehen und sich zu versichern, dass er es verkraftete. Vielleicht auch aus Neugierde oder um am nächsten Tag im Büro etwas zu tratschen zu haben. Wer wusste das schon?
Und wenn er ehrlich war, war es ihm egal. Er wusste auch nicht, was er jetzt mit diesem Fotoalbum machen sollte und ob er es jemals wieder anschauen würde. Was brachte es ihm? Außer Schmerz und die Erkenntnis, dass die Dinge waren, wie sie waren und er sie nicht ändern konnte. Er hatte gewusst, dass er einen Vater hatte und eine Mutter. Er hatte gewusst, dass sie nicht mehr da waren. Dass sie ihn vielleicht nicht freiwillig verlassen hatten. Was änderte es jetzt, wenn er Bilder von ihnen hatte? Bilder waren keine Erinnerungen. Bilder änderten nichts. Auch nicht die Worte. Nichts war dadurch gewonnen, außer dass alte Narben wieder aufplatzten.
Er durfte jetzt nicht in die Vergangenheit flüchten und sich den Gedanken hingeben, was hätte sein können. Was vielleicht gewesen wäre, wenn es anders gekommen wäre. Es war die Zukunft, die vor ihm lag. Er war volljährig. Er hatte sein Leben und er würde es leben. Wenn er aus seinem Schicksal eines gelernt hatte, dann, dass das Leben unberechenbar war und manchmal viel zu kurz. Keiner wusste, wie lange er hatte. Also galt es, das Leben zu genießen, so wie diesen viel zu teuer erstandenen Kaffee, an dem er vorsichtig nippte, um die Kälte aus seinem Körper zu vertreiben und sich abzulenken. Um etwas zu tun zu haben, während er durch den schneidenden Novembernebel eilte. Um in der Masse der Fußgänger unterzutauchen und nicht darin aufzufallen. Um zu verbergen, dass er anders war. Um zu verbergen, was ihn wirklich beschäftigte. Um die Verluste zu kaschieren, die er erlitten hatte.
Für einen Moment zögerte er. Dann warf er den leeren Pappbecher mit dem schalen, längst kalt gewordenen Kaffeerest in den Mülleimer. Er war entschlossener denn je. Er war stark. Sein Leben war halbvoll, nicht halbleer. Das Fotoalbum aber, das behielt er.