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Märchen mal anders: Mondscheinprinz
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Die Pferde tänzeln unruhig mit jedem Schritt, den sich die beiden Reiter dem alten Gemäuer nähern. Zweige und Dornenranken ragen in den schmalen Pfad, dem sie folgen.
Der eine Reiter treibt sein Pferd unbeirrt weiter, immer näher zu dem alten Schloss mitten im Nirgendwo des weiten Waldes, das protestvolle Schnauben der Stute ignorierend.
"Komm schon, meine Gute, wir haben es gleich geschafft."
Der andere Reiter wirkt zögerlicher, was sich bald auf sein Tier überträgt. Es bleibt stehen, unwillig auch nur einen weiteren Schritt auf das Gebäude mit den hoch aufragenden Türmen zuzumachen.
"Ganz ruhig, meine Braune, wir bleiben hier."
Der Reiter schwingt sich vom Pferderücken, streichelt beruhigend über den weichen Hals.
Der andere dreht sich um. "Willst du da Wurzeln schlagen?"
"Ich reite keinen Schritt weiter."
Mit einem theatralischen Seufzen hält auch der Zweite sein Reittier an und steigt ab.
"Gut, ab hier kommen wir mit den Pferden ohnehin nicht mehr voran." Die Zügel in der Hand schreitet der Reiter auf seinen Kompganon zu. Erst jetzt erkennt man im fahlen Licht des Mondes, dass es sich um eine Frau handelt. Die langen Haare sind zum Zopf gebunden und unter einer Kappe verborgen. Nur beim genaueren Hinsehen, erkennt man ihre weichen Gesichtzüge und die weibliche Formen unter ihrem Ledermantel.
"Ich schlage vor, wir drehen um und reiten zurück", erwidert die Wartende. Auch bei ihr handelt es sich um eine junge Frau, die langen schwarzen Haare unter einem Reiseumhang veborgen.
"Wir sind schon so weit gekommen, wir können doch jetzt nicht umdrehen."
"Mich bringst du nicht dorthin." Mit dem Kopf nickt sie in Richtung des Schlosses, dessen Türme sich gegen den wolkenverhangenen Nachthimmel abzeichnen. "Selbst die Pferde spüren, dass das kein guter Ort ist. Schon gar nicht inmitten der Nacht."
Ein protestierender Laut durchbricht die Stille. "Inmitten der Nacht! Dass ich nicht lache! Es ist gerade einmal früher Abend. Du vergisst, wie schnell es hier draußen dunkel wird. Die Pferde spüren allein deine Unruhe."
"Wie du meinst. Ich werde hier warten." Die Hand der Dunkelhaarigen greift nach den Zügeln, nimmt sie der anderen aus der Hand. "Du kannst dich alleine aufmachen und das Schloss erkunden. Es war schließlich auch dein Wunsch hierher zu kommen."
"Gut, wie du meinst." Sie hat sich bereits wieder umgedreht und ihrer Begleiterin den Rücken gekehrt. "Ich werde alleine aufbrechen."
Mit langen Schritten eilt sie davon.
"Aber vergiss nicht, dass das Schloss bewohnt ist. So ungastlich es auch erscheinen mag." Ihre Stimme hallt klar durch die Dämmerung.
Hier draußen singt kein Vogel mehr. Kein Wind weht durch die Zweige. Es wirkt, als stünde die Zeit still.
Aber nichts davon hält die junge Reckin auf. Sie winkt ihrer wartenden Gefährtin ein letztes Mal aus der Ferne. Für eine Antwort ist sie bereits zu weit entfernt. Natürlich weiß sie, wer auf dem Schloss inmitten der Wildnis wohnt. Wie könnte sie all die Geschichten vergessen, die man sich erzählt?
Der Mondscheinprinz wird er genannt. Er soll schüchtern sein, Menschen hassen, erzählen die einen. Sie sogar jagen und verspeisen, erzählen die anderen. Ein Fluch solle auf ihm lasten, berichtet eine Erzählung. Er sei hässlich und entstellt, erzählt eine andere.
Lange genug haben die beiden Frauen im Gasthaus gesessen und den Geschichten über die Gegend gelauscht. Sie kannte solche Legenden. Ein Schloss mitten im Wald. Verwunschen und verwachsen. Stoff für Mythen. Aber dieses war real. Jeder Reisende konnte die Türme von Weitem sehen. Selbstverständlich hatte sie herreiten wollen. Nur um das Schloss mit eigenen Augen zu sehen, hatte sie gesagt. Ihre Begleiterin war skeptisch gewesen. Man solle keine schlafenden Ungeheuer wecken - jedes Kind wisse das. Aber was interessierten Airelle von Feiriland die Märchen, die Ammen ihren Schützlingen erzählen? Sie war erwachsen und den Ammenmärchen entwachsen.
Ihr Blick glitt hinauf zum höchsten Turm. Dort oben solle er Abend für Abend sitzen und je nach Version der Erzählung verirrte Wanderer mit einem verwunschenen Vogel jagen, Trübsal blasen, seine Einsamkeit genießen oder auf Erlösung warten.
Was auch immer es war, sie wollte es herausfinden.
Wolken zogen über den Himmel, verdeckten den Mond. Von einem menschenfressenden Vogel mit entsetzlichen Schwingen war nichts zu sehen. Nicht einmal Wölfe gab es in der Nähe des Schlosses. Nur gegen die dornigen Biester musste sie ankämpfen, die ihr den Weg versperrten.
Endlich stand sie vor dem großen Tor und hob den gusseisernen Klopfer. Einmal. Zweimal. Dreimal. Hatte er es gehört? Er lebte nicht allein.
Eine alte Dienstmagd führte den Haushalt. Die Zahnlose ward alle paar Monate auf dem Markt gesehen, begleitet von einem ebenso betagten Diener. Nie jedoch sah man den jungen Hausherren. Nie sprach auch nur einer der beiden ein Wort.
Würde man ihr aufmachen?
Sie wartete.
Nichts tat sich. Auf dem Turm war keine Regung auszumachen.
Dann endlich ein Geräusch auf der anderen Seite. Es knarzte. Jemand entfernte einen Riegel. Ein kleines Fenster wurde zur Seite geschoben. Niemand sprach, aber sie sah die Augen. Trüb und von Falten umrahmt.
Sie räusperte sich.
"Verzeiht die Störung zu später Stunde. Ich bin unterwegs nach Waldhafen und vom Weg abgekommen. Würdet ihr einer armen Reisenden wohl Unterkunft für eine Nacht gewähren?"
Das Fenster wurde wieder verschlossen. Man ließ Airelle stehen. Sie seufzte, im Begriff umzukehren. Immerhin hatte sie es versucht.
Dann ertönte ein neuerliches Knarzen. Lauter und länger als zuvor. Die Ritterin war versucht, sich die Ohren zuzuhalten, besann sich aber eines Besseren. Sie wollte keinesfalls unhöflich erscheinen.
Das Tor öffnete sich einen Spalt weit. Eine knorrige Hand erschien und befahl ihr Einlass.
Sie zögerte nicht, als sie die Schwelle überschritt.
Dann fiel ihr Blick auf ihr Gegenüber. Die Frau war uralt. Das Gesicht von Falten überzogen, die Haut fahl und durchscheindend. Die Haare grau und strähnig. Ihre Schürze saß tadellos und in ihren knochigen, gekrümmten Fingern hielt sie eine Laterne.
Sie drehte sich um und Airelle folgte ihrem gebeugten Rücken über einen verwahrlosten Burghof, durch einen weiteren Einlass in eine düstere Vorhalle. Beide sprachen kein Wort. Airelle sog alles in sich auf. An den Wänden brannten Kerzen und überzogen die unebenen Steinfliesen mit einem flackernden Schein. Hier und da zweigten ein paar Türen ab und führten ein paar spärlich beleuchtete Durchgänge zu anderen Teilen des Schlosses.
Vor einem schmalen Durchlass, hinter dem einige Stufen nach oben führten, hielt die Alte schließlich an und zeigte hinauf.
"Ich soll da hoch?" Eine Weile schien es, als habe die Dienstmagd sie nicht verstanden, dann aber nickte sie langsam und deutete mit den Fingern ihrer freien Hand nach oben.
Airelle tastete nach dem kurzen Dolch an ihrem Gürtel, ehe sie sich an den Aufstieg machte. In regelmäßigen Abständen beschienen Fackelleuchten die unebenen Stufen. Im Aufgang selbst war es still. Sie wagte kaum zu atmen.
Immer wieder erreichte sie einen Absatz, von dem aus eine Tür abzweigte. Irgendetwas sagte ihr, dass sie dort nichts verloren hatte. Sie musste ganz hinauf.
Stockwerk um Stockwerk schraubte sich der Turm nach oben. Bald öffneten sich schmale Fenster, die einen Blick auf den dunklen Nachthimmel freigaben. Wie viel Zeit wohl bereits verronnen war?
Ein Lufthauch umwehte Airelle. Wenn sie durch die Spalten im Mauerwerk hinuntersah, sah sie nichts als den wilden Wald, der sie umgab. Sie war mitten im Nirgendwo. Irgendwo da draußen wartete Boise mit den Pferden, wenn sie nicht längst auf und davon war.
Für Airelle gab es nur einen Weg. Immer weiter. Immer nach oben.
Stufe für Stufe. Absatz für Absatz, bis sich der Luftzug verstärkte und der Lichteinfall sich veränderte. Vor ihr erstreckte sich keine weiteren Stufen mehr, sondern sie blickte auf Wolken und Vollmond.
Am Rand stand eine Gestalt. Sie erkannte nur den Umriss. Er stand aufrecht, trug einen Umhang, der Haare verdeckte und seine Figur verhüllte. Er war groß. Airelle zögerte am Ende der Treppe, räusperte sich.
"Verzeiht die Störung", sprach sie. "Ich bin Airelle von Feiriland. Eure Dienstmagd wies mir den Weg."
Er zeigte mit keiner Regung, dass er sie gehört hatte. Nur seine Finger, die auf der Brüstung lagen, krallten sich fester ins Mauerwerk.
Dann drehte der Mondscheinprinz sich um. Langsam, fast zögerlich und Airelle erstarrte.
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[Ich liebe offene Enden]
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[Nachtrag]
Ein Augenpaar von der Farbe des fahlen Mondes bohrte sich in ihre Haut. Sein Gesicht glich der Scheibe am Himmel, blass und leer. Keine Gefühlsregung spiegelte sich darin wider. Er schaute sie einfach nur an, wie er zuvor die Landschaft unter sich betrachtet hatte. Wie als wäre er weit weg und als würde ihn all das nichts angehen.
Airelle verharrte an Ort und Stelle. Dann gab sie sich einen Ruck. "Verzeiht mein Eindringen. Ich werde wieder gehen."
Langsam und ohne sich umzudrehen, wandte sie sich dem Durchlass zu, der sie wieder hinunter führen würde.
Dann veränderte sich etwas an der Haltung des Prinzen. Er blinzelte und sein Blick fokussierte sich. Seine Hände lösten sich aus der Umklammerung, mit der er sich noch immer an der Brüstung abstützte. Er trat einen Schritt auf sie zu und mehrere Dinge geschahen zeitgleich. Ein Windstoß blies ihm die Kapuze vom Kopf und wirbelte dunkle Strähnen um sein Gesicht. Er machte einen weiteren Schritt auf sie zu, hob seine Hand.
Am Himmel schob sich ein Wolkenfetzen vor den Mond. Er strich sich die Haare aus dem Weg. Sein Mund bewegte sich. Der Wind pfiff. Sonst war kein Laut zu vernehmen. Airelle erstarrte erneut, unfähig einen weiteren Schritt zu machen, die Hand auf dem Dolch an ihrem Gürtel.
"Verzeiht meine Manieren." Seine Stimme klang rau, wie als würde ihn jedes Wort schmerzen. "Bleibt!" Lange hallte dieses eine Worte zwischen ihnen.
"Bitte." Es glich einem Flüstern.
Airelle nickte, noch immer nicht in der Lage, ihren Blick von seinem Gesicht loszureißen. Mondscheinprinz, welch passender Name. Alles an ihm war blass und vornehm. Die edel geschnittenen Gesichtszüge, die große Gestalt, die leuchtenden Augen.
Und dann stand er direkt vor ihr, schaute auf sie hinunter. Sie spürte kaum, wie sich eine Hand auf ihre Wange legte. Lange standen sie sich so gegenüber und blickten sich tief in die Augen.
"Endlich bist du gekommen, Mondscheinprinzessin. Meine versprochene Erlöserin und Retterin zu später Stunde. Längst schon hatte ich jede Hoffnung begraben."
"Ich bin da", hauchte sie.
Und endlich legten sich seine Lippen auf ihre. Der Fluch ward gebrochen.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann stehen sie da noch heute.
In dunklen Nächten, bei Wind und Vollmond, richte deinen Blick hinauf zum höchsten Turm, dort kannst du sie stehen sehen, eng umschlungen, vom Mond beschienen.
Airelle von Feiriland indessen, ward niemals mehr gesehen.