Nebel zog aus dem Tal auf. Dicker, grauer Nebel.
Der Mann warf einen skeptischen Blick aus dem Fenster. "Heute ist wieder so ein Scheißwetter."
"Sei froh, dass du nicht aus dem Haus musst", rief ihm seine Frau zu, während sie das Vesper in der Tasche verstaute - die Kantine war noch immer geschlossen - und in letzter Minute zur Arbeit hetzte. "Vergiss nicht, Lukas muss noch Englischvokabeln lernen", rief sie in die Wohnung, bevor die Tür hinter ihr ins Schloss fiel. Auf eine Antwort hatte sie nicht mehr gewartet. Im Geiste machte sie sich eine Notiz, ihn in der Frühstückspause daran zu erinnern oder noch besser, gleich eine Nachricht an alle in der Familien-WhatsApp-Gruppe zu schreiben.
Sicher war sicher. Lukas würde das safe vergessen, wie man heutzutage neudeutsch so schön sagte.
Kaum ein Auto war unterwegs, sodass sie ihren Gedanken nachhängen konnte. Der Weg zur Arbeit lief auf Autopilot. Die Scheinwerfer durchdrangen kaum das Grau des Nebels. Die Welt versteckte sich zu beiden Seiten der Straße in schemenhaften Umrissen. Ob dort Feld oder Wald oder Dorf oder Stadt lag, wusste sie nur, weil sie tagaus, tagein dieselbe Strecke fuhr. Hin. Zurück. Das Novemberwetter passte zu ihrer trüben Stimmung. Welcher Lichtblick lag eigentlich voraus? Weihnachten? Noch immer war nicht sicher, wie man das Fest verbringen würde. Die Infektionszahlen stiegen wieder. Ihre Großeltern hatten einen Besuch längst abgelehnt. Im Radio dudelten die Nachrichten. Irgendeine Konferenz der Politiker. Sie kam schon lange nicht mehr mit. Es interessierte sie kaum noch. Heute wurde das, morgen dies beschlossen und dann machte man doch wieder etwas anderes. Corona hatte seinen Schrecken verloren. Vielleicht war das der Grund für die schleppende Impfquote.
Sie setzte den Blinker, aus Pflichtgefühl, nicht weil jemand hinter ihr fuhr und bog ab. Die Straße gehörte ihr. Niemand auf weiter Flur.
Lichtblicke? - fragte sie sich. Die kinderlosen Nachbarn hatten ihren jährlichen Skiurlaub in den Bergen gebucht. Die ledige Kollegin schwärmte von einem geplanten Wellness-Wochenende.
Sie seufzte. Ihr Mann hatte keine Urlaubstage mehr. Die waren für die Kinderbetreuung im Lockdown draufgegangen. Fast schon wünschte sie sich, die Pläne ihrer Bekannten würden auch dieses Jahr durchkreuzt werden. Aber Neid war kein guter Ratgeber und sie zwang ihre Gedanken in eine andere Richtung. Wenn Lukas älter war, würden auch sie wieder die Zweisamkeit genießen und es zu schätzen wissen.
Wenigstens sind wir gesund, redete sie sich ein, haben krisensichere Arbeit. Ein gutes Einkommen. Können Lukas etwas bieten und vielleicht ist im Sommer auch wieder ein richtiger Urlaub möglich.
Lag es am Wetter, der Jahreszeit an sich oder der aktuellen Situation, dass ihre Gedanken immer wieder ins Trübe abglitten?
Und der Weihnachtsmarkt war auch abgesagt worden. Das Jahreskonzert des Blasorchesters ebenfalls.
Der Arbeitstag zog sich in seiner ermüdenden Eintönigkeit in die Länge. Keiner wusste irgendetwas Spannendes zu berichten, in der Zeitung ein gefühltes Deja-Vue der immer gleichen Schreckensmeldungen und nebenher erledigte man seine Arbeit. Irgendwann war auch diese Pflicht überstanden. Natürlich fiel ihr die WhatsApp-Nachricht erst wieder im Auto auf dem Weg nach Hause ein. Zu spät. Jetzt machte es auch keinen Sinn mehr, anzuhalten und die Nachricht zu schreiben. Vielleicht hatte ihr Mann auch so daran gedacht? Oder ihr Sohn? Sie lachte und schüttelte den Kopf. Never ever.
"Hat Lukas seine Vokabeln gelernt?", rief sie schon beim Öffnen der Haustür. Keine Antwort. Also erst einmal Schuhe ausziehen, Jacke verstauen und die Vesperbox aus der Tasche holen.
Im Treppenhaus zog ihr ein köstlicher Duft in die Nase. Im gleichen Moment knurrte ihr Magen. Sie war hungrig. Und müde. So unglaublich erschöpft. Zum Einkaufen hatte es nicht gereicht. Was sie heute wohl auf den Tisch bringen konnte. Sie schnupperte. Bratenduft. Jemand ihrer Nachbarn zauberte. Was blieb einem auch übrig?
Sie folgte dem Duft und stand wenige Minuten später perplex in der eigenen Küche. Dort standen ihr Mann und ihr Sohn einträchtig am Herd. Etwas brutzelte im großen Bräter, der Herd surrte vor sich hin und auf der Arbeitsfläche tummelten sich Schneidewerkzeug, Messer, Schüsseln und Küchenabfälle.
"Das riecht aber köstlich", stellte sie fest.
Dann fiel ihr Blick auf den Gegenstand, der zwischen all den Küchenuntensilien aufgeschlagen ein Plätzchen gefunden hatte. Ungläubig weiteten sich ihre Augen. "Sag bloß", sagte sie.
"Ja", nickte ihr Sohn. "Papa hat mich abgefragt, während wir gekocht und ich den Kloßteig geknetet habe. Ich konnte alle Vokabeln." Stolz schwang in seiner Stimme mit. Und auf einmal fühlte sie sich auch stolz. Stolz und glücklich. Das war ihre Familie. Ihr Zuhause. Was brauchte man mehr?
Ihr Mann lächelte und zog sie in seine Arme.
"Willkommen zuhause, Schatz. Wir waren einkaufen und haben spontan beschlossen, gemeinsam zu kochen."
Und schau dort, da war ihr Regenbogenschimmer am Horizont. Nicht in der Ferne, sondern im Herzen lag er, wo man ihn nicht immer sehen konnte, aber nie aus den Augen verlor.