Ein Märchen aus alter Zeit
Die Augen des Jungen folgten den gleichmäßigen Bewegungen des Schaukelstuhls. Er selbst saß auf dem Fußboden. Das rhythmische Auf und Ab spiegelte sich in seinen Füßen wieder, die er übereinandergeschlagen hatte und die bei jeder Vorwärtsbewegung im Takt wippten. Seine Ohren jedoch lauschten der Geschichte der alten Aaida. "Es war einmal vor sehr langer Zeit", begann sie und hielt inne. "Wisst ihr, die Ereignisse von denen ich euch heute erzähle sind schon so lange her, dass wir Menschen längst nicht mehr wissen wann sie gespielt haben oder wo genau sich dieses Ereignis zugetragen hat."
Das Mädchen hatte die Augen geschlossen, um ja kein Wort zu verpassen.
"Aber es ist umso wichtiger, nicht zu vergessen, was damals war und sich zu erinnern, dass diese Ereignisse der Grund sind, wieso wir heute hier sind."
Aaida schaute die beiden Kinder zu ihren Füßen an und Victor nickte, aber Sophie reagierte nicht. Erst als Victor das Mädchen mit dem Ellenbogen anstieß, öffnete sie ihre Augen, sah den Blick der alten Erzählerin auf sich gerichtet und nickte eifrig. "Ja, ich weiß. Wir müssen aus den Erfahrungen der alten Zeit lernen, damit sich solch eine Kathastrophe nicht wiederholen kann." Sie seufzte und Aaida tätschelte ihr über die blonden Locken, ehe sie fortfuhr.
"Nun es kam eine Zeit, da änderte sich das Leben auf der Erde gewaltig. Nichts mehr war mehr so wie vorher. All die Antworten, die die Wissenschaft im Laufe von Jahrhunderten gefunden hatte, passten plötzlich nicht mehr auf die Fragen. Und auch wenn die Menschen neue Fragen stellten, so fanden sie keine Antworten."
Aaidas alte Augen musterten die Kinder. Dieses Mal war es Sophie, die nickte, während Victor auf seiner Unterlippe kaute.
"Das Zeitalter der großen Suche brach an", ergänzte Sophie und Victor öffnete den Mund. "Aber was die Menschen auch taten, sie fanden keine Lösung."
Dieses Mal nickte die alte Frau. "Richtig, ihr habt im Unterricht gut aufgepasst, wie ich sehe. Die Menschen hatten jahrelang gewusst, dass sie nicht endlos so würden weitermachen können. Selbst die Kinder lernten es damals in der Schule. Aktivisten warnten, Politiker mahnten, aber die Welt war uneinig. Keiner wollte der erste sein, der verzichtete und so richtete man die Erde zugrunde." Jetzt konnte Aaida ein Seufzen nicht mehr zurückhalten. Auch wenn sie selbst diese Zeit nicht mehr erlebt hatte, da schon ihre Urururenkel an Bord der Restart geboren worden waren. Aber jeder dachte mit Wehmut an die Alte Zeit und die alte Heimat zurück.
"Die Menschen hatten jahrelang über ihre Maßen gelebt. Die Erde war zu voll geworden. Kein Mensch konnte sich mehr umdrehen, ohne von dem Ellenbogen eines anderen getroffen zu werden. Sie kämpften um Nahrung und Wasser, hatten die Ressourcen längst aufgebraucht und ihren Planeten überhitzt."
Sie machte eine Pause und auch die beiden Kinder hielten den Atem an.
"Keiner weiß mehr, was dann geschah. Die Wissenschaftler vermuten, dass ein Virus die Erde heimsuchte und ideale Bedingungen vorfand."
"Der Mensch wurde dem Mensch zum Feind", warf Sophie ein.
Auch Victor wollte zeigen, dass er im Unterricht aufgepasst hatte. "Es gab ein Massensterben und kein Wirkstoff schien zu helfen."
"Genau", nahm Aaida den Faden wieder auf. "Das goldene Zeitalter der Menschheit war vorüber. Menschen wurden massenhaft dahingerafft. Es schien als wäre das Ende einer Ära erreicht."
Victors Augen klebten an ihren Lippen und Sophie hatte den Kopf in die Hände gestützt und die Lider geschlossen.
"Aber im allerletzten Moment gelang es einer Handvoll Pioniere sich zusammen zu tun und auf eine rettende Idee zu einigen. Das Projekt Restart war geboren. Unsere Vorfahren kratzten ihre letzten Reserven zusammen und nahmen all ihren Mut. Sie hatten nur noch diese eine Chance und starteten in eine neue Zukunft - in unsere."
Aaidas faltige Hände klopften auf die Lehne ihres Schaukelstuhls.
"Aber es war keine einfache Reise. Sie wussten nicht, wohin es sie führen würde."
"Das wissen wir auch noch nicht", warf Sophie in.
"Stimmt, mein Kind", pflichtete die alte Frau bei. "Und es gab viele Rückschläge. Die ersten Pioniere mussten sich isolieren und in Quarantäne bleiben, bis sicher war, dass das Virus ausgemerzt war und sich nicht auf ihrem Raumschiff verbreiten würde. Es starben so viele, dass man fürchtete das Projekt sei gescheitert."
"War es aber nicht", wand Victor ein. "Man konnte das Virus besiegen."
"Besiegen ist das falsche Wort", berichtigte Aaida. "Es gelang ihnen, die Ansteckungskette zu unterbrechen, bevor es zu spät war. Irgendwann fand es einfach keine Wirte mehr und verhungerte. Aber ihr dürft nicht vergessen, dass wir bis heute noch nicht wissen, um was für einen Erreger es sich handelt und noch immer kein Gegenmittel haben. Es mag vielleicht eine Geschichte aus alter Zeit sein, aber vergesst nie, wie wichtig es ist, dass ihr eure Masken auflasst, sonst war all unsere Reise am Ende vielleicht doch umsonst."
Dieses Mal nickten Victor und Sophie simultan. Kein Kind auf der Restart würde jemals die Regeln missachten und kein Senior würde vergessen, seiner Pflicht nachzukommen und die Erinnerungen wach und lebendig zu halten.
"Ihr seid unsere Zukunft. Du bist ein kluges Mädchen, Sophie", sie tätschelte der Kleinen den Kopf. "Und du bist ein Sieger, Victor. Vergess das nie."
Sie seufzte. "Ich mag es vielleicht nicht mehr erleben, aber wer weiß, ihr werdet vielleicht eines Tages auf einer neuen Erde ankommen und ein neues Leben beginnen. Wer weiß, vielleicht wird es sogar wieder eine goldene Ära der Menschen geben. Nein, ich glaube sogar fest daran. Die Hoffnung stirbt zuletzt."
Victor und Sophie stimmten in ihre letzten Worte mit ein, so wie man es ihnen beigebracht hatte. "Die Hoffnung stirbt zuletzt."
Bis auf das gleichmäßige Summen des Motors ihres Schaukelstuhls war es leise. Dieses Mal war es Aaida, deren Augen sich geschlossen hatten, aber ob sie mit ihren Gedanken in der Vergangenheit oder der Zukunft weilte, wusste keiner der beiden.