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Der Fluch der Zigeuner
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"Sie kommen!", rief Johann aufgeregt und rannte den Hügel ins Dorf hinunter, so schnell ihn seine kurzen Beine trugen. "Sie kommen!", hallte es schon von weitem zu den einfachen Hütten und Viehverschlägen aus Lehm und Holz. Johanns drei Jahre ältere Schwester Herta folgte in gemäßigtem Tempo und mit gebührendem Abstand, aber nicht weniger aufgeregt.
Die Mutter schmunzelte, als sie ihre beiden Kinder so vor sich stehen sah, den Sohn mit roten Bäckchen und die Tochter mit glänzenden Augen.
Gerade stopfte sie den letzten Schleifstein in einen viel zu engen Verschlag für all die Werkzeuge ihres Mannes und drückte das Tor zu. Johann beobachtete ein wenig atemlos, wie sie einen Querbalken vorlegte und einige Futterkübel direkt vor dem Eingang platzierte.
"Was machst du da, Mutter?"
Aber es war Herta, die ihm antwortete, gerade als die ersten Umrisse der Planwagen auf der Kuppe zum Dorfplatz zu sehen waren. "Das machen wir immer so, wenn das Fahrende Volk kommt."
Um nicht noch dümmer dazustehen, verkniff sich Johann seine nächste Frage.
Das Gras auf dem Gemeindehanger war niedergemäht worden, damit die Händler und Schausteller dort ihre Zelte und Behelfsunterkünfte aufschlagen konnten. Johann und die andern Dorfbuben hatten staunend am Rand gestanden und zugeschaut, wie die Zeltplanen in Windeseile aufgespannt und Pflöcke in den Boden gerammt worden waren. Jetzt stand das Vieh der Gäste in kleinen Gehegen und um ein großes Lagerfeuer reihten sich die Zelte ihrer Besitzer. Johann sog den würzigen Duft des Feuers ein und lauschte den Klängen. Jemand spielte ein Instrument und eine Frau sang und klatschte dazu.
Gegen Abend kamen die ersten Erwachsenen, um Neuigkeiten aus den umliegenden Dörfern zu erfahren und Johann und seine Freunde trauten sich in ihrem Schutz näher heran. Auch Herta und ein paar Mädchen folgten schüchtern.
Gespannt lauschten sie der Erzählung der alten Frau. Johann hatte seinen Blick starr auf die tanzenden Flammen gerichtet und sah die Wälder, die wilden Wölfe und Bären aus der Geschichte vor seinem inneren Auge. Herta indessen, hatte die goldenen Armreifen der Alten fixiert, in denen sich bei jeder ihrer ausschweifenden Bewegungen die Flammen widerspiegelten. Ihre Gedanken waren ganz wo anders.
Und so kam es, dass Herta nach Beendigung der Geschichte als einzige noch saß, wärend die anderen bereits aufgestanden waren, um sich auf den Heimweg zu machen. Der Vollmond stand hoch am Himmel und die Sterne funkelten um die Wette, aber in Hertas Augen glitzerte nur der Schein der goldenen Reifen.
"Na mein Kind", bemerkte die Alte, während ihre runzeligen Finger nach der glatten Mädchenhand griffen. "Dann wollen wir doch mal sehen, was die Zukunft für dich bereithält." Herta hielt vor Überraschung und Aufregung den Atem an, konzentrierte sich ganz und gar auf die schwielige Berührung auf ihrem Handteller und das Klimpern, das die Armreife dabei erzeugten. Die Alte hatte ihre Augen geschlossen, ihr Gesicht war Herta so nahe, dass sie den Atem der Zigeunerin auf ihrer Haut spüren konnte.
Ihr Bruder, die anderen Jungen, Mädchen und die Erwachsenen, die schon dabei gewesen waren, sich zu verabschieden und den Rückzug anzutreten, drehten sich um und schauten gebannt auf die beiden.
Erst nach einer ganzen Weile öffnete die Alte ihre Augen und starrte Herta aus ihren dunklen Augen an. Erneut hielt Herta den Atem an, sie zitterte. Teils aus Angst, die Alte könnte ihre Begierde gesehen haben, teils aus Aufregung, was das Weib wohl in ihrem Handteller gelesen haben könnte. "Mein Kind", begann sie und ließ ihre schwieligen Finger über Hertas Wangen gleiten. "Ich sehe, du weißt genau, was du willst. Und ich sehe auch, dass du nicht eher ruhen wirst, als bis du es bekommen hast. Das, mein Mädchen, ist eine gute Eigenschaft, die manchmal zu bösen Ergebnissen führt."
Noch lange danach kreisten die Worte durch Hertas Kopf und sie meinte, auch den Druck der runzeligen Hände noch immer auf ihrem Gesicht zu spüren. In dieser Nacht fand das Mädchen wenig Schlaf. Die Unruhe trieb sie in aller Herrgottsfrühe aus den Federn.
Noch vor dem ersten Schrei des Hahnes stand sie im Verschlag der Hühner und verrichtete ihre Arbeit. Allerdings war sie dabei so unkonzentriert, dass sie die Körner verschüttete und ihr die Eier aus den Händen fielen und zu Bruch gingen. Ärgerlich musterte Herta die Spritzer auf ihrer Schürze. So konnte sie unmöglich in den Tag starten, aber sie musste ohnehin zum Brunnen, um frisches Wasser zu holen, dabei konnte sie den Stoff säubern.
Das Dorf lag noch ruhig und verschlafen im ersten Dämmerlicht des Tages. Es musste wirklich noch sehr früh sein. Nur aus den Schloten der Schmiede und der Wagnerei stiegen erste Rauchschwaden in den Morgenhimmel. Die Handwerker heizten gerade ein. Aus der Backstube drang ihr ein köstlicher Duft entgegen. Der Bäcker war stets der erste, der seiner Arbeit nachging.
Sie begegnete keiner Menschenseele auf der Dorfstraße. An den meisten Häusern waren die Fensterläden noch zugezogen. Herta liebte die frühen Morgenstunden, wenn sie die Welt für sich hatte und sich ihren Träumen hingeben konnte.
'Du weißt genau, was du willst', hatte die Alte gesagt, und dass es eine gute Eigenschaft sei. Sie seufzte. Ja, sie wusste genau, was sie wollte. Hatte davon geträumt, seitdem sie ein kleines Mädchen war.
Herta spürte kaum die Wasserflecken auf ihren Röcken. Auch merkte sie kaum, wohin sie ihre Schritte lenkten. Der Eimer stand vergessen am Brunnenrand. Niemand kreuzte ihren Weg, um sie ins Hier und Jetzt zurückzuholen oder, um ihr irritierte Blicke zuzuwerfen, die ihr mitteilten, dass sie in die falsche Richtung lief.
Nichts und niemand verhinderte, dass Herta ihre Schritte zum Dorfhanger führte. Auch das Lager der fahrenden Leute lag noch verlassen da. Vereinzelt drangen Schnarchlaute aus den Zelten. Sie erinnerte sich daran, was ihr Vater über die Fremden gesagt hatte: Das sind Leute der Nacht. Sie tanzen, feiern und trinken bis spät in die Nacht, wenn artige Leut schon lange schlafen.
Das Feuer des vergangenen Abends war verglüht. Nur die Asche lag schmutziggrau im fahlen Morgenlicht. Ein trauriges Überbleibsel der ausgelassenen Stimmung.
Dann stand sie vor dem Zelt der Alten. Es war ein einfaches Zelt aus gegerbten Tierhäuten. Auf die vernähten Lederstreifen waren Tierfelle gebunden, die vor Kälte und Nässe schützen sollten. Vorsichtig strich Herta darüber und fragte sich, ob die Felle von den Wölfen und Bären aus der Geschichte stammten.
Vor dem Zelteingang wehten bunte Bänder. In manche waren Perlen oder Muscheln eingeflochten. Sie wehten träge in der leichten Brise. Sicher hatte sie die Alte selbst geknüpft. Herta schaute sich um. Niemand war zu sehen. So leise sie konnte schlupfte sie ins Innere. Schnell hatten sich ihre Augen an das dämmerige Licht gewöhnt. Die Seherin schlief tief und fest. Jeder ihrer Atemzüge wurde von einem lauten Schnarchen begleitet. Da, auf einem niedrigen Höckerchen in einer Schale aus Holz lagen sie. Herta musste nur zugreifen und sie in die Taschen ihrer Schürze stecken. Keiner bemerkte ihr Kommen und niemand sah sie gehen. Es war ganz leicht gewesen. Beflügelt eilte sie nach Hause und dachte sogar noch daran, den verlassenen Eimer am Brunnen mitzunehmen.
Gerade rechtzeitig erreichte sie die Hütte der Eltern und machte sich brav an ihre Aufgaben, ehe Mutter oder Vater etwas bemerken konnte.
Immer wieder tasteten ihre Finger nach dem Kleinod in ihrer Tasche. Sie würde sie nie tragen können. Es musste ihr Geheimnis bleiben. Den ganzen Tag über schwebte sie wie auf Wolken.
Erst gegen Abend kam das Erwachen als Johann und die Eltern sich zum Gemeindehanger aufmachten. Ihre diebische Freude wich purem Entsetzen. Was hatte sie getan? Sie würde der Alten nicht unter die Augen treten können und musste zuhause bleiben.
Mit den Goldreifen in der Hand lag Herta auf ihrem Bett und heulte sich die Augen aus. Bestimmt würden die Fremden gleich wütend hereinstürmen und ihr den Schmuck entreißen. Mit Sicherheit wusste die Wahrsagerin, wer die Diebin war, aber sie brachte es nicht über sich, aufzustehen, sich aufzuraffen, sie zurückzugeben und sich zu entschuldigen. Herta schluchzte nur um so verzweifelter. Aber keiner kam. Erst Stunden später, ihr Heulen war längst in ein Schniefen übergeganen und dann allmählich ganz verstummt, kehrten die Eltern und der Bruder nach Hause.
Nur die Mutter schaute kurz nach ihr, ehe sie schlafen ging.
Einige Tage später brachen die fahrenden Leute wieder auf und zogen weiter.
Das schlechte Gewissen, der Fluch der Zigeuner, aber blieb bei Herta zurück.