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Die Minute vor Mitternacht
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Wie ein Nachtvogel senkt der Beobachter seinen Blick hinab zu den beiden Gestalten. Seine Augen sind scharf, ihm entgeht keine Kleinigkeit. Er sieht alles. Auch die beiden Gestalten hoch oben auf dem Turm weit unter ihm.
"Das gefällt mir überhaupt nicht", äußert der Kapuzenmann. Sein Gesicht liegt verborgen hinter dem schützenden Stück Stoff. Der andere nickt und lässt einen bedächigtigen Blick über die Umgebung schweifen. Auch seine Gestalt ist mit einem weiten Gewand verhüllt.
"Mir auch nicht. Das sieht gar nicht gut aus und das werden die auch nicht wieder in Ordnung bringen", brummt er.
"Du hast Recht", stimmt ihm der andere zu. "Da ist wirklich jede Hoffnung verloren."
Resigniert lässt er seine Hände auf die Brüstung des hohen Turmes sinken und seufzt. Die beiden wissen längst, dass alles dem Untergang geweiht ist. Unausweichlich schreitet die Zeit voran, es ist nur noch eine Frage derselben. Wolken ziehen am dunklen Himmel vorüber. Die volle Scheibe des Mondes ist das einzige Licht, das auf sie herunterscheint, wenn es ab und zu einen Weg durch die Wolkendecke findet.
"Wir müssen handeln", wirft der Zweite ein. Auch das wissen beide längst. Sie sind nicht nur unbeteiligte Beobachter, nein, es liegt an ihnen, einzuschreiten, wenn die Erde Feuer gefangen hat.
Und das hat sie. Sie brennt längst, an allen Ecken und Enden.
Auch die zweite Gestalt lässt die Hände auf die Mauerkrone sinken und beobachtet die mühsamen Versuche der Menschen, die unzähligen Brennpunkte wieder in den Griff zu bekommen. Aus der Höhe sehen sie aus wie wuselnde Ameisen, unorganisiert und chaotisch. Sie erreichen nichts.
Weite Landstriche brennen. Die Ozeane, leergefischt und vermüllt, sind viel zu warm, die Polkappen zu stark geschmolzen, die Regenwälder abgeholzt, Tiere und Pflanzen ausgerottet, die Menschen auf der Flucht. Es ist ein Anblick des Elends.
Die beiden beobachten den Verfall schon viel zu lange. Die Schreckensbilder haben längst ihr Grauen verloren. Sie sind nur noch müde und resigniert.
"Du hast Recht", pflichtet der Erste bei. "Wir müssen tun, wozu wir hier sind." Er stößt sich von der Mauer ab und richtet sich auf.
Auch der andere erhebt sich und schaut ein letztes Mal prüfend auf die Erdenlande. "Wirklich schade. Dabei sah es zu Zeiten der Aufklärung wirklich gut aus und ich war felsenfest überzeugt, die schaffen das."
Sein Begleiter winkt ab. "Da hast du dich stark getäuscht. Die Menschen sind schon im Mittelalter falsch abgebogen. Da bestand nie die Chance, dass sie die Kurve noch mal kriegen. Und dieser Virus, der hat ihnen jetzt endgültig den Gar ausgemacht. Nur Egoismus wohin du siehst. Da kümmert sich keiner um den anderen."
"Wirklich schade", pflichtet der Zweite bei. "Es ist eine Minute vor Mitternacht. Die Zeit ist abgelaufen. Lass uns loslegen."
Der Erste nickt, entfaltet seine Flügel und zückt sein Flammenschwert. Gabriel folgt Michaels Beispiel.
Entschlossen gleiten die beiden Erzengel hinunter. Die Stunde der Abrechnung naht.
Der Beobachter hoch oben folgt ihnen. Dieses Schauspiel lässt er sich nicht entgehen. Das hat es seit der Vertreibung aus dem Paradies nicht mehr gegeben. Aber es ist gleich Mitternacht. Die Zeit ist um.