18:33 Let' go. Heyho.
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Dämmerlicht
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Ich steh im Dämmerlicht. Du siehst mich nicht.
Hier im Schatten, werd ich auf dich warten.
Ich steh im Dämmerlicht. Du spürst mich nicht.
Schaust mir mitten ins Gesicht.
Bewegst dich nicht.
Nimm dich in Acht, die Nacht erwacht.
Mit eiligen Schritten fliegt das kleine Mädchen über den unebenen Waldweg. "Sei ja vor Einbruch der Dunkelheit zurück. Und denk daran, im Wald geht die Sonne schnell unter", erinnert sie sich noch zu deutlich an die Worte der Mutter.
Aber die wilden Blumen am Wegrand waren so verlockend. Bestimmt wird die Muttern sich darüber freuen. Die blonden Zöpfe des Mädchens wippen bei jedem Schritt, obwohl sich der Großteil der Haare bereits gelöst und einen Weg in die Freiheit gesucht haben.
Den Blumenstrauß hält sie in der einen Hand, mit der anderen hält sie sich Ranken und Zweige vom Leib, die wuchern wohin man blickt.
Sie hätte viel früher aufbrechen müssen und sie weiß es genau.
Noch etwas anderes weiß sie: Die Blumen werden ihre Mutter nicht besänftigen. Sie wird sich etwas anhören dürfen, wenn sie nach Hause kommt.
An ihrer Schürze baumelt ein Beutel. Er ist gefüllt mit den wilden Kräutern, Bärlauch und Waldmeister, die zu sammeln sie losgeschickt wurde. Am späten Mittag, bei strahlendem Sonnenschein. Die Kräuter verbreiten ihren würzigen Duft. Es gelingt ihnen aber nicht, die Wärme des Tages zu halten. Es wird bereits kühl und obwohl sie rennt, so schnell die kleinen Füße es vermögen, fröstelt sie bereits. Die Sonne steht nicht mehr hoch oben über den Bäumen. Das Mädchen blickt hinauf. Von ihrer glänzenden Pracht ist nichts mehr zu sehen. Etwas raschelt stattdessen im Unterholz. Eine Gänsehaut breitet sich auf ihren Armen aus.
Sie wirft den Blick zu den dicht wachsenden Büschen und Sträuchern zu ihrer Seite, dann zurück auf den Pfad vor sich. Der Weg ist eher ein Trampelpfad, stark verwachsen, kaum benutzt, außer von ihr und von wilden Tieren.
Es dämmert bereits. Die Schatten werden länger, die Farben, die am Mittag noch sattgrün und hell waren, dunkler und bedrohlicher.
Sie hat noch ein ganzes Stück Weg vor sich, bis zur Hütte am Waldrand, in der ihre Eltern leben.
Aus dem Rascheln wird etwas anderes. Nichts, was ein Vogel im Geäst verursachen würde. Es klingt schwerer, dumpfer als bewege sich jemand mit großer Masse durch das Gestrüpp. Es knistert, raschelt und knackt.
Ein Reh vielleicht? Oder ein Fuchs? Ein Wildschwein auf Futtersuche?
Sie hat schon öfter welche aufgeschreckt. Aber auch jetzt hält sie nicht inne. Ihr Atem geht keuchend, stoßweise. Vielleicht sollte sie die Blumen fallenlassen, aber sie bringt es nicht übers Herz. Nicht, nachdem sie Stunden damit verbracht hat, die schönsten zu suchen und aufzunehmen. Nur noch ein Stück. Das Rascheln verfolgt sie wie ein Schatten.
In diesem Teil des Waldes wachsen die Bäume hoch und dicht. Ihre Füße sind umsäumt von üppigem Grün. Hier wächst nichts Brauchbares, pflegt ihr Vater immer zu sagen. Ein verwunschenes Stück Wald. Unzählige Legenden und Ammenmärchen ranken sich um diesen wilden Teil des Waldes. Wer Kräuter und Pilze sammeln will, muss ihn durchqueren. So wie sie es am Mittag getan hat.
Der Pfad macht einen weiten Bogen durch diesen Urwald. Es ist nicht so, dass die Menschen den Weg bereitet haben, sondern den Weg dort bereiten mussten, wo der Wald sie ließ. Sie schaut sehnsüchtig auf die dunkle Wand, hinter der irgendwo ihr Elternhaus liegt. Wenn sie einen direkten Weg wählen könnte, wäre sie im Nu zuhause. Die Hütte liegt direkt hinter dem Saum der Bäume. Ihre Schritte werden kleiner, langsamer. Sie kann nicht mehr. Hält sich keuchend die Seiten. Nur noch diesen Umweg, dann ist sie fast zuhause. Bestimmt steht ihre Mutter schon vor der Hütte und hält nach ihr Ausschau.
Es ist ruhig geworden. Das Gezwitscher der Vögel zu einem stummen Hintergrundgeräusch verklungen. Sie meiden diesen unwirtlichen Teil. Aber ich bin klein und flink, denkt sie und macht einen ersten prüfenden Schritt abseits des Weges. Sie kann sich ducken und durch die kleinste Lücke schlupfen. Gesagt, getan. Schnell hindurch unter den Schwarzdornranken, hinein ins Labyrinth aus Geäst und Gewucher. Obendrüber, untendurch. Ein Teil des Waldes werden. Mit ihm verschmelzen. Immer weiter, immer fort.
Die Gedanken an ihr Zuhause rutschen zeitgleich immer weiter fort. Sie ist eins mit ihrer Umgebung. Die Dornen können ihr nichts anhaben. Sie findet einen Durchlass durch das dichteste Buschwerk. Es ist still. Beinahe zu still. Aber Stille ist friedlich. Der Wald ist friedlich. Die Blumen in ihrer zerkratzten Hand haben gelitten. Trotzdem hält sie daran fest. Weit kann es nicht mehr sein. Sie ist fast da. Suchend schaut sie sich um. Aber da ist kein Waldrand. Da ist kein Ende in Sicht. Der Wald öffnet sich nicht. Nur Dämmerlicht.
Ich steh im Dämmerlicht. Du siehst mich nicht.
Hier im Schatten, werd ich auf dich warten.
Ich steh im Dämmerlicht. Du spürst mich nicht.
Schaust mir mitten ins Gesicht.
Bewegst dich nicht.
Nimm dich in Acht, die Nacht erwacht.