Augenblicke, die das Leben verändern, bleiben einem besonders in Erinnerung. Der Vollmond hing hoch am Himmel und sorgte dafür, dass diese Nacht nicht der Dunkelheit anheim fiel.
Gerade verklang der letzte Glockenschlag. Mitternacht war vorüber.
Eisiger Wind wehte Chamilla die Kapuze vom Kopf und ein paar ihrer Strähnen ins Gesicht. Aber auch ohne Vollmond, Glockenklang und Wind wäre ihr diese Nacht für immer in Erinnerung geblieben.
Es war die Nacht, in der Richard in ihr Leben trat.
Die Nacht, in der eine zufällige Begegnung alles veränderte.
Das Sommersemester war vorüber, am Vormittag die letzte Klausur geschrieben worden. Sie hatte ein gutes Gefühl - die ganze Lernerei der letzten Wochen würde sich sicher auszahlen.
Es war später geworden als geplant. Was in einer netten Bar mit ein paar Kommilitoninnen begonnen hatte, war zu ein paar Drinks mehr als geplant ausgeufert. Aber das kümmerte Chamilla nicht. Sie war jung, auch wenn es der Abend nun nicht mehr war. Am nächsten Tag konnte sie ja ausschlafen.
Etwas beschwippst hatte sie sich auf den kurzen Heimweg gemacht. Es war nicht weit. Eine Seitenstraße bis zur Hauptstraße, dort über die Ampel und am Park vorbei. Am Ende rechts einbiegen, vorbei am alten Friedhof und der Kirche und dann noch einmal links. Ein Katzensprung und auch in ihrem momentanen Zustand kein Problem, wie sie ihrer besten Freundin versichert hatte.
Alles war vom wunderbaren Schein des Vollmonds beleuchtet. Autos, Mauern, Mülltonnen, Straßenlaternen, Gebüsche. Chamilla fühlte sich wie berauscht. Nicht einmal der kalte Wind störte sie, im Gegenteil, es tat ihrem Kopf ganz gut.
Und dann passierte es.
Gerade, als sie dachte, wie ruhig es in dieser Straße doch war. Eine alte Backsteinmauer friedete den Friedhof ein. Die dazugehörige Kirche lag erhaben vor ihr. Der Turm erstreckte sich im Mondlicht. Die Ziffern der großen Uhr glitzerten. Kurz nach Mitternacht.
Hier konnte man sich sicher fühlen. Kein Gesocks wie am Park, kaum Verkehr.
"Bleib mal stehen, Süße." Eine männliche Stimme.
Chamilla tat nichts dergleichen. Da stand jemand auf den Stufen der Kirche.
Sie eilte weiter. Fischte ihr Handy aus der Tasche für alle Fälle.
"Jetzt warte doch mal!"
Schritte hinter ihr. Sie kamen näher.
Chamilla rannte.
Ihr Verfolger rannte auch.
"So warte doch!"
Chamilla erreichte das gusseiserne Tor, das zu den Gräbern führte. Die Hälfte des Weges hatte sie geschafft. Ein kurzer Blick über die Schulter verriet ihr, dass der Kerl gut aufgeholt hatte. Ihr blieb nicht viel Zeit zum Überlegen. Das geschmiedete Tor stand halb offen.
Einem Impuls folgend hechtete sie hindurch. Ein Kiesweg führte im Halbrund über den Friedhof zu einem Hinterausgang in ihrer Straße. mit etwas Glück konnte sie den Verfolger so abschütteln.
So weit kam sie nicht. Ein Hindernis brachte sie zu Fall. Ihre Hände schrammten über Kies. An ihrem Schienbein breitete sich ein pochender Schmerz aus. Auch ihr Knie brannte. Schritte knirschten über den Kies.
Keine Zeit nach dem Schaden zu sehen. Sie musste weiter, stieß sich in die Höhe und wurde herumgerissen.
Jemand packte sie am Arm und schob sie eine Grabreihe entlang. Chamilla wehrte sich. Drückte, kickte und schrie, aber der Griff schraubte sich nur umso fester um sie. Dann wurde sie mit dem Rücken gegen etwas Hartes gepresst. Ihre Finger ertasteten das kalte Marmor des Grabsteins. Aber bevor sie die Hände frei bekam, um sich zu wehren, wurde sie mit dem Nacken dagegengestoßen. Ein Kälteschauer lief ihre Wirbelsäule hinunter, vermischte sich mit dem heißen Gefühl aus Wut und Adrenalin. Finger legten sich wie Stahlklammern auf ihre Stirn. Ihr Kopf wurde zurückgedrückt und der Angreifer beugte sich über sie.
Ihr Schrei gellte durch die Nacht. Er hatte sie gestochen.
"Verdammt", keuchte jemand aus der Ferne.
Der Kerl über ihr zuckte zusammen und ließ von ihr ab.
Schritte knirschten über den Kies. Jemand kam näher. Rannte.
Der Kerl vor ihr raffte sich auf und suchte das Weite.
Chamillas Finger tasteten nach der brennenden Stelle an ihrem Hals. Sie blutete. Im Licht des Vollmonds schimmerten ihre Finger silbrig.
Dann war der Mann bei ihr. "Alles in Ordnung?" Er blieb wenige Schritte vor ihr stehen und erstarrte bei ihrem Anblick. Ein silbernes Kreuz war der einzige Farbtupfer auf seiner schwarzen Kleidung.
Sie schüttelte den Kopf, unfähig das Erlebte in Worte zu fassen. Starrte nur auf ihre Finger.
"Verdammt", sagte der Mann erneut und rang nach Atem. "Es ist zu spät."
Sie blickte auf. Nicht ihr Anblick hatte ihn einfrieren lassen, sondern der des Blutes auf ihrem Hals.
"Zu spät für was?", hauchte sie und warf unwillkürlich einen Blick zur Turmuhr. Nur ein paar Minuten waren vergangen.
Der Mann schüttelte den Kopf, griff nach dem Kreuzanhänger, seufzte.
Dann passierte etwas mit ihr. Das Brennen schwoll an zu einem Feuerball, der sich von ihrem Hals aus durch ihren Körper brannte. Die eisige Kälte wich einer Glut. Sie konnte spüren, wie es jeden Zentimeters ihres Körpers erfasste - veränderte. Ungläubig hob sie die Hand.
"Was passiert mit mir?"
"Das Blut", entgegnete der Mann und wich einige Schritte zurück.
"Das Blut?", stammelte Chamilla. "Es ist nicht viel."
Alles in ihr brannte. Hals, Hände, Arme, Beine, Herz. "Es brennt."
Sie griff sich an die Kehle. Wie durstig sie war. Ihre Stimme klang so schwach.
"Es ist das Blut", wiederholte ihr Gegenüber, der in sicherem Abstand stehengeblieben war. "Es ist zu spät."
"Zu spät", ächzte Chamilla und sank auf die Knie. Es brannte und sie zitterte am ganzen Körper.
"Es ist zu spät. Ich kann es nicht rückgängig machen. Das verfluchte Blut ergreift von dir Besitz." Bedauern schwang in seiner Stimme mit, so viel erfasste Chamilla, auch wenn sie den Sinn seiner Worte nicht verstand.
Die Bedeutung begriff sie erst viel später.
Aber der Augenblick, der ihr Leben für immer veränderte, blieb ihr im Gedächtnis. Der Vollmond hing hoch am Himmel und sorgte dafür, dass diese Nacht, in der Chamilla der Dunkelheit anheim fiel und Richard in ihr Leben trat, hell erleuchtet war.