Der Vollmond stand hoch am Himmel. Wolkenfetzen zogen am Himmel vorüber wie wabernde Vorhänge, aber das Mondlicht tauchte die Nacht in ein sanftes Licht.
Und wie immer in diesen Nächten, wollte keiner freiwillig gehen.
"Jemand muss sich finden." Jeder wusste, was der Dorfälteste aussprach. Er hätte gern auf die Durchführung des Rituals verzichtet, so wie alle Einwohner des Dreihundert-Seelen-Dorfs.
Alle Familien hatten in den letzten Jahrzehnten Angehörige verloren. Viele Alte waren freiwillig gegangen, aber nach den langen Monaten des Winters waren ihre Reihen stark dezimiert.
Stille herrschte auf der Versammlungshöhe. Wolken verschleierten den Mond und gaben ihn wieder frei. In der Ferne schrie irgendwo im Wald ein Kauz.
Noch immer rührte sich niemand. Die Blicke gingen zu Boden.
Ein letztes Mal schaute der Dorfälteste in die Runde. Die meisten wichen seinem Blick aus, manche schüttelten stumm den Kopf. Nicht noch mehr Leid. Nicht noch mehr Tränen.
Aber es war unausweichlich.
Ein kleines Opfer für das Wohl des Dorfes. Ruhe und Frieden für vier lange Wochen, in denen man jeglichen Gedanken an den Fluch verdrängte. Bis zur nächsten Vollmondnacht.
Langsam griff der Dorfälteste an seinen Gürtel, wo er den Lederbeutel trug. Jeder im Dorf kannte die kurzen Stäbchen, die sich in Länge und Form eines auf das andere glichen. Mit einer einzigen Ausnahme. Während alle Stäbchen weiß waren, war das Opfer-Stäbchen dunkel gefärbt.
Der Älteste schaute in den Himmel. "So möge es beginnen", verkündete er und bedeutete seinem Nächsten, in den Beutel zu greifen.
Die anwesenden Männer und Frauen hielten den Atem an.
Erster an diesem Abend war der junge Kuhhirte. Seine Hand zitterte, aber er entschied sich schnell für eines der Stäbchen und hielt es in die Höhe. Es leuchtete hell im Mondlicht.
Er taumelte in die Arme seiner Eltern.
Der Beutel wurde weitergereicht. Ein Landwirt zog einen weißen Stab und hielt ihn in die Höhe. So ging es eine ganze Weile.
Erst einmal, so erzählten sich die Dorfbewohner, war das schwarze Opfer-Stäbchen beim ersten Mal gezogen worden.
In der Ferne heulten die ersten Wölfe. Die Menge drängte sich enger zusammen.
"Schnell jetzt", mahnte der Dorfälteste zur Eile. Stäbchen wurden gezogen, in die Höhe gehalten, Männer und Frauen fielen sich erleichtert in die Arme, wenn die Reihe an ihnen vorüber war.
Das Geheule der Wölfe drang nun lauter heran, auch sie erkannten den vollen Mond und spürten ihren Hunger.
Wenn nicht schnell ein Opfer gefunden wurde, würden sie alle holen.
Sie waren nicht mehr weit.
Der Prediger schaute in das dunkle Loch, das den Eingang zum unterirdischen Tunnelsystem bildete, dann hinauf zum Mond. Dann war seine Zeit gekommen. Er steckte die Hand hinein. Seine Lippen bewegten sich. Still formte er Worte. Noch ehe er die Hand hervorzog, ahnte er sein Schicksal.
Die Umstehenden, von denen viele schon gezogen hatten, raunten auf. Schwarz wie die Nacht.
Das Ritual hatte sein Opfer erwählt.
Der Dorfälteste nickte ihm zu. "Bist du bereit, deinem Schicksal entgegen zu gehen?"
"Ich bin bereit für die ewige Nacht", sagte der Prediger leise. Jahrelang hatte er zu Mut und Stärke aufgerufen, getröstet und geholfen, wo er konnte. Er war allein, hatte keine Familie, die um ihn trauern würde. Oft hatte er daran gedacht, wie es wäre, wenn er in der nächsten Nacht freiwillig vortreten würde. Aber er hatte es nie getan. "Nächstes Mal", sagte er sich jedes Mal. "Die Gemeinde braucht mich. Ich muss den Trauernden beistehen."
Fast ärgerte er sich über die verpasste Chance. Nun war es zu spät.
Der Dorfälteste reichte ihm einen Weinschlauch und er griff mechanisch danach und Trank einen Schluck, ohne etwas zu schmecken.
Dann wurde er von vielen Händen berührt, ohne zu registrieren, wem sie gehörten. Auch er hatte viele Menschen auf ihrem letzten Weg berührt.
"Geh in Frieden", sagten sie. Er erkannte die ein oder andere Stimme. Auch er hatte diese Worte gesagt. Ein ums andere Mal.
Es war ein Abschied, aber auch der verzweifelte Versuch, ihn schneller zum Höhleneingang zu treiben, zu verhindern, dass ein Auserwählter Panik bekam und durchdrehte. In den Anfangsjahren des Rituals war mehr wie einer von ihnen geflohen und in den Wald gerannt, wo ihr Schicksal unabwendbar dasselbe geworden war. In den Wäldern von Malbeno gab es kein Überleben. Es gab steile Klippen, dunkle Schluchten, dorniges Gestrüpp, weit verzweigte Höhlensysteme, in denen hungrige Bestien lebten, den Tod.
Jemand aus der Familie hatte an ihrer statt gehen müssen, und wenn es niemanden gab, wurde das Losverfahren neu durchgeführt.
Der Prediger machte einen letzten Schritt. Dann hatte er den Einlass ins weit verzweigte Unterreich erreicht. Er hob die Hand ein letztes Mal wie zum Segen.
Dann atmete er tief ein und ging in der Gewissheit, nie mehr die Sonne zu sehen, seinem Ende entgegen.