"Die erste Etappe ist die einfachste, denn in diesem Abschnitt wirst du noch getragen", erklärte der Mann.
Die Frau nickte bestätigend. "Über den Start mach dir mal keine Sorgen."
Wie es mit Worten und weisen Ratschlägen aber nun einmal so war, sie beruhigten mich kein Stück und brachten mich nicht wirklich weiter. Trotzdem nickte ich artig, wie man es von mir erwartete.
Und weil ich den Erwartungen entsprechen und meine Aufgabe gut machen wollte, gab ich mein Bestes.
Die beiden hatten Recht gehabt, wie sich all zu bald herausstellte. Der Anfang war nicht das Problem.
Alles ging leicht und wie von selbst.
Die Äste, die mich trugen, waren dick und tragfähig. Die Rinde des Baumes so schuppig und voller Furchen, dass ich überall Halt fand.
Nach einer Weile aber wurde es anstrengender und es ging nur noch mühsam voran.
Mit nachdenklichem Blick schaute ich hinauf. Es war noch so eine weite Strecke, die vor mir lag und ich fragte mich erneut, wie ich diese jemals erklimmen sollte.
"Du schaffst das schon", ermutigte mich die Frau.
"Wir glauben an dich. Gehe einfach einen Schritt nach dem anderen", ergänzte der Mann. Ich nickte und fand wieder zu Atem.
Beim nächsten Abschnitt wurde es schon schwieriger. So viele Routen lagen vor mir, jede auf ihre Weise verlockend, aber ich musste mich entscheiden und einen Weg einschlagen. Ich wählte den, der mir am einladensten erschien.
Nach einer Weile merkte ich aber, dass ich kaum mehr vorwärts kam. Ich blickte mich um. Ich war nicht alleine unterwegs. Überall neben, über und unter mir, gab es andere, die sich gerade der gleichen Aufgabe stellten. Aber ihr Weg erschien mir so viel leichter zu sein. Und sie alle kamen schneller voran.
Mit gerunzelter Stirn starrte ich auf den Weg, den ich eingeschlagen hatte und mit einem Mal erschien mir alles so falsch. Dies hier war mit Abstand der schwierigste Kurs. Alle anderen hatten es so viel einfacher. Also tat ich das einzig Mögliche, griff nach einer Liane und ließ mich ein Stück weit an ihr hinunter, bis ich zu einem anderen Ast hinüber schwingen konnte.
"Dein Weg muss nicht immer gerade sein, um ans Ziel zu führen", bestärkte mich der Mann.
"Keineswegs. Auch Umwege führen zum Ziel. Und aus jedem Umweg kannst du lernen." Ich gab ihnen Recht und setzte meinen Aufstieg fort.
Und tatsächlich ging es jetzt viel leichter. Ast um Ast erklomm ich meinen Baum und fand überall sicheren Fuß. Es fühlte sich an, als könnte ich fliegen und ich flog nur so dahin.
Bis ich leichtsinnig wurde. Zuerst hörte ich das Geräusch. Es war ein hässliches Knacken. Dann spürte ich es. Etwas brach unter mir und ich verlor die Balance. Meine Hand klammerte sich haltsuchend an die raue Rinde des Stammes, aber sie fand keinen Griff. Dann ging alles ganz schnell. Ich sackte ab. Mein Arm schlug gegen einen Ast, der meinen Fall kreuzte und ein heftiger Schmerz durchzuckte mich. Aber dieser Ast war auch meine einzige Chance. Gerade noch so bekam ich ihn mit den Fingern meiner anderen Hand zu fassen und bremste meinen Sturz. Wie von selbst hatte sich auch meine zweite Hand um den Rettungsanker geschlossen.
Und da hing ich nun wie ein nasser Sack am seidenen Faden. Alles schien verloren, nur noch eine Frage der Zeit, unter mir war ein tiefer Abgrund und über mir alles in unerreichbarer Entfernung. Ich war am Ende. Es gab weder vor noch zurück. Da war kein Halten. Ich schloss die Augen und wieder hörte ich die Stimmen.
"Gib nicht auf."
"Es gibt immer einen Weg."
Aber wie es mit gutem Zureden oft so ist, es half mir nicht weiter. Ich konnte keinen Weg sehen, nur den Abgrund und den unglaublich glatten und hohen Stamm. "Ich schaffe das nicht", stieß ich keuchend hervor.
"Doch, du kannst das schaffen." Die Stimme des Mannes.
"Aber du musst es versuchen." Die sanfte Stimme der Frau.
Und ich wollte ihnen ja glauben. Ich wollte es ja schaffen. Aber meine Kräfte schwanden und mit ihr verließ mich auch die Hoffnung. Ich schaute hinab, sah die Strecke, die ich schon zurück gelegt hatte und stellte mir vor, wie es wäre zu fallen. Einfach los zu lassen. Dem Boden entgegen zu rasen. Wie es wohl wäre?
Aber dann wurde mir eines klar. Ich würde diese Entscheidung im gleichen Augenblick bereuen, in dem ich loslassen würde. Meine Finger klammerten sich fester um den Ast, der mich hielt. Ich sammelte die letzten Reserven und kämpfte. Es ging langsam, aber es ging. Stück für Stück zog ich mich hinauf. Es kostete Kraft und es war eine unfassbare Anstrengung, aber endlich fand mein erstes Bein Halt auf dem Ast, dann auch mein zweites. Und kurz darauf, hockte ich wieder oben. Hatte sicheren Halt unter mir und konnte die Lage überblicken. Ich keuchte, ich zitterte und ich rang um Atem, aber ich war noch auf Kurs. Es würde weitergehen.
"Das hast du gut gemacht", lobten sie mich, aber die Worte rauschten in meinen Ohren.
Dann sah ich es. Die anderen. Die, die weniger Glück hatten. Die nicht mehr konnten oder wollten und einfach los ließen. Sie fielen. Sie würden ihr Ziel nie erreichen. Ich schüttelte mich. Ich bereute es nicht. Meine Entscheidung war die Richtige gewesen. Diese Erkenntnis schien mir frische Energie zu verleihen, denn für eine Zeit lang ging es wie von alleine. Ich genoss das Klettern. Meinen jugendlichen Leichtsinn hatte ich zwar abgelegt, war vorsichtiger geworden, aber ich wusste meinen Fortschritt zu schätzen, egal wie schnell oder langsam es ging. Hin und wieder hielt ich sogar an, blickte zurück oder hielt Ausschau. Malte mir aus, wie es wäre, diese oder jene Route zu wählen. Dann traf ich eine Entscheidung. Ich hatte dazu gelernt, und akzeptiert, dass ich mit dem gewählten Weg Leben musste. Es war gut, so wie es war. Es musste reichen. Man konnte den Baum des Lebens nur einmal erklimmen.
Aber noch war ich jung und voller Elan. So viele Zweige lagen noch vor mir. So viele Möglichkeiten. So viel Auswahl. Warum sollte ich jetzt schon bereuen, dass ich mich nicht für alle entscheiden konnte? Ich lachte und kletterte weiter und weiter. Kam dabei höher und höher, sammelte Erfahrung und war bald in der Lage, viel mehr zu überblicken.
"Siehst du", ergänzte der Mann meine Gedanken, "der Aufstieg hat sich doch gelohnt."
Die Frau nickte. "Von hier aus kanns du schon so viel sehen. Aber warte nur, bis du ganz oben bist."
Und zum ersten Mal spornten mich ihre Worte wirklich an. Ich blickte hinauf, malte mir aus, wie es dort aussehen könnte und stellte mir vor, wie es wäre, endlich dort angekommen zu sein.
Mein Weg ging weiter und es dauerte eine Weile, bis ich merkte, dass allmählich die Luft dünner wurde, und mit ihr die Zweige. Was eben noch mühelos gelang, kostete auf einmal richtig Kraft.
Aber ich hatte schon mehr als die Hälfte des Baumes erklommen. Das Ziel schimmerte bereits am Horizont. Wenn ich die Augen zusammenkniff, konnte ich es sehen. Jetzt gab es kein Aufgeben mehr. Nur noch vorwärts und weiter. Ast für Ast, Schritt für Schritt.
"Du hast es bald geschafft", trösteten mich meine beiden Begleiter. "Halte nur noch ein wenig durch."
Vieles lief inzwischen wie von selbst und da ich kaum mehr darüber nachdenken musste, was ich tat, hatte ich viel Zeit, um über andere Dinge nachzudenken. Ich sinnierte über meinen bisherigen Weg, all die Entscheidungen, die ich getroffen hatte, all die Äste, die ich ergriffen und all die Tritte, die ich erklommen hatte, während meine Arme brannten und meine Füße schmerzten.
Die Strapaze hatte ihren Tribut gefordert. Wehmut überkam mich. Wie schön es doch gewesen war und wie leicht, als ich noch jung und frisch war. Hatte ich es dort unten überhaupt zu schätzen gewusst? Jetzt war ich so weit gekommen, aber was hatte es mir gebracht?
Ich blickt mich um. Immer weniger der Anderen befanden sich noch bei mir und nur noch ganz wenige waren vor mir.
Ich kam dem Gipfel immer näher und es erfüllte mich mit Angst. Am liebsten hätte ich kehrt gemacht und wäre wieder hinabgestiegen. Wie schön waren doch die dicken Äste der Jugend. Tragfähig und voller Möglichkeiten. Einladend und voller Gefahren. Wir waren darauf herumgetollt wie junge Äffchen und mit Bedauern dachte ich zurück an all diejenigen, die in ihrem Übermut und Leichtsinn abgestürzt waren oder einfach nur das Pech hatten, einmal daneben gegriffen zu haben. Ich seufzte, wie gerne würde ich mich jetzt noch einmal mit ihnen durch die Lianen schwingen.
Hier oben gab es nur noch morsche, dürre Äste und man musste langsam machen und jeden Griff, jeden Schritt sorgsam planen, um jeden Atemzug kämpfen und doch schien die Luft nicht mehr zu reichen. Ich war müde und erschöpft, und alles kostete so viel Kraft.
Und dann war ich endlich am Ziel. Ich stand unter freiem Himmel, blickte in die Sterne und sah die unendliche Weite vor mir. Es war wunderschön.
Wenn ich hinabblickte, erkannte ich so manchen Ast, den ich betreten hatte, aber längst konnte ich nicht mehr alle von ihnen sehen. Zu dicht war der Baum gewachsen und manches mit Nebel überzogen. Auch der Boden versank unter all dem Blattwerk und war viel zu weit entfernt. Am Ende des Lebensbaums kann man den Anfang ebenso wenig mehr erkennen, wie die Wurzeln, auf denen alles ruht, tief in der Erde und doch weiß man, dass sie da sind und einen tragen.
Ich atmete ein letztes Mal ein, dann streckte ich meine Hände aus.
Zwei Hände ergriffen meine. Die des Mannes und der Frau, meiner Begleiter auf der Reise des Lebens.
"Du bist angekommen", sagten sie und lächelten. "Lass los, von hier an können wir fliegen."