Wenn man sich verlaufen hat, gibt es mehrere Möglichkeiten.
Jemanden nach dem Weg fragen, fiel in diesem Fall aus.
In den unterirdischen Tunneln des alten U-Bahn-Systems konnte man mal nicht eben so jemanden nach der Richtung fragen.
Sich am Stand der Sonne zu orientieren, war auf Grund des Ortes ebenfalls ausgeschieden. Außerdem war es mitten in der Nacht oder eben schon näher am Morgengrauen. Wer wusste das hier unten schon so genau zu sagen? An diesem Ort, an dem man jedes Zeitgefühl innerhalb von Minuten verlor und an dem jeder Tunnelabschnitt mehr oder weniger gleich aussah.
Dass sie sich verlaufen hatten, stellte die Gruppe erst viel zu spät fest.
Hier fuhren schon seit Ewigkeiten keine Züge mehr. Alles, was sich mit etwas Kraftaufwand lösen ließ, hatten Menschen längst aufgesammelt und anderweitig verwendet. Somit war es auch kein Wunder, dass die Schilder mit den Namen der Haltestellen längst nicht mehr existierten. Nur noch blasse Flecken auf den Wänden ließen vermuten, wo diese einmal angebracht gewesen waren. Falls sie nicht längst mit alten Graffitis und aufgesprayten Parolen überdeckt worden waren.
Der blasse Fleck an der Wand weckte in Trish ungute Erinnerungen. So sah ihre Haut unter den Pflastern aus, wenn sie diese nach Tagen von ihren Verletzungen löste. Wenn sie wieder an der Oberfläche und in Sicherheit waren, würde sie neue brauchen. Sie seufzte. Es war keine gute Idee gewesen, mit den blanken Fäusten auf das Mauerwerk einzuschlagen. Aber sie hatte ein Ventil für ihre Wut gebraucht. Jetzt war sie nicht nur auf die Umstände wütend, dass nie einer ihrer Missionen so funktionierte, wie sie sich das im Vorfeld dachten, sondern auch noch auf sich selbst und ihre impulsive Blödheit.
Sie hatte ihre Handschuhe ausgezogen, um Rico die dämliche Karte aus der Hand zu schlagen. Ein Linien-Fahrplan aus den frühen 2020ern. Dieser lag jetzt irgendwo hinter ihnen im Dreck. Aber er hatte sich ohnehin als nutzlos erwiesen, auch wenn Mike deswegen geschimpft hatte und sauer war.
Sie steckte ihre aufgeschürften Hände in die Westentaschen und warf einen verstohlenen Blick auf ihren Kameraden, aber Mike schaute stur gerade aus auf den von seiner Taschenlampe ausgeleuchteten Lichtkegel, als würde er dort die Antwort finden, wo sie sich befanden. Er hatte seit mindestens einer Viertelstunde kein Wort mehr gesagt.
Aber andererseits hatten das auch weder Rico noch Sally.
"Verdammt", entfuhr es Trish und nur mit Mühe unterdrückte sie den Impuls, erneut auf irgendetwas einzuhämmern. Es half, dass ihre Hände zu Fäusten geballt in den Taschen ihrer Weste steckten.
"Psst!", ermahnte Sally sie sofort. "Reiß dich zusammen, du weißt genau, wie weit man hier unten jedes Geräusch hört", flüsterte sie.
Aber jetzt wo die Stille einmal unterbrochen worden war, wollte sie keiner zurück haben.
"Was glaubt ihr, wo wir uns befinden?", wisperte Rico und ließ mit einem Knopfdruck das Display seiner Armbanduhr zum Leben erwecken. "Mein Kompass funktioniert hier unten jedenfalls nicht", stellte er einen Moment später fest.
Keiner ging auf seine Frage ein.
"Wie spät ist es?", erkundigte sich Sally leise. Diese Frage ließ sich immerhin schnell beantworten. Aber die Antwort löste keine Jubelstürme aus. In weniger als einer Stunde würde der Morgen grauen.
"Wir müssen den Schutzbunker unbedingt erreicht haben, bevor er dicht gemacht wird." Wem sagte Mike das? Das wussten sie alle und das war der Grund, weswegen sie so angespannt waren.
"Irgendwo hochgehen und darauf vertrauen, dass wir nicht entdeckt werden, aber uns orientieren können?", schlug Rico vor. Trish schaute zu ihren Begleitern, aber Sally hatte die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst und schwieg. Mike kaute auf seiner Unterlippe und hatte die Stirn gekräuselt.
"Zu riskant", zischte sie. "Noch bleibt uns eine Stunde."
"Wofür?", fragte Rico. "Dass wir so spät noch auf Obdachlose treffen, halte ich für ziemlich ausgeschlossen. Die sind längst alle im Shelter. Was für Möglichkeiten haben wir sonst noch?"
Wieder eine Frage der rhetorischen Art. Schweigend folgte die Gruppe den Lichtkegeln der Taschenlampen durch den Untergrund.
Zu ihrer linken und rechten Seite befand sich eine Mauer, die vor Jahrzehnten in das Erdreich gegraben und mit groben Steinplatten ausgekleidet worden war. Die Verkabelung war längst aus der Wand gerissen worden und nur noch einzelne Halterungen erinnerten noch an den Zweck der Röhre. Jetzt hausten hier Spinnen, Ratten und sonstiges Ungeziefer. Trish schauderte und kickte mit ihrem Stiefel vorsichtig gegen einen aus dem Schotterbett ragenden Stein. Der löste sich aus seiner Position und kippte um.
"Trish", zischte Mike.
"Ist doch eh egal", entgegnete sie und holte erneut mit dem Fuß aus.
"Hör auf!", befahl Mike mit strenger Stimme und packte sie am Arm, um sie zu schütteln.
Mit eisernem Griff hielt er sie fest und schob sie vorwärts, beinahe gegen ihren Willen. Aber andererseits war es auch egal, wo sie waren, wenn die Zeit ablief. Vorwärts oder rückwärts, links oder rechts - was spielte das noch für eine Rolle?
Die Stimmung war gedrückt, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Trishs waren weit weg und so brauchte es eine Weile, bis sie den Sinn hinter Sallys geflüsterten Worten verstand.
"Schaut mal da vorne! Da ist Licht!"
Sie hob den Blick in die gewiesene Richtung. Alle waren stehen geblieben und schauten. Ein schwacher Schimmer zeichnete sich vor ihnen in der Dunkelheit ab und beleuchtete die Wände in einem flackernden Schein. Mike knipste seine Taschenlampe aus und machte ein Zeichen. "Eindeutig Licht am Ende des Tunnels", wisperte er.
"Und jetzt?", fragte Rico. "Gehen wir näher?"
Mike nickte. "Was haben wir für eine Wahl? Unsere einzige Chance."
"Und was erwartet uns dort? Rettung oder Gefahr?", überlegte Trish. "Bei unserem Glück eher letzteres."
"Ach komm schon", sagte Rico und gab ihr einen Klapps. "Es ist ein Lichtblick. Wenn wir schon draufgehen, dann wenigstens nicht hier in dieser verfluchten Dunkelheit, sondern im Licht. Sei nicht immer so pessimistisch, Trish."
Sally griff nach Ricos und Trishs Hand, die ihre andere wiederum nach Mike ausstreckte und so setzte sich die Truppe geschlossen in Bewegung, Schritt für Schritt auf das Licht zu.