Heute lasse ich mich mal von dem Lied inspirieren, das mir zu dem Stichwort als erstes eingefallen ist.
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https://www.youtube.com/watch?v=SxzhAhCiqc4
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Tinker * tailor * soldier * sailor * rich man * poor man * beggar man * thief * doctor * baker * fine shoe-maker * wise man * mad man * taxman please... (by The Yardbirds)
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Die Vögel zwitschern in den Bäumen hoch über seinem Kopf. Ein Eichelhäher keckert sein warnendes Lied. Nur vereinzelt finden Sonnestrahlen den Weg nach unten und tauchen den Wald in ein Wechselspiel aus Schatten und Licht.
Dann erreicht der Junge die Lichtung und fällt vor dem Alten auf die Knie.
"Steh auf, mein Sohn. Ich habe dich schon erwartet."
Der Junge erhebt sich mit gesenktem Blick.
"Was führt dich zu mir?"
"Ich", stammelt er und sucht nach einem Hinweis in dem faltigen, wettergegerbten Gesicht des alten Mannes. Irgendetwas, das Wohlwollen ausstrahlt, aber die Gesichtshaut seines Gegenübers wirkt wie die Rinde einer alten Weide.
"Ich", setzt er erneut an, den Blick auf die Buchen und Eichen in dessen Rücken gerichtet, "Ich möchte erfahren, was ich mit meinem Leben anfangen soll?"
In den Augen, die ihn mustern, steckt Weisheit und Lebenserfahrung. Sie sind so blau und tief wie der Himmel an einem klaren Sommertag. 'Er ist mehr wie ein Baum', haben seine Freunde gesagt, die vor ihm hier waren. 'Mehr Naturgeist als Mensch.' Nichts davon hat ihn auf diese Begegnung vorbereitet. Am liebsten möchte er umdrehen und weglaufen. Mit angehaltenem Atem wartet er auf eine Antwort. Die Stille, die sich über den Wald gelegt hat, bereitet ihm Angst. Nicht einmal mehr die Vögel singen. Selbst der Eichelhäher schweigt. Ihm scheint, als erwarten alle Tiere des Waldes die Antwort des Alten.
"Sag mir, wievielen Menschen ich helfe, nur indem ich hier auf diesem Baumstumpf sitze? Sag es mir!" Der Waldmensch schaut ihm bis hinab zum tiefsten Grund der Seele.
'Es ist, als würdest du völlig entblößt vor ihm stehen.' So haben es ihm die anderen beschrieben. 'Nackt wie ein neugeborenes Kind.'
Er räuspert sich. "Viele", rät er. "Mein Vater war hier. Alle meine Freunde waren hier. Jeder aus dem Dorf war hier."
Der Alte nickt bedächtig. "Ich erinnere mich an jeden, der jemals bei mir war und ich glaube, ein jeder von ihnen erinnert sich an mich."
Erneutes Schweigen legt sich über die Waldlichtung.
'Manchmal redet er wirres Zeug. Hör einfach zu und lass ihn reden, bis er dir deine Bestimmung sagt.' Er erinnert sich an den Ratschlag seines Vaters.
Der Junge steht da und befolgt die Worte, auch wenn er am liebsten weit weg wäre.
"Ich würde mit keinem von ihnen tauschen wollen. Du etwa?"
Der Junge schluckt. Die Worte bleiben ihm im Halse stecken. Er schüttelt den Kopf, was dem Alten als Antwort auszureichen scheint.
"Kesselflicker vielleicht? Oder Schneider?" Der Alte aus dem Wald erhebt sich, wobei seine Gelenke knacken. Mit wenigen humpelnden Schritten kommt er auf den Jüngling zu und streckt eine knochige Hand aus. Bei der Berührung zuckt der Junge zusammen. Die Hand auf seiner Wange fühlt sich kalt an. Sie geht ihm bis ins Mark. Davor hat ihn niemand gewarnt.
Er zittert.
Der Alte schüttelt den Kopf, sodass der lange weiße Bart hin und herweht.
"Du bist mehr für das Abenteuer geschaffen." Die blauen Augen mustern sein junges Gesicht, die Finger erkunden die noch glatten, bartlosen Wangen. "Soldat oder Seemann?"
Jetzt legen sich beide Hände zu jeder Seite seines Gesichts nieder. Er spürt jedes gekrümmte Fingergelenk auf seiner Haut. Wie versteinert steht er da und wagt nicht zu atmen, während der Alte ihn mit seinem Blick fixiert.
"Das ist merkwürdig. Da liegt noch so viel mehr in deinem Schicksal. Du kannst so viel mehr werden, als nur das. Vielleicht wirst du ein reicher Mann, ein armer Mann, ein Bettler oder gar ein Dieb? Es liegt alles nur ein Quentchen Glück voneinander entfernt. Ich kann alles in deiner Zukunft sehen und noch so viel mehr."
Der Junge steht völlig still. Bewegungslos wie der Stamm eines Baumes.
Endlich lösen sich die Hände von seinen Wangen und er wagt wieder zu atmen. Die knorrigen Finger legen sich auf die faltigen Wangen, tief unter dem langen Bart.
"Vermögen und Ruhm. Was sind das für leere Worte? Leben ist nur ein kleines Spiel. Vielleicht führt es dich zu einem großen Erfolg oder möglicherweise zu einem furchtbaren Durcheinander. Wer weiß das schon vorher zu sagen?"
Noch immer wartet der Junge auf eine Antwort. 'Arzt', sagte der weise Waldschrat zu seinem besten Freund. 'Bäcker' zu seinem Schwager. 'Schuhmacher' zu seinem Vater.
Sie alle waren nach einer knappen Stunde zurück. Freudestrahlend und siegestrunken.
Er fühlt sich wie um Jahre gealtert. Was schwätzt der Alte nur so lange um den heißen Brei?
Er hebt den Blick, zaghaft. Der Waldmann steht wie erstarrt, wirkt völlig in sich versunken.
Nach einer gefühlten Ewigkeit nimmt der Junge all seinen Mut zusammen und räuspert sich. Das Geräusch wirkt störend und fremd. Fast zuckt er unter der eigenen Courage zusammen.
"Sagt mir doch bitte, was ich werden soll?" Der Alte reagiert nicht.
"Was ich wirklich mit meinem Leben anfangen soll?" Die Worte hallen über die Lichtung.
Endlich scheint die Natur wieder zu erwachen. Der Junge hört das Summen der Bienen in den wilden Blumen, die am Rande der Lichtung wachsen. Der Eichelhäher kräht hoch oben von einem Baum, andere Vögel fallen in das Gezwitscher mit ein. Auch der Alte regt sich und lässt seine Hände sinken. Seine blauen Augen senken sich auf den Jungen, als würde er ihn gerade zum ersten Mal erblicken.
"Sei ein weiser Mann! Sei ein verrückter Mann! Oder vielleicht Steuereintreiber?"
"Bitte?", flüstert der Junge kaum hörbar.
Mit einem Mal fängt der Alte an, sich im Kreis zu drehen. Zuerst langsam, dann immer schneller.
"Vielleicht", murmelt er.
Seine Kreise werden immer größer.
"Vielleicht", summt er.
Die knorrigen Arme erheben sich und fliegen mit ihm mit.
"Vielleicht", singt er.
Der Junge weichte in paar Schritte zurück.
"Vielleicht", jubelt der alte Mann.
Der Junge dreht sich um.
Noch immer hallt das Wort über die Lichtung des Waldes.
Der Junge macht ein paar Schritte zurück.
"Vielleicht!"
Er wirft einen Blick über die Schulter. Der alte Mann dreht sich noch immer. Die spärlichen Strähnen seines langen weißen Haars und der Bart wirbeln um ihn herum.
"Vielleicht!"
Der Junge rennt. Nichts wie weg. Er wird schon alleine herausfinden, was er mit seinem Leben anfangen soll. Der Alte ist endgültig verrückt geworden.
"Vielleicht!"
Den ganzen Weg zurück durch den Wald verfolgt ihn dieses eine Wort.
"Vielleicht!"
Selbst in der Nacht noch kann er es hören.
"Vielleicht!" ..."leicht"..."leicht"
Und in jeder weiteren Nacht. Einerlei, welcher Beschäftigung er nachgeht. Er macht nichts lange. "Vielleicht!"
Es verfolgt ihn. Vielleicht für immer.
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Und by the way: Danke für den Ohrwurm, der mich jetzt vermutlich für den Rest der Woche verfolgt. Oder vielleicht auch für immer. ;-)