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Tausendschön
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Ihre kurzen Beine fliegen über die Wiese. Der Rock weht ihm Wind, die Zöpfe wippen auf und ab.
"Mach langsam, Marie!"
Das Mädchen gehorcht und dreht sich um. "Wer spricht da?"
Aber sie ist alleine. Ein paar Grillen zirpen zu ihren Füßen und Bienen summen über die Blüten.
Wo sie schon einmal dabei ist, streckt sie ihre Hände aus und dreht sich im Kreis, so dass Rock und Zöpfe auf und abfliegen.
"Tausendschön - schön anzusehn.
Du kannst auf mir spazieren gehn."
Ihr kindliches Kichern gerät ins Stocken und sie wird langsamer. Eine nachdenkliche Miene legt sich auf ihr zartes Gesicht.
"Wer spricht da?"
"Ich steh auf Wiese, Wald und Feld
fast überall auf dieser Welt."
Marie beugt sich in die Knie. Die zarte Stimme kam von dort unten. Vorsichtig streichen ihre Finger über die Gräser und Kräuter.
"Maßliebchen kannst du auch zu mir sagen
und mich als Flechtwerk nach Hause tragen."
Endlich hat sie den Ursprung gefunden. Ein Lachen weicht ihrem Erstaunen.
"Doch hab ich noch der Namen mehr -
bin stolz auf mein weißgelbes Blütenmeer."
Andächtig legt sie ihren Kopf schief und lauscht. Kaum einer würde ihr zutrauen, dass sie so still halten kann, aber sie bewegt sich keinen Ruck.
"Nicht nur Namen hab ich zu Hauf
geschichtenträchtig bin ich auch."
Jetzt hält sie es nicht mehr länger aus. Ihre Hände vollführen eine Geste nach der anderen, stehen keine Minute still. Nur ihre Füße verharren unter ihr.
"Erzählst du mir eine dieser Geschichten?", fragt sie und erinnert sich im letzten Moment an die Ermahnungen ihrer Mutter.
"Bitte?", schiebt sie eifrig nach.
Lange muss sie nicht warten.
"Im Frühjahr bin ich der erste Bote des Frühlings.
Die ersten drei Blümchen, die du findest, sollst du essen, dann bleibst du das restliche Jahr von Zahnschmerzen, Augenkrankheit und Fieber verschont."
Eine Weile denkt das Mädchen nach.
"Schade", sagt sie dann, "nun haben wir doch schon Sommer. Hättest du mir das nur früher gesagt."
"Nun ich vermag noch mehr. Trägst du getrocknete Blümchen bei dir, die am Johannistag zur Mittagsstund gepflückt wurden, so geht dir keine wichtige Arbeit schief."
Marie klatscht in die Hände. "Sehr schön. Das ist gut. Ich bin immer so ungeschickt, dass Muttern schimpft."
"Na siehst du", ermutigt sie das Gänseblümchen. "Jetzt weißt du ja, was du dagegen machen kannst."
Noch ehe sie aufstehen kann, fährt das Blümchen fort: "Und wenn du einmal verliebt bist, so rupfe eines meiner Blümchen und ich will dir verraten, ob er dich liebt oder nicht."
Sie nickt zum Zeichen, dass sie verstanden hat. "Werd ich machen."
Langsam erhebt sie sich. "Nun muss ich aber nach Hause, ehe meine Mutter nach mir ruft."
Lachend läuft sie zurück in die Richtung, aus der sie gekommen ist.
"Und danke dir", schallt es über ihre Schulter. "Vielen Dank!"
Und den ganzen Weg nach Hause ist sie ausgelassen und singt vor sich hin: "Tausendschön - schön anzusehn.
Du kannst auf mir spazieren gehn."
Von dieser Begegnung muss sie unbedingt ihrer Mutter erzählen, nur schade, dass sie nicht daran gedacht hat, eines der lieblichen Blümchen zu pflücken.
Ob Muttern ihr das glauben wird? Nie wieder Zahnschmerzen und Fieber. Nie wieder eine Arbeit, die schief geht.
Ihr Gesichtchen strahlt und ihre Wangen sind gerötet.
Sie schüttelt den Kopf. Nein, dass wird ihr die Mutter nicht abkaufen.
"Marie, du und deine blühende Phantasie", wird sie sagen.
Aber sie wird schon sehen, Marie wird es ihr schon zeigen.