capítulo 30
tiempo para pensar II
Abends sperren Richie und ich die Kaninchen der Mädchen in ihren Stall. Sie bekommen noch frisches Wasser und etwas zu futtern. Auch wenn ich mich schon darauf freue, mich endlich wieder hinzusetzen und mich auszuruhen, ist der Tag leider noch nicht beendet, denn Domingos abendlicher Spaziergang steht noch an. Eigentlich wollte ich auch noch mit Calum telefonieren, aber er hat mir per Nachricht bereits mitgeteilt, dass nicht nur die Mädchen, sondern auch er schon im Bett ist. Ich hatte darauf spekuliert, dass ich den Mädchen eine gute Nacht wünschen kann. Danach hätten Calum und ich Telefonsex haben könnten. Es wäre auch spannend gewesen, wenn er mir ebenfalls ein selbstgedrehtes Video zuschickt, doch ich gehe an diesem Abend wieder vollkommen leer aus. Wenn sich nicht bald jemand um meine Bedürfnisse kümmert, drehe ich durch.
Richie und ich machen uns auf den Weg in den Cindersap Forest. Wir nehmen Domingos übliche abendliche Runde. In diesem Wald hat er bald jeden Stein beschnüffelt und gegen jeden Baum gepinkelt.
„Es ist kühler als erwartet…“, erklingt Richie in der Stille. „Ich hätte doch einen Pulli anziehen sollen.“
„Willst du meine Jacke überziehen?“
„Nein, schon gut.“
„Nimm sie bitte, bevor du frierst“, dränge ich ihm meine Jacke auf. Es ist nur zu seinem besten. Ich schlüpfe aus meiner leichten Jacke und reiche sie ihm. „Ich brauche sie gar nicht, mir ist ohnehin recht warm. Ich hab sie nur für den Fall dass mir kalt werden sollte angezogen.“
„Okay, danke, das ist lieb.“
„De nada.“
Richie zieht meine Jacke über und als ob das noch nicht warm genug wäre, hängt er sich bei meinem Arm ein. Der Moment fühlt sich an als hätte man ihn aus einem kitschigen Liebesfilm geschnitten und dummerweise ausgerechnet in meinem Leben eingefügt. Ob ich diese Situation als angenehm empfinde, ist relativ nebensächlich, Hauptsache Richie fühlt sich wohl. Wenn man so viel Zeit in einer Klinik verbracht hat, fehlen einem wahrscheinlich gewisse menschliche Kontakte und wenn man so gerne kuschelt, wie Richie es tut, ist das Verlangen danach vermutlich noch stärker. Mir soll es Recht sein, solange es ihm gut tut.
„Können wir uns heute Abend noch einen Film ansehen oder bist du schon zu müde?“, erkundigt sich Richie fröhlich. Schon der Tonfall seiner Stimme sagt mir, dass ich heute ein paar Dinge richtig gemacht habe.
„Können wir gerne machen, aber lässt du mich kurz los?“
„Oh klar, entschuldige. Ich klammere schon wieder. Wortwörtlich.“
„Ach was, ist okay. Es dauert nur einen Moment“, erkläre ich. „Du darfst dich gleich wieder an mich klammern.“
Wir bleiben stehen. Aus meiner Jacke, die Richie nun trägt, fische ich ein Feuerzeug. Während ich in den seitlichen Jackentaschen danach suche, sieht Richie zu mir nach oben.
„Also wirklich Trevor, schäm dich. Wenn du mich anfassen willst, hättest du nur fragen müssen“, spricht er frech.
„Ach wirklich?“, steige ich mit ein. „Und wenn ich ein bisschen mehr möchte?“
„Dann musst du Calum fragen, denn das darf ich nicht alleine entscheiden“, antwortet Richie neutral.
„Du kleines Arschloch, du verdirbst mir die Stimmung an diesem Spielchen.“ Richie kichert. „Nur fürs Protokoll: Anfassen ist also okay?“
„Trevor!“ Richie schubst mich ein wenig, dabei tritt er auch einen Schritt zurück. „Du bist so doof. Wehe du versuchst irgendwas.“
„Komm wieder her, mein Kleiner, die Zigaretten sind in der Innentasche.“ Ich locke ihn mit meinem Zeigefinger zu mir. Richie folgt gehorsam. Mit Augenkontakt fasse ich in meine Jackeninnentasche. Obwohl ich die Jacke etwas anhebe, berührt meine Hand trotzdem unbeabsichtigt seinen Brustkorb.
„So hat mich schon lange kein Mann mehr angefasst“, erzählt der Blonde grinsend, dabei klingt er etwas, als würde er bei einer billigen Sexhotline arbeiten. Seine Stimme klingt verrucht und beinahe etwas heiser. Ich muss mir mein Lachen verkneifen. Es dauert dadurch etwas länger, bis ich die zwei Zigaretten herausgezogen habe. Die zweite Zigarette entwischt mir einige Male, doch dann ziehe ich meine Hand aus der Jackeninnentasche. „Das war echt schön, Trevor. Danke, dass wir diesen intimen Moment miteinander teilen durften.“
„Richie, hör auf, sonst muss ich dich über’s Knie legen.“
„Oh, davor habe ich ja so große Angst.“
„Solltest du haben“, antworte ich mit einem Zwinkern.
„Darf ich auch eine Zigarette haben? Du hast ja zwei.“
„No. Im Leben nicht. Wenn Mister Jones hört, dass ich dir eine Zigarette gebe, bricht er mir das Genick“, antworte ich nun wieder ernster. „Und dann noch mit Gras.“ Richie eine Zigarette abgeben, soweit kommt es noch. Das Gras würde ihn bestimmt außer Gefecht setzen.
„Und wenn er es nicht erfährt?“, fragt Richie. „Wer soll es ihm sagen? Der Wald? Domingo? Ich denke, dass das unter uns bleiben wird, Trevor. Außerdem könntest du Dad langsam beim Vornamen nennen, findest du nicht?“
„No, das ist so ein Respektding, er wird immer Mister Jones bleiben. Und was die Zigaretten angeht: Vergiss es. Auch wenn du erwachsen bist, kann ich das nicht erlauben. Egal wie oft du fragst, meine Antwort wird immer ‚Nein‘ bleiben.“
„Es ist sexy, dass du so hart bleibst“, spricht Richie verführerisch.
„Ich zeige dir gleich etwas, das mindestens so hart ist wie mein Ego“, flirte nun auch ich. An Richies unbeeindruckter Miene sehe ich sofort, dass mein Spruch nicht ansatzweise ankommt.
„Oh wow… Der… war so schlecht.“ Er sieht mich fragend an, spricht dabei weiter: „Funktioniert das bei Calum wirklich?“
„Manchmal“, antworte ich, wobei ich mit den Schultern zucke.
Richie lacht, dabei geht er wieder den Waldweg entlang.
„Lass mich raten, du wolltest gar keine Zigarette, richtig?“
„Nein, ich wollte nur wissen, ob du mir eine geben würdest, wenn ich dich darum bitte. Ich wollte wissen, wo deine Grenze liegt.“
„Wenn du so neugierig bist, kannst du ja noch ein paar andere Grenzen austesten.“
„Nein danke, für heute bin ich zufrieden“, winkt er ab.
Ich entzünde eine der Zigaretten, die andere stecke ich mir hinter das Ohr, um sie auf dem Rückweg zu rauchen. Mein Feuerzeug halte ich in der Hand, für den Fall, dass meine Zigarette wieder ausgehen sollte. Wenige Meter vor mir bleibt Richie stehen. Er sieht zu einem Gebüsch, aus dem Domingo plötzlich herausstürmt. Aufgeregt läuft der Hund wieder den Waldweg entlang. Ich hole den Abstand zu Richie schnell wieder auf und der Blonde hakt sich gleich wieder bei mir ein.
„Also bevor du die Zigarette angezündet hast, war die Luft sehr angenehm.“
„Wenn es dich stört, dann lass mich los und geh voran.“ Während wir weiter gehen behalte ich Domingo im Auge. Der kleine Flohzirkus steckt seine Nase in ein weiteres Gebüsch.
„Nein, so ist es kuscheliger. Ich mag es kuschelig.“
„Langsam werde ich das Gefühl nicht los, dass du dich an mich ranschmeißt. Richie? Nutzt du etwa meine Gefühle dir gegenüber aus, nur um dich an mir zu vergehen?“, ziehe ich den kleinen Blondschopf auf.
„Ja klar… Ich vergehe mich an dir. Ich sehne mich nur nach Wärme, weil mir kalt ist. Hier am Fluss ist es noch kälter als ohnehin schon.“
Ich seufze. „Wir drehen um, okay? Ich will ohnehin unter die Dusche. Es wird Zeit, dass ich mir das Salz aus den Haaren wasche.“ Ich pfeife nach dem Hund, der sofort umdreht und zu mir läuft. Heute ist Domingo ausgesprochen brav, dafür bekommt er später noch ein kleines Leckerli.
„Oh ja, eine Dusche wäre fein“, stimmt Richie mir zu. „Ein Bad wäre fast noch besser, damit ich mich wieder richtig aufwärmen kann.“
„Schaffst du es noch bis nach Hause ohne zu erfrieren?“
„Ja, ja, verarsch mich nur, aber ja, ich werde es schaffen.“
„Tz, da will man nett sein und erkundigt sich nach dem Wohlbefinden eines geliebten Mitmenschen und schon wird einem eine böse Absicht unterstellt“, beschwere ich mich halbherzig.
„Entschuldige.“
„Das war ein Witz, ich bin nicht beleidigt. Entschuldige dich nicht, mein Kleiner.“
„Okay dann… öhm…“ Richie überlegt kurz, ehe er mir eine seiner Meinung nach passendere Antwort gibt: „Du kannst mich mal, du Arsch.“
„Sehr brav, das will ich hören.“
…
Nachdem ich erst Domingo gebadet habe, nehmen Richie und ich wie besprochen eine Dusche. Getrennt natürlich! Ich könnte diesem Knackarsch nicht widerstehen, wenn er eingeseift vor mir stehen würde. Ich muss mich generell sehr zusammen reißen, wenn er ständig so nah bei mir ist. Mein letztes Mal Sex ist schon so lange her, dass ich mich kaum noch daran erinnere, aber ich bin sicher, dass ich die Zeit, die Calum nicht hier ist irgendwie durchstehen kann, ohne mich an Richie zu vergreifen. Außerdem wäre es nicht abwegig wenn Calum mich damit testen möchte. Wer weiß, vielleicht hat er Richie ja auch angestiftet, dass er mir näher kommen soll…
Oh Yoba. Mein Kopf wird schon wieder paranoid…
Calum kann manchmal manipulativ sein, aber ich bin mir mehr als sicher, dass er Richie dazu niemals einspannen würde. Richie ist seine Grenze. Er würde ihm das nie antun. Nicht nachdem was der Kleine schon alles erlebt hat. Seine Seele ist viel zu zart, Calum würde ihn nie zum Lügen anstiften. Abgesehen davon ist Richie ein verdammt schlechter Lügner, er kann kaum etwas für sich behalten.
Ich steige aus der Dusche, trockne mich gründlich ab und wickle mir ein Handtuch um die Haare. Durch das Salzwasser sind sie etwas strohig, auch das Dunkelgrün verblasst immer mehr. Mein Ansatz sollte auch nachgefärbt werden, aber ich bin zu faul, mir einen Friseur zu suchen. Vielleicht sollte ich sie wieder in einen natürlichen Farbton färben… Für bunte Haare bin ich ohnehin schon zu alt, wenn es Calum nicht so gut gefallen würde, hätte ich es wahrscheinlich längst aufgegeben.
Trocken und angezogen begebe ich mich in die Küche. Für unseren Filmabend mache ich Popcorn, während Richie die Streamingplattform nach einem passenden Film durchsucht. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich bereits weiß, was mich erwartet.
„Worauf hättest du denn so gar keine Lust?“, ruft Richie aus dem Wohnzimmer.
„Ich bin mit allem einverstanden, mein Kleiner. Selbst mit einer Liebesschnulze“, antworte ich ihm etwas lauter, um sicher zu gehen, dass er mich auch versteht.
„Ach echt?!“
„Sí. Ich weiß ja, wie gerne du solche Filme hast. Ich bin nicht wählerisch, ich sehe mir so gut wie alles an.“
Als ich mich zur Seite drehe, sehe ich, wie Richie in dem Türbogen zwischen Küche und Wohnzimmer steht. Kluge Entscheidung, so ersparen wir uns das Schreien. „Also ich mag Romanzen schon, aber mich stört es total, dass es immer noch viel zu wenige Liebesfilme mit schwulen Paaren gibt. Immer wenn mir jemand Empfehlungen in diese Richtung gibt, hab ich den Film schon gesehen“, erzählt Richie. „Meistens sogar mehrmals…“
„Tja, da kann man nichts machen, mein Kleiner.“
„Naja schon“, widerspricht Richie mir. „Also du und ich nicht, aber Filmemacher könnten etwas tun, nur unternimmt niemand etwas gegen diesen Missstand.“
Ich blicke kurz zu Richie, der eine Schmolllippe zieht, doch dann widme ich mich wieder dem Popcorn in der Pfanne. Das Popcorn wird immer leiser, immer weniger Maiskörner platzen. Es klingt so, als wäre die Portion fertig. „Also ich hab zwar schon Filme gemacht in der zwei Männer die Hauptrolle gespielt haben, aber ich denke nicht, dass du dir die ansehen solltest“, antworte ich grinsend, dabei schiebe ich die Pfanne von der Platte.
„Das ist echt mehr als ich wissen wollte…“, antwortet Richie. Er begibt sich gleich wieder ins Wohnzimmer. „Sag mir so etwas nicht.“
„Lo siento.“
Ich fülle die fertigen Popcorn in eine Schüssel. Vorsichtig gieße ich etwas geschmolzene Butter darüber, wobei ich den Inhalt der Schüssel immer wieder gut durchschüttle. Zum Abschluss streue ich noch etwas Salz über die Popcorn. Nachdem ich den Inhalt der Schüssel ein letztes Mal durchgeschüttelt und kurz gekostet habe, gehe ich mit dem von Richie gewünschten Snack ins Wohnzimmer.
Richie hat bereits Kissen und Decken auf der Couch platziert. Es macht den Eindruck, als würde er mit mir zusammen hier im Wohnzimmer schlafen wollen. Genug Platz hätten wir ja auf der ausgezogenen Couch.
„Hast du alles?“, erkundige ich mich.
„Oh, nein, noch nicht. Ich wollte noch einen Teller mit Crackern in Lucías Zimmer bringen. Sie hat gefragt, ob wir ihre Freunde füttern können.“
Ich sehe Richie aus einer Mischung von Belustigung und Irritation an. Es ist so lächerlich, meiner Tochter diesen Wunsch ernsthaft zu erfüllen. Auch wenn ich es ihr versprochen habe, werde ich erst kurz vor ihrer Ankunft einen oder zwei Cracker in ihr Zimmer legen. Ich habe nicht vor, jeden Tag Lebensmittel wegzuwerfen, schon gar nicht, wenn Lucía es gar nicht mitbekommt, ob nun Cracker für ihre imaginären Freunde bereit liegen oder nicht.
„Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?“
„Doch, immerhin habe ich es versprochen und du hast es auch versprochen“, antwortet Richie standhaft. Er kann meinen Standpunkt nicht nachvollziehen, also versuche ich, ihm näher zu bringen, was mein Problem damit ist.
„Ist dir klar, dass ihre Freunde imaginär sind? Sie existieren also nicht. Etwas, das nicht existiert, kann auch keinen Hunger haben. Das verstehst du doch, oder?“
Richie sieht mich an. Dieser Hundeblick soll dazu dienen, mich weichzukochen, mich zu überreden das zu tun, was ich nicht tun möchte. Es könnte sein, dass es funktioniert, da ich nicht mit ihm streiten möchte.
„Bitte?“, fragt er leise nach. „Es sind doch nur Cracker. Ich lege ein paar nach oben und wenn sie wieder da ist, dann sieht sie, dass wir uns um ihre Freunde gekümmert haben.“
Ich seufze. „Richie, im Ernst, ich will das Zeug nicht frei herumliegen haben, weil ich nicht möchte, dass sich Ameisen oder schlimmstenfalls andere Schädlinge in meinem Haus breit machen. Kurz bevor Lucía nach Hause kommt, lege ich ein paar Cracker nach oben. Dann sind sie frisch und knackig und Lucía kann sie selbst essen. Das hat denselben Effekt, nur dass ich keine abgelegenen Cracker wegwerfen muss, verstehst du?“
Er nickt. „Ja, macht schon Sinn…“, antwortet Richie nachdenklich. „Aber wir dürfen das nicht vergessen, wir haben es versprochen.“ Ich stimme mit einem Nicken zu. „Ich hole mir schnell meine Kuscheldecke von oben und dann können wir loslegen. Ich hab mir schon einen tollen Film ausgesucht.“
„Okay.“
Ich mache es mir in der Zwischenzeit gemütlich. Aus der Küche höre ich, dass Richie nach irgendetwas sucht, ich kann auch deutlich hören, dass er einen Teller auf die Theke stellt. Wahrscheinlich ignoriert er, was ich gesagt habe und serviert Lucías imaginären Freunden trotzdem die gesalzenen Cracker. Manchmal frage ich mich, wozu ich überhaupt mit Menschen spreche, wenn ohnehin niemand zuhört oder zuhört und trotzdem ignoriert, was ich gesagt habe. Es ist nicht so, dass ich wütend auf Richie bin, es ist eher so, dass ich nicht begreife, was an meiner Erklärung so schwer zu verstehen ist. Welcher Teil meiner Aussage war ihm nicht verständlich? Dass die Freunde imaginär sind und deswegen nicht verhungern werden oder kapiert er nicht, dass Ameisen einem das Leben sehr schwer machen können? Mäuse und Ratten sind sogar noch schlimmer. Sie beschädigen Vorräte, Einrichtungsgegenstände, Klamotten und können Krankheiten übertragen…
Ich atme tief durch und beschließe, Richie einfach machen zu lassen. Sollte er durch seine Aktion Schädlinge anlocken, wird er sie eigenhändig entfernen. Wenn ich ihn Mausefallen aufstellen lasse, lernt er seine Lektion vielleicht doch noch. Ich könnte ihm auch morgen früh die nicht mehr ganz so frischen Cracker zum Frühstück servieren…
Lange kann ich mich nicht mehr darüber ärgern, denn meine Aufmerksamkeit wird von Domingo in Beschlag genommen. Der Chihuahua versucht eigenständig auf die Couch zu klettern, doch seine Größe macht ihm das recht schwer. Domingo steht vor der Couch, seine Vorderpfoten liegen auf der Polsterung. Es sieht witzig aus, wie er verzweifelt versucht, zu mir zu gelangen. Er springt auf und ab, hat jedoch nicht genug Schwung, um auf die Couch zu gelangen. Mir ist durchaus bewusst, wie scheiße es von mir ist, mich darüber zu amüsieren, aber er sieht nun mal sehr witzig aus. Seine Ohren wackeln, wenn er springt.
Domingo schnaubt empört, da ich seine Bemühungen bloß zu meiner Belustigung nutze, anstatt ihm zu helfen. Er nimmt Abstand von der Couch. Ich sehe, dass er Anlauf nimmt, doch selbst mit Anlauf springt er nur gegen die Couch, anstatt es zu mir nach oben zu schaffen. Als der Hund hinunterfällt, muss ich lachen. Domingo richtet sich schnell wieder auf, als wäre ihm nichts passiert, also mache ich mir keine Sorgen, sondern amüsiere mich weiter.
„Bei Yoba, Domingo, wieso bist du nur so dämlich?“ Ich lege mich auf die Couch, mein Gesicht ist nur wenige Zentimeter von dem unüberwindbaren Abgrund entfernt. Ich blicke auf meinen Hund herab. „Tu dir bloß nicht weh bei deinen verzweifelten Versuchen.“
Domingo läuft nervös auf und ab, er beginnt damit mich anzubellen, als würde er von mir verlangen, dass ich ihn gefälligst auf die Couch heben soll. „Klar, jetzt bin ich schuld, dass du klein bist. Ich kann nichts dafür, dass du ein Chihuahua bist. Du hast da drüben ein bequemes, nicht gerade preisgünstiges Körbchen, das du als deine persönliche Couch nutzen kannst. Dich dort hinzulegen wäre weniger frustrierend.“
„Redest du immer so mit dem armen Domingo?“, fragt Richie amüsiert. Er wirft seine Kuscheldecke über mich und auf die Couch.
„No, nur wenn ich mich über ihn lustig mache, wenn ich nett zu ihm bin, spreche ich Spanisch mit ihm.“
„Wow… Du Arsch. Mach dich nicht über ihn lustig, er ist ein kleiner, zuckersüßer Hund.“ Richie geht in die Knie, er nimmt Domingo auf den Arm. „Na komm, mein Schatz, natürlich darfst du zu uns auf die Couch. Trevor will dich nur ein bisschen ärgern, weil er einen sehr fragwürdigen Humor hat. Niemand schließt dich aus, du darfst bei uns bleiben.“
Der Blondschopf lässt Domingo gleich wieder los, sobald er auf der Couch sitzt. Domingo ergreift die Möglichkeit, sich an mir zu rächen. Er schnüffelt in mein Gesicht, was mich dazu veranlasst, mein Gesicht in der Polsterung zu vergraben, um mich vor seiner neugierigen Schnauze zu schützen. Wieso er mir immer über das Gesicht lecken möchte, werde ich nie verstehen. „No. Domingo, no“, murmle ich vor mich hin. Ich spüre und höre seine Nase an meinem Ohr. Er schnüffelt an mir, als würde ich eines seiner Leckerlies vor ihm verstecken. Eine Weile lasse ich mir seine kalte, feuchte Nase an meiner Haut gefallen, doch als er anfängt an meinem Arm zu ‚graben‘, setze ich mich wieder auf. Obwohl seine Pfoten so fragil wirken, tut es weh, von ihm gekratzt zu werden.
Aufgedreht springt Domingo mich an. Die Rache hat sich wohl erledigt, er möchte mir viel Liebe schenken. „No.“ Mit beiden Händen greife ich nach dem Hund. Ich hebe ihn hoch und halte Domingo eine Armlänge auf Abstand. „Ganz ruhig, du Verrückter. Tranquilo, Domingo.“ Mit geöffnetem Mund sieht Domingo mich an. Er hechelt aufgeregt, dabei sieht er mich an. Er beginnt damit, sich zu bewegen und zu strampeln, sodass ich ihn absetzen muss, da ich mir Sorgen mache, dass er sich selbst wehtun könnte, wenn ich ihn weiterhin festhalte.
„Vielleicht war der Spaziergang doch ein bisschen zu kurz“, wirft Richie vorsichtig ein. Domingo springt auf der Couch hin und her, falls er hinunterfallen sollte, werde ich ihn garantiert nicht wieder hochheben. Richies Augen verfolgen die Bewegungen des Hundes. „Ich hätte mehr anziehen sollen. Domingo wirkt nicht sehr ausgelaugt, eher bisschen aufgedreht.“
„Das wird schon. Er hat nur grade einen Sprung in der Schüssel. Das sind seine fünf verrückten Minuten. Wenn man nicht mit ihm spielt, sondern ihm zeigt, dass es Chillzeit ist, wird er von alleine ruhiger. Es dauert nur ein paar Minuten.“
„Oh… na dann.“
Richie startet den Film, er knuspert neben mir genüsslich von den gesalzenen Butterpopcorn. Domingo braucht eine Weile, um zu verstehen, dass ich jetzt nicht mit ihm spielen werde. Er wird auf meinem Schoß platziert und mit Streicheleinheiten zur Ruhe gebracht. Immer wieder legt er seine Vorderpfoten an meine Brust und schnüffelt an meinem Hals und meinem Gesicht, doch ich weiche ihm aus, um nicht abgeleckt zu werden.
Ich brauche zwar einige Versuche, um ihm zu verstehen zu geben, was ich von ihm möchte, doch er kapiert, dass ich jetzt nicht mit ihm spielen werde. Nachdem mein Gesicht nach mehreren Malen beschnuppern nicht mehr so interessant für ihn ist, rollt er sich endlich in meinem Schoß zusammen und genießt den Abend.
Richie kuschelt sich an meine Seite. Er lehnt seinen Kopf gegen meine Schulter. „Willst du auch?“
„Ich hab gerade den Hund gestreichelt, ich will seine Hundebakterien nicht in deinem Popcorn verteilen.“
„Ich hab Domingo auch angefasst, ist nicht so tragisch. Außerdem ist er ja frisch gebadet.“ Richie stellt die Schüssel auf den Couchtisch. „Wieso nennst du Domingo eigentlich so oft ‚den Hund‘? Kommt mir komisch vor. Er hat doch einen Namen.“
„Weil er einer ist“, antworte ich ihm teilnahmslos, mein Blick gilt immer noch dem Film.
„Ja, aber du sagst ja auch nicht ‚der Mensch‘ zu mir.“
„Richie… Willst du dich mit Domingo auf eine Stufe stellen?“, frage ich nach, dabei drehe ich meinen Kopf zu ihm.
„Nein, aber… Öhm… Ich glaube, dass ich lieber still sein sollte. Sinnloses Gespräch, entschuldige.“
„Entspann dich und genieß den Film. Wenn du müde wirst, kuschelst du dich in deine Kuscheldecke und machst die Augen zu“, schlage ich vor.
„Bleibst du bei mir, falls ich hier einschlafe?“
Ich überlege kurz. „Klar, wieso nicht?“ Ich hebe Domingo mit einer Hand an und rücke die Decke, mit der ich zugedeckt bin, zurecht. Sobald ich eine angemessene Position gefunden habe, platziere ich Domingo wieder auf meinem Schoß. Er findet schnell wieder einen gemütlichen Platz. „Weißt du worauf ich mich am meisten freue?“
„Nein. Worauf denn?“, fragt Richie nach.
„Ich freue mich darauf, endlich auszuschlafen. Man sollte meinen, dass man als Musiker im Ruhestand ausschlafen kann, aber davon kann ich bloß träumen. Ich liebe meine Mädchen, aber die Ferien sind für mich die pure Hölle. Manchmal braucht man eine Pause von seinen Kindern. Ich bin froh, dass ich hier in Pelican so viele Menschen habe, denen ich meine Kinder anvertrauen kann.“
„Hm. Ich fand die Ferien immer toll, vor allem wenn meine Eltern Zeit für mich hatten. Wenn sie gearbeitet haben, war ich ja meistens alleine. Meine sozialen Kontakte waren hauptsächlich Angestellte oder Lehrer.“
„Tja“, gebe ich von mir, ehe ich weiterrede: „Calum und ich sind ja so gut wie immer zu Hause, also machen wir alles selbst. Ironischerweise sind die Schultage nicht so anstrengend wie die Ferien. Ich bringe die Mädchen morgens nach dem Frühstück zur Schule, damit Calum sein Workout durchziehen kann. Dann folgt der Haushalt und das Kochen das Mittagessens und wenn ich dann noch etwas Zeit übrig habe, schiebe ich noch Trevors Chillzeit ein, bevor Calum die Mädchen abholt und wir zu Mittag essen. …dann folgen die Hausaufgaben, dann die Streits um irgendeinen Blödsinn und falls doch alles glatt läuft wird gespielt. Spaße wie Tanzstunden sind da natürlich noch gar nicht erwähnt. Und natürlich geht das alles am nächsten Tag wieder von vorne los. Außer an den Wochenenden natürlich, denn im Gegensatz zu den Schultagen können die Mädchen zu der Zeit auf magische Weise morgens ihr Bett verlassen, ganz ohne, dass ich ihnen die Decken wegnehmen oder sie ins Badezimmer tragen muss… Yoba bewahre, dass man als Elternteil auch nur einmal ausschlafen kann.“
Richie kichert. „Das klingt so toll, ich wünschte, meine Eltern hätten auch so viel Zeit für mich gehabt. Weder Mum noch Dad hatten Zeit, mich zur Schule zu fahren. Sie mussten meistens vor mir los. Ich wurde von unserem Fahrer zur Schule gebracht, mein Mittagessen hat unser Butler zubereitet und meine Hausaufgaben musste ich alleine lösen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie glücklich ich war, als meine Eltern dich als Nachhilfelehrer engagiert haben, so hatte ich endlich jemanden, der sich nur mit mir beschäftigt. Naja, an den Wochenenden hatten Mum und Dad dann ein bisschen mehr Zeit für mich. Am besten waren die Geschäftsreisen, zu denen ich mitkommen konnte, denn da hat Dad immer ein paar Tage nur für mich eingeplant. Das waren meine schönsten Wochen.“
„Sei froh, dass sie die Zeit, die sie hatten damit verbracht haben, dir Liebe und Zuneigung zu schenken. Wenn sie dich permanent um sich gehabt hätten, wären sie vielleicht so angepisst gewesen wie ich es manchmal bin.“
„Wow… Bin ich so schwer zu ertragen?“, fragt Richie erschrocken nach. „Klingt als wäre ich ein Monster.“
„No, nicht du per se, sondern alle Kinder. Kinder sind Monster. Sie fordern ohne Wenn und Aber, sie haben keine Geduld und sie wollen immer ihre kleinen Sturköpfe durchsetzen. Das Ärgerlichste ist allerdings, dass jede menschliche Logik für sie unbegreiflich ist, weil sie noch nicht wissen, was das alles bedeutet.“
„Tz… Du bist so ein böser Mensch. Wie kann es sein, dass man dir tatsächlich ein Kind überlassen hat, geschweige denn zwei Kinder.“ Richie legt seine Hand in meinen Schoß, um den Hund zu streicheln.
„Ich schätze, dass Calum dazu viel beigetragen hat.“
„Das denke ich auch. Na hoffentlich weckt Domingo dich morgen früh nicht, damit du mit ihm Gassi gehen musst. Es wäre ja eine Schande, wenn du wieder nicht ausschlafen könntest und dieses Mal ein anderes Monster daran Schuld wäre.“
„War das Sarkasmus?“
„Vielleicht?“, antwortet Richie fragend. „War das gut?“ Der Blondschopf sieht mich erwartungsvoll an.
„Das war hervorragend. Damit hast du dir ein goldenes Sternchen verdient. Wenn du zehn davon hast, bekommst du eine kleine Überraschung.“
Richie lacht etwas. „Du bist so ein Lehrer. Das erklärt allerdings auch, wieso du Kinder für Monster hältst.“
„Wenn du frech bist, rufe ich deine Eltern an.“
„Als ob“, antwortet Richie belustigt. „Scherz beiseite, bitte tu es nicht. Dad muss nicht alles wissen.“
Domingo sucht sich einen anderen Platz. Er legt sich neben meine Füße. Seinen Kopf stützt er an meinem Unterschenkel ab. Er schnauft, ehe er sich gemütlich gegen mein Bein kuschelt. Entspannt schließt er seine Augen. Somit ist meine Bewegungsfreiheit mal wieder eingeschränkt und das nur wegen so einem kleinen Schoßhund.
Nun da mein Schoß frei ist, ergreift Richie die Gelegenheit, sich zu mir zu kuscheln. Er legt seinen Kopf an meinen Oberschenkel und macht es sich richtig gemütlich. Meine Bewegungsfreiheit ist nun endgültig dahin. Richies schmaler Körper ist beinahe ganz von seiner Kuscheldecke bedeckt. Er streicht kurz über meinen Oberschenkel, doch dann versteckt sich auch sein Arm unter der Decke.
„Ist das für dich okay?“, fragt er unschuldig nach.
Als ob ich das Herz dazu hätte, ihn zu verscheuchen. „Mhm…“
Okay ist vielleicht das falsche Wort. Nicht okay ist allerdings auch nicht richtig. Genau genommen macht es mich dummerweise in bisschen scharf zu wissen, dass Richies Kopf sich sehr nah an meinem Intimbereich befindet. Schon für diesen Gedankengang würde ich mir am liebsten selbst in den Arsch treten. Ich sollte nicht so über ihn denken, das ist nämlich definitiv nicht okay…
Ich hebe meine Hand und lege sie an Richies Kopf. Vorsichtig und ein bisschen nervös streichle ich durch seine feinen, weichen Haare. Im Gegensatz zu mir hat er sich die Zeit genommen, seine Haare zu föhnen. Er wirkt zufrieden und entspannt, als er da so liegt. Wahrscheinlich wäre es das Beste, ihm diesen eigentlich unschuldigen Körperkontakt nicht zu verwehren. Richie sieht diese Annäherung anders als ich. Er sucht Wärme und jemanden, der für ihn da ist und ihm hilft, die Einsamkeit zu überwinden, während ich… naja, ich bin einfach nur ein notgeiles Schwein, das zu oft mit seinem besten Stück denkt. Ich wünschte, ich könnte das ablegen.
„Richie?“
„Ja?“
„Ich hab dich lieb und ich bin sehr froh, dass du hier bist.“
Irritiert sieht Richie zu mir nach oben. „Ist das dein Ernst? Dieses Mal sagst du das nicht, weil ich weine, oder?“
„Das habe ich heute Nachmittag eigentlich auch nicht gemacht, ich habe irgendwie das Gefühl, dass du es wissen solltest, dass du geliebt wirst.“ Ich lege eine Hand an seinen Bauch. „Auch wenn ich schon ewig mit Calum zusammen bin und durch die Mädchen auch immer wieder dazu gezwungen bin, Feingefühl zu zeigen, ist das alles ziemlich anstrengend. Ich bin im Nettsein richtig scheiße… Entschuldige, falls es seltsam rüber kommt, aber ich meine es ehrlich.“
„Vielleicht bist du im herkömmlichen Sinne nicht besonders nett.“ Richie legt seine Hand an meine. „Aber du bist auf eine andere Weise fürsorglich. Wenn man Panik hat, behältst du die Ruhe und kannst sachlich bleiben, egal wie furchtbar die Situation ist“, erklärt Richie lächelnd. „Bei einem Feuer wärst du der King, du würdest alle ganz locker und lässig retten und dir im Anschluss an deinem brennenden Haus eine Zigarette anzünden.“ Der Vergleich bringt mich zum Lachen. Es stimmt schon, auch wenn ich mich über gewisse Dinge schnell und intensiv aufregen kann, kann ich auch genauso gut alles sehr ruhig angehen, vor allem, wenn andere Leute zu viel Wirbel darum machen. „Ich würde bei einem Brand panisch herumlaufen und kreischen. Wie so ein aufgescheuchtes Huhn. Da wäre meine Nettigkeit vollkommen überflüssig.“
„Das kann ich mir bei dir leider ganz gut vorstellen“, schmunzle ich bei dem bildlichen Gedanken an die beschriebene Situation.
„Weißt du Trevor, du überschüttest einen vielleicht nicht mit Liebe, aber bei dir fühlt man sich sicher. Man weiß, dass man gut aufgehoben ist und dass du einem immer den Arsch retten kannst. Du versorgst uns alle mit leckerem Essen und auch wenn dich einige Geschichten gar nicht interessieren, versuchst du zuzuhören. Nicht jeder ist gleich, aber stell dir mal vor, dass alle so wie ich wären…“
„Tja, dann gäbe es Liebe und Frieden auf dieser Welt“, antworte ich ihm.
„Ja, aber jeder wäre sehr passiv und würde für die anderen zurückstecken. Es würde gar nichts vorangehen.“
„Hm…“ Ich blicke zu Domingo, da er sich auf den Rücken dreht. Er streckt seine Pfoten in die Höhe, sein Kopf liegt nun auf meinem Fuß. „Wenn es auf der Welt nur Trevor-Persönlichkeiten gäbe…“ Ich grinse. „…dann würde auch nichts vorangehen, weil wir alle ständig Sex miteinander hätten.“
Nun bringe ich Richie zum Lachen. „Klingt doch gar nicht so schlecht.“
„Stimmt… Das wäre eine Welt, in der ich gerne leben würde, zumindest für eine Weile.“
„Würde ich auch ganz nett finden. Bei vielen Trevor-Persönlichkeiten finde ich bestimmt ein paar hübsche Männer, damit ich einen Dreier ausprobieren kann.“
Diese Aussage überrascht mich. „Oh Richie… Ich wünschte, du hättest das nie gesagt…“
„Tu nicht so schockiert. Ich bin erwachsen und du bist nicht der Einzige, der ein Sexleben hat“, antwortet Richie etwas schnippisch. Er blinzelt mich an, ehe er noch etwas hinzufügt: „…also ich habe im Moment eigentlich gar keines, aber ich hätte doch ganz gerne wieder eines. Es fehlt mir, Sex zu haben. Nur ohne Will ist das… naja… Ich weiß nicht…“
Ich atme tief durch. „Wenn du nicht Calums Cousin wärst, wärst du perfekt für mich. Einen Dreier würde er mir nämlich erlauben. Ein hübsches, zartes Kerlchen wie du wäre eine nette Abwechslung zu Calums Sixpack.“
Richie grinst: „Ist ja ganz schön scheiße für dich, Trevor.“
„Mhm…“
Er schubst mich etwas, vermutlich weil ich gerade sehr enttäuscht aussehe. „Sei doch froh, dass du Calum hast. Du solltest das schätzen, anstatt dich ständig nach irgendjemandem umzusehen. Calum sieht gut aus, er hält sich fit und er ist sehr lieb und geduldig. Du kannst dich sehr glücklich schätzen, dass du jemanden wie ihn hast“, rät Richie mir ernst. „Du solltest ihn mit viel mehr Respekt behandeln und ihm nicht immer durch die Blume vermitteln, dass er dir nicht genug ist.“
„Yo se… Ich weiß genau, dass er ein Glücksgriff ist. Jeder andere hätte bereits die Scheidung eingereicht und mich um mein halbes Vermögen gebracht. Niemand sonst hätte mir so viel durchgehen lassen. Calum ist wunderbar, aber… naja, selbst wenn er etwas Neues ausprobieren möchte und ein bisschen Spielzeug miteinbringt, schlafe ich im Endeffekt immer mit demselben Menschen.“
„Ja und? Menschen sind kein Einweg-Sexspielzeug.“
„Das habe ich auch nicht gesagt.“
„Aber du meinst es irgendwie so. Sei doch froh, dass du jemanden hast, der deine Bedürfnisse kennt.“
„Meine Bedürfnisse sind schlicht, Richie. Ich will einen Orgasmus und so schnell wie möglich wieder einen. Schneller, abwechslungsreicher Sex und das am besten immer und immer wieder.“ Richies Gesicht verrät, dass er nicht besonders angetan ist. „Seit ich die Band verlassen habe, und sich dadurch unsere Vereinbarung gelöst hat, bin ich Calum treu. Mittlerweile ist aber der Alltag eingekehrt, wir haben Kinder und können nicht mehr so spontan sein, wie wir wollen. Wenn wir immer und überall Sex haben könnten, wäre mir damit schon sehr geholfen, aber ich muss mich jeden Tag zusammenreißen. Es liegt nicht an Calum, überhaupt nicht. Es liegt an mir und an der gesamten Situation. Ich bin auf Dauer auch etwas… gelangweilt von einem männlichen Körper, vor allem, wenn ich immer auf ihn warten muss und mir nicht sofort nehmen kann, was ich brauche, verstehst du?“
Der Blonde schüttelt den Kopf. „Nicht mal ansatzweise. Ich war noch nie von einem männlichen Körper gelangweilt“, entgegnet Richie mir.
„Du magst doch Kekse, richtig?“
„Ich bin davon überzeugt, dass jeder Kekse mag“, antwortet Richie zuversichtlich.
„Muy bien. Ich male dir ein kleines Bild, damit du es vielleicht besser nachvollziehen kannst, okay?“
„Alles klar“, stimmt er mir zu.
„Also, stell dir vor du bekommst immer nur Cookies mit Schokoladenstückchen zum Knabbern und das meistens abends. Es ist okay für dich, du liebst diese Cookies und sie sind dein liebster Snack. Ohne diese Cookies wärst du definitiv nicht glücklich, weil sie dir ans Herz gewachsen sind. Und obwohl du deine Cookies liebst und du immer zufrieden mit den Cookies bist, hättest du trotzdem ab und zu Lust an einem mit Schokolade überzogenen Butterkeks zu naschen, vielleicht auch mal tagsüber. Die Butterkekse findest du nämlich auch sehr lecker, so als Abwechslung, so zwischendurch, wenn du mal Lust auf etwas Süßes hast. Aber trotzdem kommst du immer wieder zurück zum Keksregal, um dir deine Cookies zu holen.“
„Dann ist Calum also der Cookie?“, fragt Richie nach kurzer Stille.
„Mhm.“
„Und Frauen beziehungsweise One-Night-Stands die Schokolade-Butterkekse?“, hakt er wieder nach.
„Sozusagen“, stimme ich ihm zu.
„So macht das tatsächlich Sinn. Wenn man mehr als eine Sorte Kekse mag und zu unterschiedlichen Zeiten naschen möchte ist das wohl doch ein bisschen schwerer, als immer nur abends mit denselben Keksen vor dem Fernseher zu sitzen. Aber trotzdem: Kekse hin oder her. Calum hat mit dir viel durchgemacht“, belehrt Richie mich. „Auch wenn du Lust hast Frauen zu vernaschen, reicht es an Calum zu knabbern, denn im Endeffekt bist du nachher nicht mehr hungrig und darum geht es dir doch.“
„Weise Worte, mein Kleiner“, antworte ich mit einem Lächeln. Er hat die Metapher voll und ganz verstanden, so gefällt mir das. Er ist zwar trotzdem nicht meiner Meinung, aber darum geht es auch gar nicht. Es geht darum, meinen Standpunkt verständlich zu machen.
Ich richte meinen Blick wieder auf den Fernseher. Richie legt sich wieder seitlich hin, was mich dazu bringt, ihn erneut zu streicheln.
Einige Male streiche ich über seine Seite, doch dann lässt er einen tiefen Seufzer los.
„Wenn ich daran denke, mit jemandem ernsthaft zu flirten oder gar Sex zu haben, dann bekomme ich immer ein verdammt schlechtes Gewissen wegen Will… Ich meine… Er wartet da oben auf mich… Es wäre scheiße von mir, in der Zwischenzeit mit einem anderen Kerl zusammen zu sein… Das ist ihm gegenüber so unfair. Ich fühle mich, als würde ich ihn betrügen…“
Richies Aussage weckt mein Mitleid. Ich halte nicht viel vom Leben nach dem Tod, schon gar nicht, wenn man es so auslegt, wie er es in diesem Moment macht. „Und wenn es nach dem Leben nichts mehr gibt? Dann bist du dein ganzes Leben einsam, weil du darauf spekulierst, dass jemand, der tot ist, auf dich wartet, obwohl dich nach deinem Leben vielleicht nichts mehr erwartet.“
„Das stimmt nicht. Es gibt etwas nach dem Tod. Wills Seele ist noch da, wir reden miteinander“, erklärt Richie überzeugt. An seiner Stimme höre ich deutlich, dass er sich das nicht ausreden lässt und vielleicht sollte ich das auch gar nicht erst versuchen.
„Und… antwortet er dir auch?“, hake ich vorsichtig nach.
„Ja, er schickt mir Sternschnuppen. Ich hab mit Emily darüber gesprochen und ihr erzählt, dass ich mich jeden Abend mit Will unterhalte. Emily glaubt mir, dass die Sternschnuppen von William sind. Sie ist sich da ganz sicher. Ich bin froh, dass er mich nicht ganz verlassen hat, Trevor. Natürlich fehlt es mir, ihn zu sehen, ihn zu berühren und ihn zu küssen, aber das ist alles, was ich noch habe… Es ist besser als nichts, oder?“
Für einen Moment ist es still.
„Richie…“ Ich stoppe, bevor ich irgendetwas zu Logisches und wohlmöglich zu Kaltes sage und entscheide mich dafür, so gut es geht Einfühlungsvermögen zu zeigen. „…wenn du das nächste Mal mit ihm sprichst, dann grüß ihn von mir. Sag ihm, dass ich gut auf dich aufpasse, bis ihr wieder zusammen sein könnt.“
„Mach ich.“ Richie atmet tief durch, dann zieht Richie meine Hand an seinen Bauch. Er verhakt unsere Finger ineinander. „Danke, Trevor.“
„De nada, mein Kleiner.“
…
Noch bevor der Film, von dem ich eigentlich nichts mitbekommen habe, endet, findet Richie in den Schlaf. Ich bin erleichtert, dass er nicht mehr geweint hat, sondern in Frieden einschlafen konnte. Ich sorge dafür, dass er es bequem hat, bevor ich mich selbst hinlege und für meinen eigenen Komfort sorge. Auch der Hund findet einen neuen Platz zum Schlafen, es ist bestimmt der siebte oder achte Versuch, den er heute Abend tätigt, doch das ist typisch für den kleinen Flohzirkus, er schlägt sein sprichwörtliches Zelt immer an einem neuen Platz auf.
Im Dunkeln sehe ich an die Decke, draußen ist es relativ hell, somit ist auch das Wohnzimmer nicht so dunkel, wie ich es im Schlafzimmer bei geschlossenen Vorhängen gewohnt bin.
Emily bestärkt Richie in irgendwelchen Ideen, die ihm auf Dauer nicht gut tun. Natürlich soll Richie trauern, er soll William vermissen, er soll weinen, er soll die Welt verfluchen, aber er soll auch irgendwann damit abschließen können. Er kann nicht sein gesamtes Leben darauf aufbauen, dass er und William im Himmel wieder vereint werden. …das ist nicht gesund. Er verpasst sein ganzes, sein einziges Leben, wenn er diese Einstellung nicht hinter sich lassen kann. Ich möchte nicht, dass er ein einsames Leben fristet, in dem Glauben, dass er einem Toten treu ist. Das… ist so verrückt… und traurig anzusehen…
Richie bewegt sich etwas. Er dreht sich zu mir und schmiegt sich an meine Seite. Voller Mitleid lege ich einen Arm um ihn. Sobald Calum wieder hier ist, muss ich ihm sagen, dass ich möchte, dass Richie bei uns bleibt. Zumindest solange, bis er wieder auf eigenen Beinen stehen kann… Abgesehen davon müssen wir dafür sorgen, dass er jemanden kennenlernt, um auf neue, lebensbejahende Gedanken zu kommen. Es muss nicht gleich die große Liebe sein, aber er muss aus der Rolle des trauernden Witwers herauswachsen. Schritt für Schritt.
Liebevoll küsse ich Richies Stirn. Mein Kleiner wirkt wie ein unschuldiger Engel, wenn er schläft. Ich schäme mich ein bisschen für meine unkeuschen Gedanken und Aussagen ihm gegenüber. Ich muss versuchen, mir das abzugewöhnen, vor allem jetzt, wo ich weiß, dass er dadurch nur ein schlechtes Gewissen bekommt.
Und Emily… Mit dir habe ich noch ein Hühnchen zu rupfen…