Kapitel 2
Trotz der geschlossenen Bürotür drang das zweistimmige Gebrüll bis in die Werkstatt vor.
„–nicht bieten!“, schrie Werner, der langjährigste Mitarbeiter der Schreinerei Schmid.
„Dann kündige doch!“, brüllte Marcos Chef, Herr Schmid, zurück. „Nee, warte! Spar dir die Kündigung! Du bist gefeuert!“
Lautlos fluchend schloss Marco die Augen. Er hoffte inständig, dass hier mal wieder heißer gekocht als gegessen wurde und sein Chef nicht gerade den einzigen anderen Mitarbeiter gefeuert hatte, der halbwegs wusste, was er tat. Türen knallten, Schritte stapften vorbei. Dann trat Stille ein.
„Bianchi!“
Wohlwissend, dass er das Unausweichliche nicht ewig herauszögern konnte, stellte Marco die Breitbandschleifmaschine ab und trottete zum Büro seines Chefs. „Ich könnte schwören, ich hätte Ihre Stimme gehört.“
Schmid ignorierte Marcos Sarkasmus. Ein ebenso unerfreuliches Zeichen wie seine Gesichtsfarbe, die innerhalb von dreißig Sekunden von hochrot zu kalkweiß und zurück wechselte. „Bianchi, du springt heute für Werner ein. Er und Moritz sollten das Parkett in der Altbauwohnung in Dachsberg“, Schmid wedelte vage mit der Hand, als wüsste Marco dadurch exakt, welche Wohnung er meinte, „fertig verlegen. Ist dringend, wir sind gut drei Tage über der Zeit.“
„Ich mache gerade die Tische für den Auftrag in der Rotenbergstraße. Die hätten eigentlich auch schon letzte Woche fertig werden sollen.“
„Dann müssen die eben noch einen Tag länger warten!“ Unwirsch schob Schmid Marco den Ordner mit den aktuellen Aufträgen zu. „Da ist die Adresse. Pack Moritz ein und pass auf, dass er seine Arbeit richtig macht.“
Anstatt den Ordner entgegenzunehmen, verschränkte Marco die Arme vor der Brust. „Bin ich jetzt auch noch der Ausbilder für neue Mitarbeiter?“
„Du bist, was ich auch immer ich dir anschaffe!“
Das warnende Flüstern, seinen Chef nicht weiter zu reizen, nachdem dieser vor weniger als zehn Minuten einen Kollegen gefeuert hatte, ging im in Marcos Ohren pulsierenden Zornesrauschen unter. „Ich erledige Werners Aufgaben, wenn ich am Ende des Monats auch Werners Lohn auf meinem Konto habe.“
„Willst ‘ne Gehaltserhöhung, hä?“
„Und zwei Wochen Urlaub im September.“
Schmids Kiefer arbeitete, als zermalmte er Knochen zu Staub. „Über die Gehaltserhöhung können wir reden, aber Urlaub ist nicht drin.“
„Der Urlaub ist nicht verhandelbar.“
„Wir gehen jetzt schon völlig unter!“
„Nicht meine Schuld“, erwiderte Marco mit einer Gleichgültigkeit, die er nicht fühlte. „Mir sind nicht innerhalb von sechs Monaten drei Mitarbeiter abgesprungen.“
„Drei Prozent mehr Gehalt, kein Urlaub.“
„Zehn Prozent. Zwei Wochen.“
Schmid lachte. „Mach dich nicht lächerlich!“
„Ich habe noch immer nicht den Urlaub vom letzten Jahr abgebaut und meine Überstunden zähle ich schon gar nicht mehr. Zehn Prozent mehr Gehalt, zwei Wochen Urlaub im September.“
„Drei Prozent, eine Woche.“
Marco wusste, dass es klüger wäre, an dieser Stelle einzulenken. Doch er wollte nicht. Irgendwann musste er anfangen, für sich einzustehen. „Sieben Prozent, aber auf weniger als zwei Wochen Urlaub lasse ich mich nicht ein.“
„Du willst mich wirklich ruinieren, oder?“
„Ich will einen fairen Ausgleich für die Arbeit, die ich hier leiste. Sieben Prozent mehr Gehalt, zwei Wochen Urlaub.“
Ein unansehnlicher Grünstich mischte sich in Schmids Teint. „Drei Prozent ab übernächsten Monat, nochmal drei zum neuen Jahr und zwei Wochen Urlaub im September“, knirschte er. „Dafür verlegst du heute das Parkett und telefonierst alle Kunden durch, bei denen sich die Fertigstellung verzögert.“
„Ja, Chef.“ Bemüht, nicht an Ort und Stelle einen Herzinfarkt zu erleiden, nahm Marco den Ordner mit den Aufträgen entgegen und bestätigte beim Überfliegen seine Befürchtung, dass sie nahezu überall hinterherhinkten. An jedem anderen Tag hätte es ihm gehörig den Abend versaut, sich von – zurecht – angepissten Kunden anmaulen zu lassen, heute interessierte ihn das jedoch herzlich wenig. Mit der eben verhandelten Gehaltserhöhung konnte er guten Gewissens den Urlaub in Venedig buchen.
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Eilig schloss Marco das Browserfenster, als er den Schlüssel in der Tür klimpern hörte. Gerade rechtzeitig, nur wenige Sekunden später streckte Erik den Kopf in die Wohnung. „Hey.“
„Ciao. Du bist früh dran.“
„Mhm. Hatte Glück mit der Bahn.“ Erik musterte Marco. „Störe ich?“
„Nah. Ich habe nur …“ Pornoclips geguckt, die du niemals zu Gesicht bekommen darfst. Herausgefunden, dass halbwegs schöne Zwei-Zimmer-Wohnungen in Stuttgart nahezu unbezahlbar sind. Recherchiert, ob ich mir mit der Gehaltserhöhung ein eigenes Auto leisten kann. Die Antwort lautet übrigens ‚Nein‘, wenn ich mit dir in eine dieser sündhaft teuren Wohnungen ziehen will. „Ich habe nur überlegt, was wir heute essen.“
„Ah.“ Eriks Blick sagte, dass er Marco nicht glaubte, aber auch nicht nachbohren wollte. „Und? Etwas gefunden?“
„Äh …“
„Ich hätte total Lust auf deine Tomatensoße.“
Marco hatte gelernt, ein Friedensangebot zu erkennen, wenn Erik es ihm vor die Nase hielt. „Klaro, das machen wir! Mein Basilikum wuchert mir eh schon halb über den Kopf.“ Er musste dringend die Zeit finden, das Regal unterhalb seines Dachfensters, das allmählich unter dem Gewicht der darauf aneinandergereihten Kräutertöpfe nachzugeben drohte, zu verstärken. „Übrigens kriege ich den Urlaub im September. Und mehr Geld.“
„Wirklich? Das ist toll!“ Erik fragte nicht, wie viel Marco verdiente, und Marco verspürte wenig Antrieb, diese Wissenslücke zu schließen. Sie hatten früh in ihrer Beziehung festgestellt, dass ihre Definitionen von ‚vermögend‘ deutlich auseinanderklafften. Für Marco bedeutete es, Lebensmittel einzukaufen, ohne dabei einen Taschenrechner und die Broschüre mit den Wochenangeboten in den Händen zu halten. Für Erik bedeutete es, sich ein Einfamilienhaus in einem angesagten Stadtteil zu leisten, das man problemlos vor Renteneintritt abbezahlte.
Nicht, dass sich Erik je negativ über Marcos Einkommen geäußert hätte, aber ihm direkt auf die Nase binden, wie wenig er trotz Gehaltserhöhung verdiente, wollte Marco dennoch nicht. Was ihn nervte, denn eigentlich erfüllte ihn sein Job mit Stolz, völlig egal, ob er in anderen Branchen oder mit einem anderen Ausbildungsberuf mehr hätte verdienen können.
Es war nur … Ihre Lebensrealität klaffte ja jetzt schon komplett auseinander, wie sollte das erst in ein paar Jahren aussehen?
Als angehender Arzt und mit dem Erbe seiner Eltern im Hintergrund, erwartete Erik einen Lebensstandard, mit dem Marco höchstens mithalten konnte, wenn er im Lotto gewann. Ein Thema, das ihm zunehmend häufiger im Kopf herumspukte. Sie hatten nie darüber gesprochen, vielleicht aus Angst, keine Lösung zu finden, trotzdem musste Erik ebenfalls Zweifel hegen. Weshalb sonst weigerte er sich weiterhin standhaft, Marco seiner Familie vorzustellen? Zumal–
„–Zutaten im Haus hast?“
Überrumpelt von Eriks Stimme, die sich plötzlich in sein Bewusstsein drängte, blickte Marco auf. „Was?“
„Ich sagte, wie kommt es, dass du immer schon alle passenden Zutaten im Haus hast, wenn ich mir etwas Spezielles wünsche?“, wiederholte Erik.
Marco schmunzelte, sein akuter Anfall von Unsicherheit beinahe vergessen. „Das, cuore mio, liegt daran, dass du wirklich, wirklich berechenbar bist.“
Erik zog eine Schnute. „Bin ich nicht.“
„Du wünscht dir mindestens einmal pro Woche Pasta mit Tomatensoße.“
„Tue ich–“ Plötzlich still, schien Erik ein paar Zahlen zu überschlagen. „Höchstens einmal alle zwei Wochen.“
„Rede dir das ruhig ein, wenn du dich dann besser fühlst. So oder so mache ich nie viel falsch damit, frische Tomaten und Basilikum im Haus zu haben.“
„Na schön, dann bin ich eben berechenbar!“ Erik grinste spitzbübisch. „Solange ich leckere Nudeln bekomme, kann ich damit leben.“
„Die bekommst du.“
Wenige Minuten später würfelte Marco summend tiefrote Tomaten, die ihren typisch fruchtig-erdigen Duft verströmten und der Soße hoffentlich eine gehörige Portion Sonne verliehen. Sollten er und Erik es schaffen, in eine gemeinsame Wohnung zu ziehen, brauchte diese unbedingt einen Südbalkon, groß genug, um dort eigene Pflanzen im Topf anzubauen.
Wann immer Marco nicht fürchten musste, durch Ungeschicklichkeit eine (weitere) Fingerkuppe einzubüßen, beobachtete er Erik, der sich im Schneidersitz auf der Couch hockend damit beschäftigte, seinen mitgebrachten Rucksack auszupacken.
„Was hat es mit dem Papierstapel neben dir auf sich?“, fragte Marco. „Und jetzt sag bitte nicht, dass du schonmal fürs Studium büffelst.“
„Ah, nein. Das mache ich nicht, bevor ich nicht sicher weiß, dass ich einen Studienplatz habe. Wenn überhaupt“, setzte Erik bei Marcos Blick hinzu. „Das hier sind Steckbriefe für einige Unis, an denen man Medizin studieren kann. Ich muss entscheiden, an welchen ich mich bewerbe.“
„Ist das nicht offensichtlich?“, fragte Marco. „In Stuttgart natürlich.“
„Die Uni hier bietet kein Medizinstudium an. Die nächstnähere Wahl wäre Tübingen.“
„Oh.“ Das hörte Marco zum ersten Mal. „Dann wohl Tübingen. Nicht supercool, wenn einer von uns pendeln müsste, aber im Grunde ist es nur einen Katzensprung von hier entfernt.“ Vielleicht konnte er sich dort sogar die Mieten leisten.
Seufzend strich Erik das Blatt auf seinem Schoß glatt. „So einfach ist das nicht. Ich darf bis zu sechs Unis angeben, an denen ich mich bewerbe. Jede einzelne erhöht meine Chancen, einen Studienplatz zu bekommen. Nur auf Tübingen zu pokern wäre naiv, schon allein, weil die Konkurrenz dort riesig ist.“
Der Löffel Soße, den Marco eben in seinen Mund befördert hatte, schmeckte plötzlich sauer. „Heißt das, du studierst am Ende vielleicht in, was weiß ich, München? Oder Kiel?“ Damit wären sämtliche Pläne zusammenzuziehen vom Tisch.
„Kiel eher nicht“, erwiderte Erik. „Ich würde schon gerne hier in der Nähe bleiben.“ Als er keine Antwort erhielt, blickte er zu Marco. „Du siehst überrascht aus.“
„Ach wirklich?“, entgegnete Marco ungewollt hitzig. „Dabei haben wir doch schon so oft über das Thema gesprochen. Man möchte fast sagen: Nie!“
„Aber dir muss doch klar gewesen sein, dass das passieren kann“, hielt Erik, weniger vorwurfsvoll als erstaunt dagegen. „Ich habe hundertmal erzählt, wie schwer es ist, überhaupt einen Platz zu bekommen. Es ist doch logisch, dass ich dann beim Studienort nicht allzu wählerisch sein darf.“
„Wenn das so ist, scheint Logik nicht meine Stärke zu sein. Oder Kommunikation deine.“ Marco sah, wie sich Eriks Gesicht verschloss und zog die Reißleine, bevor ihre Diskussion in einen heftigen Streit ausartete. „Streich das. Ich will dir keine Vorwürfe machen. Das kam nur gerade wirklich überraschend für mich.“
„Tut mir leid“, murmelte Erik. „Ich beschäftige mich seit Ewigkeiten so obsess– so intensiv mit dem Thema, dass ich übersehe, dass vieles, was für mich offensichtlich ist, es für dich gar nicht sein kann.“
„Weil dein ganzes Herz an diesem Studium hängt“, sagte Marco. „Das weiß ich. Und ich weiß auch, wie hart du dafür gearbeitet hast. Wenn du umziehen musst, um deinen Traum zu erreichen, dann ist das eben so. Wir überlegen uns, wie wir damit umgehen, wenn es so weit ist, sì?“
„Es war blöd von mir, nie mit dir darüber zu sprechen.“ Erik schob den Blätterstapel vor ihm zusammen. „Ich beschränke mich auf Unis in der Nähe, versprochen. Tübingen, Ulm, Mannheim, Freiburg. Vielleicht München, aber eigentlich will ich nicht nach Bayern.“
„Das klingt doch nach einem guten Kompromiss.“ Besänftigt startete Marco einen neuen Versuch, seine Tomatensoße zu kosten.
„Eine Ausnahme würde ich gerne machen.“
Marco legte den Löffel zur Seite, ohne probiert zu haben. „Ach ja? Welche denn?“
„Berlin.“
„Warum ausgerechnet Berlin?“
„Es ist der ehemalige Studienort meiner Mutter. Sie und mein Vater haben sich dort kennengelernt. Berlin war immer irgendwie ihre Stadt, auch wenn sie den Großteil ihrer Zeit in Stuttgart gelebt haben.“ Ein schmales Lächeln flackerte über Eriks Gesicht. „Meine Mutter hat ständig von Berlin und ihrem Studium dort geschwärmt. Ich erwarte nicht, an der Charité angenommen zu werden, das ist praktisch unmöglich, wenn man sie nicht beim Wunschort an erste Stelle setzt, aber … Mich dort gar nicht zu bewerben, fühlt sich falsch an.“
Marco konnte die Male, die Erik von sich aus von seinen Eltern erzählt hatte, an zwei Händen abzählen, ohne alle Finger zu nutzen. „Tu, was dein Herz dir sagt. Ich stehe immer hinter dir.“
Nun blieb das sanfte Lächeln auf Eriks Lippen. „Besuchen wir nächste Woche deine Schwester?“
Besuchen wir endlich deine Familie? Das war ein Streit für einen anderen Tag. „Klaro. Sie fragt eh schon ständig, wann wir mal wieder vorbeikommen.“ Marco deutete mit seinem soßenbenetzten Kochlöffel auf Erik. „Jetzt komm her und probier, ob hier genug Sonne drinsteckt.“