Was zuletzt geschah:
Nach langem Schweigen fallen endlich einige offene Worte. Zuerst von Marco, der seiner Schwester Giulia sein Herz ausschüttet, dann von Erik, der beschlossen hat, die vielen Probleme in ihrer Beziehung bei den Hörnern zu packen. Jedenfalls teilweise. Die Aussicht, Marco seiner Familie vorzustellen, behagt ihm offensichtlich gar nicht, doch nachdem Marco klargemacht hat, wie wichtig ihm da ist, willigt er schließlich ein. Sein offensichtlicher Unwille hilft allerdings nicht, Marcos Nervosität zu mindern.
Kapitel 5
„Ich weiß ja nicht.“ Unschlüssig zupfte Marco am Kragen des Hemds, in dem er gegenwärtig steckte. Der Stoff fühlte sich ungewohnt an, zu dünn und zu steif. Sein Bäuchlein kaschierte er ebenfalls kaum. „Das sieht doch total bescheuert aus.“
„Du siehst gut aus.“ Philipp hockte auf einem der Lederpolster, die der Laden freundlicherweise für erschöpfte Freunde und Lebenspartner bereitstellte; einen Stapel ausrangierter Klamotten neben ihm, einen weiteren bisher nicht anprobierter auf seinem Schoß. „Nur nicht unbedingt wie du.“
„Was ja der Sinn der ganzen Chose ist.“ Kopfschüttelnd musterte Marco sein Spiegelbild. „Ich hasse Shoppen. Alles, was ich will, sind ein paar schlichte T-Shirts und bequeme Hosen mit großen Taschen.“
„Deshalb besitzt du ja auch von beidem etwa zwanzig Teile und sonst nichts. Hier.“ Philipp streckte sich, um Marco ein weiteres Hemd zu reichen. „Probier das mal an.“
Mit spitzen Fingern nahm Marco das Kleidungsstück entgegen. „Das ist pink!“
„Altrosa“, verbesserte Philipp. „Erik mag die Farbe und sie passt gut zu deinem Typ.“
Demonstrativ seufzend zog Marco den Vorhang der Umkleidekabine zu und schlüpfte in die pinke, äh, altrosafarbene, Monstrosität. „Auf. Gar. Keinen. Fall!“
„Zeig her.“ Bei Marcos Anblick erschien ein Lächeln auf Philipps Lippen, das sich in einen ausgewachsenen Lachanfall verwandelte.
„Freut mich, dass ich dich amüsiere“, brummte Marco, weit weniger belustigt.
„Sorry.“ Philipp schaffte es, seinen Lachflash zu unterdrücktem Kichern zu dämpfen. „Versteh mich nicht falsch, das Hemd steht dir.“ Erneutes Gekicher. „Fehlt nur noch das Goldkettchen um den Hals.“
Marco verschränkte die Arme vor der Brust, ließ sie allerdings rasch wieder sinken, als eine der Schulternähte gefährlich knirschte. „Sehr witzig.“
„Tut mir leid, tut mir leid!“ Hilflos fächelte sich Philipp Luft zu, als er erneut unter einem Lachanfall erbebte. „Es ist nur … Du fühlst dich so offensichtlich unwohl. Warum tust du dir das überhaupt an?“
„Weil ich Erik eine Freude machen will!“ Marco öffnete die obersten Knöpfe des Hemds. Je schneller er aus diesem Ding rauskam, desto besser. „Und, weil ich dachte, dass so ein Hemd vermutlich besser bei seiner Familie ankommt als das Zeug, das ich sonst so trage.“
„Aha. Du bist nervös.“
„Bin ich nicht.“
Stumm deutete Philipp auf den beeindruckenden Stapel bereits anprobierter Kleidungsstücke neben ihm.
„Oh, na schön! Dann bin ich halt nervös!“
„Warum?“
„Warum wohl? Es hat über ein Jahr und ziemlich viel Gemecker gebraucht, bis Erik überhaupt zugestimmt hat, mich seiner Familie vorzustellen. Das will ich nicht versauen. Außerdem will ich nicht, dass seine Familie denkt, ich wäre“, ein Verlierer, „irgendein dahergelaufener Typ. Ich will einfach einen guten Eindruck machen.“
„Denkst du nicht, dass das besser klappt, wenn du dich in deiner Haut wohlfühlst?“
„Klaro, aber das werde ich kaum schaffen, wenn ich der einzige bin, der in einem alten T-Shirt und ausgebeulten Cargohosen rumsitzt.“
Philipp rieb sich übers Gesicht und stand auf. „Okay. Welches Hemd findest du am wenigsten schrecklich?“
„Keine Ahnung. Die nicht ganz so bunten, schätze ich.“ Marco zog eines aus dem Stapel hervor. „Das hier war wenigstens einigermaßen bequem, aber das Muster ist echt scheußlich.“
Philipp nahm es ihm aus der Hand. „Ich sehe zu, dass ich dir ein schlichteres mit ähnlichem Schnitt organisiere. Du probierst solange schonmal die Hosen an. Und, Marco?“
„Was?“
„Du brauchst dringend neue Schuhe.“
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Resigniert starrte Marco auf die Neuzugänge in seinem Schrank. Fast zweihundert Euro. Davon hätte er Erik in Venedig schön ausführen können. Stattdessen besaß er nun ein Paar Schuhe mit rutschigen Sohlen, ein Hemd, in dem er sich nicht wohlfühlte, und Hosen, die er vermutlich spätestens nach dem dritten Tragen durchscheuerte. Und all das nur, um einen guten Eindruck auf Eriks Familie zu machen.
Ein Blick auf seine Küchenuhr erinnerte ihn daran, dass er weniger Jammern und mehr unbequeme Klamotten anziehen sollte. Tatsächlich schaffte er es gerade so, seinen – vorab von Philipp genehmigten – Gürtel zu schließen, als es an der Tür klingelte. Eilig schnappte er sich den für Eriks Tante gedachten Blumenstrauß und öffnete. „Ciao.“
„Hey–“ Eriks Begrüßung verwandelte sich in eine langgezogene Silbe, die nach einigen Sekunden ins Nichts glitt, während sein Mund offen stehen blieb.
„So schrecklich?“, fragte Marco und ärgerte sich darüber, wie leicht er sich verunsichern ließ.
„Nein, gar nicht schrecklich. Ungewohnt.“ Langsam wanderte Eriks Blick über Marcos Körper. „Du siehst wirklich sehr, sehr schick aus.“
„Ach ja?“
„Mhm. Wie lange hat dich Philipp durch die Gegend gejagt?“
„Wie kommst du darauf, dass ich mit Philipp unterwegs war?“ Als ihm lediglich eine hochgezogene Augenbraue antwortete, gab Marco klein bei. „Drei Stunden.“
Erik schmunzelte. „Armer Liebling. Das alles nur für heute?“
„Sì. Ich wollte nicht“, wie ein ungebildeter Handwerker aussehen, „komplett underdressed auftauchen.“
„Ich denke, dieses Ziel hast du erreicht.“ Erik beugte sich zu einem Kuss herunter. Seine Hände wanderten über Marcos Schultern und Oberarme. „Ich weiß, ich wiederhole mich, aber du siehst wirklich, wirklich gut aus.“ Immer wieder streiften seine Finger über Marcos Hemdknöpfe. „Am liebsten würde ich dich gleich hier ausziehen und überfallen, aber dann könnte ich dich ja nicht länger in diesem Hemd bewundern.“
Marco schob Eriks Hände von sich. „Wir sollten ohnehin aufbrechen. Alles aufbrezeln nutzt mir nichts, wenn wir zu spät kommen.“
Begleitet von einem unwilligen Grummeln, ließ Erik von Marco ab. „Stimmt leider.“ Er reichte ihm die Hand. „Bereit für die Höhle des Löwen?“
„Mach mir nur Mut.“
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Das Viertel hätte Marcos erste Warnung sein müssen. Er kannte es, hatte hier schon häufiger Aufträge erledigt, allesamt im hochpreisigen Segment. Parkettböden und maßgefertigte Möbelstücke; Gegenstände, deren Herstellung für ihn zum Alltag gehörte, ohne sie sich jemals selbst leisten zu können.
Erik drückte die Klingel am Eingang eines prächtigen Altbaus mit cremefarbener Fassade und wartete auf das Summen des Öffners, die gute Laune vom Beginn ihres Ausflugs bereits verpufft. Seine Hände zitterten – außer, sie beschäftigten sich damit, seinen Ärmelsaum zurecht zu zupfen – und zwischen seinen Brauen zeigte sich die altbekannte Stressfurche.
Marco neigte nicht zur Nervosität, aber wenn sich sein Freund so offensichtlich unwohl fühlte, ließ sich das schwer ignorieren. „Ist dir nicht heiß?“ Bei knapp dreißig Grad hatte er keine zehn Minuten mit langen Hemdsärmeln ausgehalten und sie hochgerollt. Im Gegensatz dazu schien Erik darauf zu achten, seine Unterarme bis übers Handgelenk zu bedecken.
Der Türsummer kam Eriks Antwort zuvor. Er trat in den Hauseingang, stoppte jedoch am Treppenabsatz und murmelte: „Du hast recht, das ist doch bescheuert.“ Ungeduldig, fast schon schroff, zerrte er an seinen Ärmeln.
„Warte, ich mach das.“ Marco drückte Erik den Blumenstrauß in die Hand, dann schlug er den Stoff zurück. Sanfter als Erik und sehr viel sorgfältiger als bei seinem eigenen Hemd. „So. Besser?“
„Mhm.“ Weder klang Erik besonders überzeugt, noch sah er so aus.
Marco wusste, dass er sich für die Narben auf seinen Unterarmen schämte, aber ihn irritierte, wie weit diese Scham ging. Die eigene Familie sollte kein Ort sein, an dem man sich versteckte. Andererseits stand es Marco bei diesem Thema kaum zu, ein Urteil über andere Familien zu fällen, schließlich hatte sich seine eigene wenig vorbildlich gezeigt.
Schritt für Schritt erklommen sie die geschwungene Treppe und Marco kam nicht umhin, das gut gepflegte Holz und die edle Verarbeitung zu bemerken. Da musste eine Menge Geld in Bau und Instandhaltung geflossen sein; sogar das Knarzen unter ihren Füßen schien eine Melodie in sich zu tragen.
Im vierten Stock empfing sie eine Frau, deren Verwandtschaft mit Erik sich kaum leugnen ließ. Unerwartet jung, Marco schätzte sie keinen Tag älter als vierzig, mit honigblondem Haar, scharfen Wangenknochen und Augen, warm wie ein Gletscher. „Guten Abend, Erik.“
„Hallo, Tante Susanne.“ Nach einem angedeuteten Wangenkuss trat er einen Schritt zur Seite. „Darf ich dir Marco vorstellen?“
Dieser zauberte das gewinnendste Lächeln, das sich in seinem Repertoire befand, auf seine Lippen. „Marco Bianchi. Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Frau Reichhardt. Vielen Dank für die Einladung.“
Eriks Tante schüttelte die angebotene Hand, allerdings erst nachdem sie ihn einmal vom Scheitel bis zur Sohle in Augenschein genommen hatte. „Die Freude ist ganz meinerseits, Herr Bianchi.“ Sie zeigte ein künstliches Lächeln, das Marco frappierend an Eriks erinnerte, wenn dieser alles andere als amüsiert war. „Selbstverständlich möchten wir die Person kennenlernen, mit der mein Neffe einen Großteil seiner Freizeit verbringt. Bitte kommt rein. Die restliche Familie wartet im Essbereich. Ich habe euch Pantoffeln herausgelegt, das Parkett ist empfindlich.“
Artig leisteten die beiden ihrer Aufforderung Folge und schon fühlte sich Marco weit weniger overdressed als noch Sekunden zuvor. Er stand inmitten eines prunkvollen Foyers, überladen mit Dekor, das aussah, als kostete jedes einzelne Stück Marcos gesamten Monatslohn; von den Möbeln wollte er gar nicht erst anfangen. Soweit er das auf die Schnelle beurteilen konnte, handelte es sich ausschließlich um Antiquitäten, entweder unglaublich gut erhalten, oder aufwändig restauriert und damit in einem Preisrahmen, den er sich lieber nicht ausmalte.
Er räusperte sich. „Die Blumen sind übrigens für Sie, Frau Reichhardt.“
„Ach, wie reizend.“ Ihr falsches Lächeln weitete sich. „Haben Sie die ausgewählt?“
„Sì. Äh, ja. Habe ich.“
„Ist es nicht wunderbar, dass Geschenke nicht immer teuer sein müssen? Auch schlichte Dinge können ganz entzückend sein.“
Wow. Selten hatte jemand Marco ein so geschickt als Kompliment getarntes Messer in die Brust gerammt. Aus dem Augenwinkel erhaschte er einen Blick auf Erik, dessen Mimik eine Palette an Emotionen abfeuerte. Das angespannte Lächeln und die Stressfalte zwischen seinen Brauen verschwanden, dafür erschien jenes Funkeln in seinen Augen, das spitze Worte ankündigte. Unauffällig streifte Marco mit dem Handrücken über Eriks und stoppte die Retourkutsche. Ein wenig Überheblichkeit würde er überleben, Hauptsache, sie vermieden eine Eskalation.
Also ließen sie sich brav von Frau Reichhardt in ein Wohnzimmer führen, größer als Marcos gesamte Wohnung. Eine Hälfte bestand aus einer cremefarbenen Sofalandschaft – selbstverständlich mit Lederüberzug – in der anderen stand ein massiver Esstisch mit passenden Stühlen. Walnuss, wenn sich Marco nicht komplett täuschte. Darauf verteilten sich pro Sitzplatz etwa drei Gabeln und zwei Gläsern mehr als erwartet. Prima, so konnte er gleich vom ersten Bissen an zeigen, wie wenig er in diese Gesellschaft passte.
Schluss jetzt!, schalt er sich selbst. Er hatte es nicht nötig in Selbstzweifel zu verfallen und normalerweise tat er das auch nicht. Verflucht, ein nicht unerheblicher Teil seines Jobs bestand darin, gut betuchte Kunden um den kleinen Finger zu wickeln und sie von seiner Expertise zu überzeugen – was ihm in der Regel durchaus glückte.
Marco widmete seine Aufmerksamkeit den Familienmitgliedern, die ihn nicht an der Tür empfangen hatten. Am Kopfende des Tisches saß ein großgewachsener Mann mit dunklen Haaren, Römernase und schmalen Lippen, die gar nicht erst versuchten, sich zu einem Lächeln zu verziehen. Ein schiefergrauer Anzug zierte seinen hochgewachsenen Körper, die farblich passende Krawatte makellos gebunden. Eindeutig Eriks Onkel und eindeutig nicht blutsverwandt.
„Hallo, Frank“, begrüßte Erik ihn. „Ich möchte dir Marco vorstellen.“
Dieser setzte dasselbe Lächeln auf, mit dem er schon so erfolgreich bei Eriks Tante abgeblitzt war. „Guten Abend“
Ein paar Sekunden gingen ins Land, bevor sich Eriks Onkel erbarmte und Marco die Hand reichte. „Frank Reichhardt.“
„Marco Bianchi. Freut mich, Sie kennenzulernen.“
„Die Freude ist ganz meinerseits“, sagte Eriks Onkel, ohne sich große Mühe zu geben, überzeugend zu klingen. „Tobias, Sophia, stellt euch vor.“
Dieser bedingt netten Aufforderung folgte das genervte Seufzen jenes Kindes, das Herrn Reichhardt deutlich ähnlicher sah als das andere. Ein Teenager, kaum jünger als Erik, mit verkniffenem Gesicht und feindseligem Blick.
„Tobias“, warnte dessen Vater.
Eriks Cousin musterte Marco abschätzend. „Jo.“ Seine Eloquenz für alle hörbar zur Schau gestellt, drehte er sich wieder zurück zum Tisch.
„Tobias!“ Frau Reichhardt stand im Türrahmen, die Arme vor der Brust verschränkt, ihre perfekt manikürten Fingernägel unter Ofenhandschuhen verborgen. „Begrüßt man so seine Gäste?“
Es brauchte ein weiteres Seufzen und die strengen Blicke beider Eltern, damit sich Tobias von seinem Platz erhob, um Marco die Hand zu schütteln. Bevor dieser sie ergreifen konnte, knickte er jedoch sein Handgelenk ab und näselte: „Höchsterfreut.“
Für gewöhnlich achtete Marco darauf, Menschen nicht vorschnell in Schubladen zu sortieren, aus denen sie vielleicht nie mehr herausfanden. Tobias machte ihm das allerdings gerade ziemlich schwer. Dennoch ergriff Marco die ausgestreckte Hand mit einem breiten Lächeln und schüttelte sie. „Ebenfalls höchsterfreut.“
Entgegen Marcos Erwartung ließ Tobias nicht los. Im Gegenteil. Gekoppelt an ein überhebliches Grinsen, verstärkte er seinen Griff, bis er die Grenze des Angenehmen überschritt und darüber hinaus. Offensichtlich hatte er sich in den Kopf gesetzt, Marco seine körperliche Überlegenheit zu demonstrieren.
Witzig, du halbes Hemd. Das Spiel können wir gerne spielen. Mit Genugtuung registrierte Marco die Verunsicherung, die über Tobias‘ Gesicht zuckte, als er ihm seinen Irrtum schmerzhaft vor Augen führte. Er zwinkerte ihm zu und drückte noch einmal kräftig, bevor er ihn aus seinem durch Sport und harte Arbeit gestärkten Schraubstockgriff entließ.
Gewitterwolken in den Augen, doch zu stolz, um ein einziges Wort über die Sache zu verlieren, schob Tobias seine malträtierte Hand in die Hosentasche und schlurfte an seinen Platz zurück. Einen neuen Freund hatte Marco mit dieser Aktion nicht gewonnen, aber verflucht, wenn es sich nicht gut angefühlt hatte, diesem Ekel den homophoben Kopf zurechtzurücken.
Marco blickte über die Schulter, um Eriks Reaktion abzuschätzen. Der schien allerdings gar nichts von der Konfrontation mitbekommen zu haben; seine Aufmerksamkeit galt dem Mädchen neben ihm, auf seinem Gesicht dasselbe sanfte Lächeln, das er für Bianca (und gelegentlich Marco) reservierte. Erst jetzt sah er auf. „Das ist meine Cousine, Sophia. Sophia, das ist Marco. Mein fester Freund.“
Mein fester Freund. Marcos Herz schlug einen Purzelbaum und seine Lippen formten ein Lächeln, das Eriks ziemlich nahekam. Er beugte sich zu Sophia und bot ihr seine Hand an. „Ciao, Sophia. Wie schön, dich endlich persönlich kennenzulernen.“
„Hallo.“ Schüchtern legte sie ihre Hand in seine und schüttelte sie.
So wie bei seiner Tante, ließ sich auch Eriks Verwandtschaft mit Sophia nicht verleugnen. Sie teilten sich das honigblonde Haar, doch während Eriks Augen in kühlem Grau erstrahlten, zeigten ihre ein klares Himmelblau, unter dem winzige Sommersprossen über ihre Nase und Wangen tanzten.
„Was treibst du denn gerade so? Es sind Sommerferien, oder?“
Sophia nickte.
„Liest du gern? Erik hat ständig ein Buch in der Hand, sogar beim Essen.“
„Einmal!“, protestierte dieser lachend. „Ich war auf den letzten paar Seiten und wollte wissen, wie es ausgeht!“
Das brachte Sophia zum Kichern. „Wir gehen nächste Woche in die Bücherei.“ Sie guckte zu Erik. „Richtig?“
„Richtig.“
„Außerdem darf ich Reiten lernen!“ So langsam schien sich der Knoten zu lösen. „Sechsmal war ich schon beim Unterricht!“
„Sophia wird ab September aufs Gymnasium gehen“, meldete sich Eriks Onkel mit dieser scheinbar relevanten Information zu Wort. „Nicht, dass wir etwas anderes von ihr erwartet hätten. Die meisten in dieser Familie wissen, wie wichtig gute Leistungen in der Schule sind.“ Wenig subtil galt Herr Reichhardts Blick bei dieser Ansprache Tobias. „Sophias Mutter war trotzdem der Meinung, sie hätte sich eine Belohnung verdient. So sehr das Abitur an Bedeutung eingebüßt hat, ist es eben noch immer die Grundlage für eine erfolgreiche Karriere.“
Eine Grundlage, die Marco nicht besaß. Was er nie als Mangel empfunden hatte – bis zu diesem Augenblick. Damit war das Abendessen bei Eriks Familie offiziell eingeläutet.
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Sogar das Geschirrgeklapper klang gedämpft. Nachdem Marco dank eines Fingerzeigs von Erik zum korrekten Besteck gegriffen hatte, bemühte er sich nach Leibeskräften, nicht ins Schweigen zu schmatzen. Dabei vergaß er, das Essen zu genießen.
Unbeabsichtigt huschte sein Blick zur Uhr. Saßen sie wirklich erst seit zehn Minuten am Tisch? Fühlte sich an wie Stunden.
Eriks Tante nippte an ihrem Weinglas. „Ich hoffe, es schmeckt euch.“ Mit ‚euch‘ meinte sie eindeutig Erik und Marco.
„Es ist sehr gut. Vielen Dank, Frau Reichhardt“, erwiderte letzterer höflich, nachdem ersterer keine Anstalten machte, die Frage zu beantworten.
„Sagen Sie, Herr Bianchi, was machen Sie eigentlich beruflich?“ Eriks Onkel musterte ihn auf eine Weise, die Marco frappierend an einige seiner schlimmsten Vorstellungsgespräche erinnerte.
„Ich nehme an, Sie studieren?“, ergänzte Eriks Tante.
„Nah–, äh, nein, tue ich nicht. Theorie liegt mir nicht so, ich arbeite lieber mit den Händen.“ Zum Beweis präsentierte Marco die erwähnten Körperteile, mit sämtlichen über die Jahre gesammelten Spuren seines Jobs. „Ich bin Schreiner.“
„Ah. Nun, das ist … Man sagt ja, Handwerk habe goldenen Boden, nicht wahr?“ Das Unangenehmste an der Reaktion von Eriks Tante war, wie sehr sie sich offensichtlich dafür beglückwünschte, etwas Positives über seinen Beruf gesagt zu haben. „Mein Mann und ich überlegen derzeit, ob wir unsere Parkettböden renovieren lassen. Fallen solche Arbeiten in Ihren Aufgabenbereich?“
„Absolut. Mein Betrieb fertigt hauptsächlich maßgeschneiderte Möbel, aber wir verlegen und renovieren auch Böden, vor allem Parkett, und haben jahrelange Erfahrung mit der Restauration antiker Möbel.“ Letzteres stimmte nur noch bedingt, da sein Chef mit Werner den einzigen Mitarbeiter gekündigt hatte, der die entsprechenden Fortbildungen besaß, aber das musste Marco Frau Reichhardt ja nicht auf die Nase binden.
Erst nachdem sie sich minutenlang über Vorgehen, Preisspanne und mögliche Dauer eines solchen Projekts unterhalten hatten, realisierte Marco, dass er ein Kundengespräch führte, anstatt die Familie seines Freundes kennenzulernen. Zeitgleich mit dieser Erkenntnis erklang ein höhnisches Schnauben vom anderen Ende des Tisches. Amüsiert funkelte Tobias Erik an. „Wirklich sehr zuvorkommend von dir, jemanden so weit unter deiner Würde aufzugabeln, damit meine Eltern Rabatt für ihren neuen Boden bekommen.“
„Tobias!“
„Entschuldige, Mutter. War das zu direkt? Ich habe mich nur gefreut, endlich verstanden zu haben, warum unser kleiner Streber sich freiwillig mit dem Pöbel abgibt. Hatte vergessen, dass hier niemand die Wahrheit hören will.“
„Das würde voraussetzen, dass das, was du von dir gibst, der Wahrheit entspricht.“ Eriks Stimme trug Frost über den Tisch. „Ich kann dir versichern, Marco ist mehr als gut genug für mich. Mit einer Weiterbildung zum Meister kann er problemlos eine Führungsposition erreichen, oder sogar seinen eigenen Betrieb gründen. Mir ist durchaus bewusst, dass man keinen Studienabschluss braucht, um Karriere zu machen, sondern Talent und Ambitionen.“ Er hob eine Braue. „Bist du dann für heute fertig damit, anderen dein eigenes Versagen anzudichten?“
„Pff.“ Es fiel nicht schwer, Tobias‘ künstliche Gleichgültigkeit zu durchschauen. Dafür zitterte seine Unterlippe zu auffallend und er blinzelte zu vehement.
Marco kannte die Seite an Erik, die aus Selbstschutz auf harte Schalen und spitze Worte zurückgriff. Wahrscheinlich hätte er dankbar sein müssen, so verteidigt zu werden, zumal er wenig Mitleid für Tobias empfand. Wer austeilen konnte, musste lernen, einzustecken. Dennoch. Mitzuerleben, wie Erik seinen jüngeren Cousin, der ohnehin das schwarze Schaf der Familie zu sein schien, so gezielt verletzte und welche Worte er dafür wählte … Marco hatte Mühe, in diesem Moment nicht eine Menge Respekt für seinen Freund zu verlieren.
„Ach, Erik, da fällt mir ein … Gibt es schon einen Termin für deine Zeugnisverleihung?“ Offensichtlich hatte Frau Reichhardt entschieden, den Konflikt zu überspielen. „Sie sollte doch eigentlich kurz nach der Notenbekanntgabe stattfinden.“
„Die war vor ein paar Tagen.“
„Ihr habt eure Zeugnisse bereits erhalten?“
„Mhm.“
„Oh. Ach so.“ Eriks Tante versteckte ihre Emotionen besser als Tobias, trotzdem sah Marco ihr die Enttäuschung an. „Dann sind wohl du und, ah …“ Ihre Augen wanderten zu Marco.
Erik unterbrach sie, bevor sie ihre Vermutung äußern konnte. „Ich habe mir mein Zeugnis im Sekretariat abgeholt.“ Seine Miene machte deutlich, dass er keine weitere Diskussion wünschte.
Nicht nur Frau Reichhardt schwieg, auch Marco schluckte die Fragen, die auf seiner Zunge brannten, herunter. Weshalb erfuhr er erst jetzt davon?
Beim Versuch, sich von seinen eigenen Gedanken und der unangenehmen Atmosphäre am Tisch abzulenken, bemerkte Marco Frau Reichhardts Blicke. Im gleichbleibenden Rhythmus glitten sie von Eriks Gesicht zu dessen Unterarmen, wo sie einige Atemzüge verharrten, bis ihr aufzufallen schien, dass sie starrte und sich rasch abwandte, nur um wenige Minuten später von Neuem zu beginnen.
Auch Erik entging diese Aufmerksamkeit nicht, abgesehen von einem Zucken seiner Mundwinkel zeigte er jedoch keine Reaktion. Vermutlich spielten sie dieses Spiel nicht zum ersten Mal, was erklärte, weshalb er es vorzog, seine Unterarme zu verbergen. Fühlte sich hier überhaupt irgendjemand wohl?
Tobias schaufelte schweigend Essen in sich hinein. Sein Vater tat es ihm gleich, unterbrach lediglich, um seine Kinder für ihre Haltung oder Tischmanieren zu kritisieren. Erik schenkte seiner Cousine Sophia ein aufmunterndes Lächeln, vermied davon abgesehen aber jede Interaktion mit den übrigen Anwesenden. Auch seiner Tante schien die Lust auf Konversation vergangen zu sein.
Marco suchte nach einem unverfänglichen Gesprächsthema. Er räusperte sich. „Mir ist vorhin die Kommode in Ihrem Foyer aufgefallen. Wissen Sie zufällig, woher sie stammt?“
Volltreffer. Eriks Onkel verfiel in eine langgezogene Antwort, die sich wenig mit handwerklichen Fertigkeiten, dafür umso mehr mit mutmaßlich bekannten Namen, den Wert von Investitionen und generell einer Menge Angeberei befasste, womit er das Gespräch problemlos bis zum Dessert trug, ohne dass ein anderes Familienmitglied den Mund öffnen musste.
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Obwohl die letzten Sonnenstrahlen nur mit Mühe und Not über die Häuserdächer kletterten, drückte die Hitze unverändert auf Stuttgarts Straßen. Marcos Hemd klebte an seiner verschwitzten Haut, kein Windhauch brachte Linderung.
Sobald die Haustür hinter ihnen ins Schloss fiel, vergrub Erik das Gesicht in den Händen. „Tut mir leid. Das war eine Katastrophe.“
Zu gerne hätte Marco Küsse auf Eriks Wangen verteilt und ihm widersprochen, doch leider stimmte er mit seiner Einschätzung überein. Das erste Treffen mit Eriks Familie hätte kaum schlimmer laufen können.
„Ich weiß, dass Tobias ein Ekel ist, aber ich hätte nicht gedacht, dass er dich gleich so angeht.“
„Naja, du warst auch nicht gerade nett.“
Erik nahm die Hände lange genug herunter, um Marco ungläubig anzustarren. „Ein einziges Mal halte ich nicht die andere Wange hin, dir zuliebe wohlgemerkt, und jetzt machst du mir deswegen Vorwürfe?“
„Nah. Ich sage nur, dass du kein Engel warst. Offensichtlich hat Tobias bei seinen Eltern eh einen schweren Stand, ich meine, hast du mal hingehört, wie dein Onkel mit ihm redet? Und du hast ganz bewusst in genau dieselbe Kerbe geschlagen. Da wundert es mich nicht, dass er so austeilt. Ich wette, er würde sich dir gegenüber ganz anders verhalten, wenn du ihm mit etwas mehr Nachsicht begegnest.“ Marco musste nicht auf Eriks Antwort warten, um zu erkennen, dass er gewaltig danebengegriffen hatte.
Kühl musterte Erik ihn. „Vielen Dank für diese Einsicht. Ich werde daran denken, wenn sich Tobias das nächste Mal über meine Narben lustig macht, oder mich aus der Wohnung ekelt, weil er sein Zimmer nicht mit so einer, ich zitiere, Scheißschwuchtel teilen will, die sicher die Nächte damit verbringt, heimlich nach ihm zu geifern.“ Er zog an Marco vorbei, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen.
Porco dio! „Wann hat er das alles gesagt?“
„Was? Das mit den Narben? Ungefähr jedes Mal, wenn wir uns sehen. Die Sache mit der Scheißschwuchtel? Ah, ich weiß nicht. Etwa fünf Monate, nach dem Tod meiner Eltern, schätze ich. Hatte wohl die Nase voll davon, dass meine Tante mich bei ihm im Zimmer einquartiert hat, weil sie nicht wusste, wohin mit mir.“
„Nicht dein Ernst.“
„Entschuldige, brauchst du Protokolle und Tonbandaufnahmen, um mir zu glauben? Damit kann ich leider nicht dienen. Verteidige Tobias also ruhig weiter, ich bin sicher, er dankt es dir.“
„Jetzt warte doch mal!“
Noch einmal prallten Eriks Schritte hart auf den Asphalt, dann blieb er abrupt stehen. „Was willst du denn noch?“
„Mich entschuldigen, okay?“ Zaghaft streckte Marco die Hand nach Erik aus. „Ich wusste nicht, dass er all diese Dinge zu dir gesagt hat. Das hast du mir nie erzählt.“ Oh, klasse. In seiner aktuellen Stimmung würde Erik das als Vorwurf verstehen.
Was er prompt tat. Ein humorloses Lächeln trat auf seine Lippen. „Bitte verzeih, dass ich nicht die komplette Dreckwäsche meiner Familie vor dir ausbreiten wollte. Oder die Worte wiederholen, die mich damals ziemlich heftig verletzt haben.“ Seine Schultern sackten nach unten und er seufzte. „Habe ich mich Tobias gegenüber wirklich so widerlich aufgeführt?“
„Nah, hast du nicht.“ Marco prüfte, ob sich jemand in der Nähe befand, der ihnen potenziell Ärger bereiten konnte. Als er niemanden entdeckte, legte er die Arme um Erik. „Vergiss, was ich da gesagt habe. Dein Cousin ist ein Ekel. Hast du mitbekommen, wie er mich begrüßt hat? Wollte mir beweisen, wie stark er ist und konnte dann nicht damit umgehen, dass jemand wie ich mehr Kraft hat. Es ist nur … Du hast dich heute so anders aufgeführt, als ich dich sonst kenne. So …“ kalt. Arrogant. Abgehoben. „Verschlossen.“
Erik öffnete den Mund zu einer Erwiderung, doch Marco kam ihm zuvor.
„Okay, ja. Ich kenne dich so verschlossen. Aber das ist ewig her. Ich bin nicht mehr daran gewöhnt, dich so zu erleben.“ Ich habe mich lange nicht so minderwertig neben dir gefühlt.
„Tut mir leid.“
„Nichts, wofür du dich entschuldigen musst.“
„Doch. Ich wusste, dass es eine blöde Idee ist, dich meiner Familie vorzustellen, und habe trotzdem eingewilligt.“
Marco schluckte die Antwort, die ihm dazu in den Sinn kam, herunter und machte den Fehler, dafür ein anderes Thema anzusprechen, das mindestens genauso an ihm nagte. „Warst du wirklich nicht bei deiner eigenen Zeugnisverleihung?“ Er selbst hatte sich herzlich wenig für Schule interessiert, doch nach all den Jahren endlich diesen Wisch in den Händen zu halten und seinen Erfolg mit seinen Liebsten zu feiern, hatte ihm damals dennoch viel bedeutet.
„Warum sollte ich lügen?“
Marco hörte das metaphorisch dünne Eis unter seinen Füßen knirschen. „Es hat mich nur überrascht.“
„Ah.“ Erik zuckte mit den Schultern. „Ich wollte eben nicht hin.“
„Schade.“
„Warum?“
„Ich wäre gerne mit dir zusammen hingegangen.“
Das schien Erik zu belustigen. „Ich versichere dir, es gibt Spannenderes als minutenlang zuzuhören, wie irgendwelche Namen vorgelesen werden, die dir sowieso nichts sagen.“
„Du hättest mich den anderen vorstellen können, dann hätten sie mir etwas gesagt.“
Nun lachte Erik. „Warum ist dir meine Zeugnisverleihung wichtiger als mir selbst?“
„Weil ich diesen Moment vielleicht gerne mit dir geteilt hätte? Als dein Partner?“ Marco ließ ihm keine Chance, einzuhaken. „Du hältst mich komplett auf Abstand! Es hat über ein Jahr und jede Menge Bettelei gebraucht, damit du mich deiner Familie vorstellst und offensichtlich bereust du es jetzt schon! Tut mir ja wirklich leid, dass ich nicht gut genug für dich bin!“
„Was redest du denn da? Natürlich bist du gut genug für mich. Habe ich mich vorhin nicht klar genug ausgedrückt?“
„Wann? Als du Tobias und dem Rest deiner Familie runtergebetet hast, was ich nicht alles erreichen werde, wenn ich endlich meinen Meister mache? Als Führungskraft arbeiten, oder einen eigenen Betrieb gründen? Nichts davon habe ich vor! Ich mag meinen Job so wie er gerade ist und habe nicht vor, irgendwas daran zu ändern, nur, damit du rumerzählen kannst, dass ich mehr bin als nur ein einfacher Schreiner!“ Schwer atmend zwang sich Marco, seine zu Fäusten geballten Hände zu lockern.
„So war das, was ich am Esstisch gesagt habe, nicht gemeint. Das solltest du eigentlich wissen.“
„Woher denn? Von den unzähligen Malen, die du positiv über meinen Job gesprochen hast? Hast du das überhaupt jemals?“
„Hast du das denn jemals?“, giftete Erik zurück. „Solange ich dich kenne, meckerst du nur darüber. Zu eintönig, zu mies bezahlt, nervige Chefs, Kollegen und Kunden. Es tut mir leid, dass ich dich für zu talentiert halte, um dir das den Rest deines Lebens anzutun!“
„Das ist immer noch meine Entscheidung, nicht deine!“
„Danke, ist mir bewusst. Sind wir jetzt durch mit dem Thema?“
„Keine Ahnung, sind wir? Hörst du endlich auf, mich vor anderen zu verstecken?“
Sekunden verstrichen, bis Erik die eingetretene Stille brach. „Du hast recht, ich wollte nicht mit dir zur Zeugnisverleihung.“ Sein Gesicht gab keinerlei Emotion preis. „Ich wollte nicht mit dir zur Zeugnisverleihung. Ich wollte nicht mit meiner Tante zur Zeugnisverleihung. Ich wollte überhaupt nicht zur Zeugnisverleihung. Weißt du, wen man üblicherweise dazu einlädt?“ Er beantwortete die Frage selbst. „Seine Eltern.“
Zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten verfluchte sich Marco. Allerdings gab Erik ihm keine Chance für eine Entschuldigung, er eilte bereits die Treppen zur U-Bahn herunter. Hastig folgte Marco ihm. „Erik!“
Dieser blieb am Bahnsteig stehen, die Arme vor der Brust verschränkt, den Blick starr nach vorne gerichtet.
„Tut mir leid. Mir war nicht klar …“ Marco seufzte. „Ich habe nicht nachgedacht.“ Wiedermal.
Weiterhin keine Reaktion.
Ihre Bahn fuhr ein und sie suchten sich einen Sitzplatz. Erik setzte sich auf den freien Platz gegenüber von Marco, mied jedoch jeden Blickkontakt. Den Kopf zur Seite gedreht sah er aus dem Fenster.
Marco entschied abzuwarten, bis Erik von sich aus Gesprächsbereitschaft signalisierte und nutzte die Zeit, seine eigenen Gefühle auseinanderzupflücken. Weshalb hatte ihn dieses Abendessen so mitgenommen? Stark genug, um Erik im Anschluss mit unbegründeten Vorwürfen zu überhäufen und das auch noch ziemlich lautstark.
Unvermittelt stand Erik auf und riss Marco damit aus seiner Analyse. „Was ist los? Wir haben noch ein paar Stationen.“
„Du. Ich muss hier umsteigen.“
„Heißt das, du kommst nicht mit zu mir?“
„Genau das heißt es.“ Die Bahn verlangsamte sich.
„Ich will nicht im Streit auseinandergehen.“
Die Türen öffneten sich.
„Erik, bitte.“
Erik setzte sich nicht wieder hin, doch er blieb stehen, bis sich die Türen schlossen und die Bahn ihre Fahrt fortsetzte.
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Nach zwanzig Minuten Fahrt und zehn Minuten Fußweg, die sich für Marco wie eine Ewigkeit anfühlten – zusammen mit dem Abendessen bei Eriks Familie fürchtete er, innerhalb weniger Stunden Jahrzehnte gealtert zu sein – sperrte er seine Wohnungstür auf. Erik hatte weiterhin kein Wort verloren.
Unfähig, die Stille eine Sekunde länger zu ertragen, drehte sich Marco zu ihm um. „Jetzt rede halt mit mir! Und wenn du mir nur sagst, was für ein Arsch ich bin! Habe ich verdient, ist mir klar. Ich hätte wissen müssen, dass du gute Gründe hast, warum du nicht zur Zeugnisverleihung gegangen bist. Und warum dein Verhältnis zu Tobias so schwierig ist. Und ... Ich weiß auch nicht, warum ich dich so angegangen bin.“
„Weil ich dich verletzt habe.“
Verdutzt sah Marco Erik an. „Was?“
„Habe ich doch, nicht wahr?“ Unablässig rieb Erik über seine Unterarme, eine Macke, die er lange nicht mehr so deutlich gezeigt hatte. „Sei ehrlich.“
„Nah, ist schon okay.“
„Ist es nicht.“ Seiner Widerworte zum Trotz schmiegte sich Erik in Marcos ausgestreckte Arme. „Ich hatte dich gewarnt, dass meine Familie speziell sein kann. Dass sie Wert auf Statussymbole legt. Anscheinend habe ich dabei verdrängt, wie ähnlich ich ihnen bin.“
„Bist du nicht.“
„Ähnlich genug, um dir das Gefühl zu geben, nicht gut genug zu sein. Was völliger Unsinn ist.“ Eriks Atem strich warm über Marcos Ohr, seine Finger gruben sich in Marcos Rücken. „Ich liebe dich. Du bist das Beste, was ich in diesem Leben habe, und es tut mir leid, dass ich dir das offensichtlich nicht zeigen kann.“
„Das kannst du. Du tust es gerade.“
„Reicht dir das?“
„Klaro“, sagte Marco mit genügend Nachdruck, um sich selbst zu überzeugen.