Was zuletzt geschah:
Getrennte Welten mischen sich. Drago lernt Marcos Familie kennen und nun hat auch noch Erik einen Besuch in Stuttgart angekündigt. Kein Wunder, dass bei Marco die Nerven blank liegen.
Kapitel 50
„Bianchi!“
Marco schloss die Augen und zählte langsam bis drei. Dann drehte er sich um. „Chef.“
„Die Werkstatt sieht aus wie Sau!“
Das tat sie definitiv, nur konnte Marco herzlich wenig dafür. „Ich war heute den ganzen Tag beim Kunden.“ Die Schmerzen in seinen Knien bewiesen es. Immerhin hatte ihn das alte Ehepaar, das den Dachboden ihres Häuschens als Spielzimmer für die Enkel ausbaute und dafür Kork verlegen ließ, durchgehend mit Snacks, Kaffee und Wasser versorgt. Definitiv einer der angenehmeren Arbeitstage der letzten Monate, der Marco allerdings nicht über seine Sehnsucht nach kreativen Projekten hinwegtröstete.
„Ist mir egal, wo du warst!“, keifte Schmid. „Du bist der Dienstälteste, also bist du dafür zuständig, dass Ordnung in der Werkstatt herrscht.“
Ach, wirklich? Bis vor etwa einem Jahr, bevor die langjährigen Mitarbeiter der Schreinerei abgesprungen waren, hatte es noch geheißen, als Neuling wäre Marco dafür verantwortlich, Ordnung in Lager und Werkstatt zu halten. Nun lag diese Aufgabe also beim Dienstältesten. Erstaunlich, wie schnell sich die Regeln änderten, und dabei ganz zufällig immer ihm den Schwarzen Peter zuschoben.
Es gab wenig Sinn, deshalb zu streiten, am Ende zog Marco ja doch den Kürzeren. Er blickte zur gut sichtbar im Umkleideraum aufgehängten Uhr. Wenn sie alle zusammen anpackten, brachten sie die Werkstatt in einer Viertelstunde in einen akzeptablen Zustand, gerade rechtzeitig, um pünktlich zu seiner Verabredung mit Drago und Erik im Tässchen zu erscheinen, ohne davor auf eine Dusche verzichten zu müssen.
„Sind die anderen im Lager?“ Seit Marcos Rückkehr hatte er niemanden mehr gesehen.
„Warum sollten sie? Feierabend war vor einer halben Stunde. Ich bezahl euch doch nicht dafür, dass ihr danach noch hier rumhängt.“
Marco starrte Schmid an. „Nur, damit ich das richtig verstehe. Sie waren die ganze Zeit hier und haben seelenruhig dabei zugesehen, wie die Jungs absolutes Chaos in der Werkstatt anrichten und dann einfach heimgehen, nur um jetzt mich, der seit Monaten Überstunden schiebt, der Ihnen jedes schwierige Kundengespräch abnimmt, der als einziger länger als ein Jahr da ist, der neben seinen Aufträgen die Neuen anlernt–“
„–wennste das ordentlich gemacht hättest, hättest du das Problem jetzt nicht“, unterbrach Schmid Marco grinsend. Offensichtlich genoss er das Gefühl, ihm eine Lektion zu erteilen.
„Ich fasse es nicht, dass Sie gewartet haben, nur um mir das jetzt reinzuwürgen! Wollen Sie Ihren Laden gegen die Wand fahren? Sind Sie wirklich so unfähig–“
„Pass mal genau auf, wie du mit mir redest!“
Mit Mühe zügelte sich Marco, kämpfte den roten Schleier am Rande seiner Wahrnehmung zurück und öffnete seine unbewusst zu Fäusten geballten Hände, um sie in einer versöhnlichen Geste zu heben. „Ich bin heute verabredet und habe keine Zeit–“
„–das ist dein Problem, nicht meins!“
„Das heißt“, fuhr Marco gepresst fort, „ich räume jetzt den gröbsten Dreck weg und komme dann Montag früher zur Arbeit, um den Rest zu machen.“
„Das kannst du gleich vergessen! In den Feierabend gehen und hier einen Saustall zurücklassen, soweit kommts noch!“
Rot verfärbte Marcos Welt, als der seit Jahren überspannte Geduldsfaden riss. „Dann mach deinen Scheiß selbst!“
Schmid öffnete den Mund, ohne ein Wort herauszubringen, was ihm die Optik eines verdatterten Fischs verlieh. Leider hielt dieser Zustand nicht lange an. Sein Gesicht wenige Zentimeter von Marcos entfernt, explodierte er: „Was glaubst du eigentlich, wen du vor dir hast? Sei noch ein einziges Mal so respektlos mir gegenüber, dann kannste zusehen, wo du nen neuen Job herkriegst!“
Marco hatte die Schnauze voll davon, sich einschüchtern zu lassen. „Nur zu! Trau dich!“, brüllte er zurück. „Versuch nur, mich zu ersetzen! Als ob irgendjemand für diese abgeranzte Firma arbeiten will! In spätestens einem Jahr ist die doch eh endgültig pleite!“
Schmids Gesichtsfarbe wechselte von rot zu weiß und zurück zu rot. Zitternd hob er die Hand und deutete zur Tür. „Raus. Verschwinde du undankbarer Bastard und lass dich hier nie wieder blicken!“
„Liebend gern!“ Marco drängte sich an Schmid vorbei, der dabei rückwärts sprang, als fürchtete er, sein Gegenüber könnte ihre Auseinandersetzung körperlich werden lassen. Mehr als alles andere holte diese Reaktion Marco zurück auf den Boden. Er flüchtete aus der Werkstatt.
Draußen, sicher versteckt in seinem treuen Auto, ebbte das Adrenalin allmählich ab und lüftete den Schleier, der seine Sicht verfärbte. Schnaufend beugte er sich über den Lenker.
Er hasste diesen Kontrollverlust, hasste die Person, die er aus ihm machte. Marco wollte kein Mensch sein, der anderen Angst einjagte, wollte kein Mensch sein, dessen Stimme andere zusammenzucken ließ. Er wollte kein Mensch sein, der Drago an seinen Vater erinnerte.
Viel zu spät, um noch pünktlich im Tässchen zu erscheinen, drehte er den Zündschlüssel und fuhr los.
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Kacke, Kacke, Kacke, Kacke! Während er die Straße entlang hetzte, warf Marco einen Blick auf die Uhr, als könnte er das gnadenlose Ticken der Sekunden damit aufhalten. Konnte dieser beschissene Tag noch beschissener werden? Selbstverständlich. Endlich kam das Tässchen in Sicht, hinter dessen Schaufenstern Marco der Anblick erwartete, den er gefürchtet hatte.
Drago und Erik standen sich gegenüber, ersterer die Arme vor der Brust verschränkt, letzterer eine Braue gehoben und offensichtlich eine spitze Bemerkung auf der Zunge. Hinter der Theke versuchte Hugo, die beiden mit einem beschwichtigenden Lächeln davon abzuhalten, sich gegenseitig an die Gurgel zu springen.
Verflucht, genau deshalb hatte Marco geplant, mindestens zehn Minuten zu früh aufzuschlagen! Dann hätte er die beiden so mit Smalltalk und Charme umnebeln können, dass sie gar nicht erst in Versuchung kamen, irgendwie anders als mit wenigstens oberflächlicher Höflichkeit miteinander umzugehen. Aber nein, sein Chef hatte ihm ja einen Strich durch die Rechnung machen müssen.
Hastig platzte er ins Café. „Ich habe gerade meinen Job gekündigt!“
Alle Augen richteten sich auf ihn, was gut war, weil das bedeutete, dass er Erik und Drago erfolgreich voneinander abgelenkt hatte.
„Gut.“
„Endlich.“
„Das müssen wir feiern!“
Perplex starrte Marco die drei Männer ihm gegenüber an. „Was?“
„Es war immer klar, dass du deinen Job liebst, aber deinen Betrieb hasst“, sagte Hugo schulterzuckend.
„Du hast was Besseres verdient“, sagte Erik.
Drago sagte gar nichts, sondern überwand die wenigen Meter, die sie trennten, und küsste Marco vor allen Augen. Ohne Zurückhaltung, dafür mit einer inneren Ruhe, die Marco half, tief durchzuatmen. Bis ihm einfiel, welche Szene er eben unterbrochen hatte. Er trat einen Schritt zurück, um zwischen Drago und Erik hin und her zu blicken. „Ihr, äh, habt euch also schon kennengelernt?“
„Offensichtlich.“ Unterschiedliche Stimmen, derselbe Tonfall. Oh Gott, Marco hatte einen Typ.
„Drago hat eben erzählt, dass es im Kunstmuseum eine Installation über Videokunst gibt“, sagte Erik, als hätte Marco nicht vor zwei Minuten verkündet, dass er seinen Job gekündigt hatte. Wofür dieser ihm still dankte. Er musste das Passierte erst einmal sacken lassen, und hatte absolut kein Bedürfnis, darüber zu sprechen. Was Erik ziemlich sicher wusste. „Wir können uns nur noch nicht einigen, ob wir den Film davor oder danach gucken.“
„Film?“, fragte Marco überrumpelt. „Was für ein Film?“ Davon hörte er zum ersten Mal. Ausgemacht war ein Kaffee im Tässchen, damit sich Erik und Drago auf neutralem Boden beschnuppern konnten, mehr nicht.
„Die Höhle der vergessenen Träume.“
Dragos Antwort half absolut gar nicht.
„Das ist der neue Dokumentarfilm von Werner Herzog über die Malereien der Chauvet-Höhle“, ergänzte Erik vergleichbar hilfreich. „Er ist diese Woche wahrscheinlich zum letzten Mal im Kino, deshalb wollte ich ihn mir später noch ansehen. Drago und ich sind zufällig darauf zu sprechen gekommen und weil er ihn auch interessiert, dachten wir, wir könnten zusammen hingehen.“
Marco blickte zu Drago, um abzuschätzen, ob die beiden ihn veräppelten. Drago blickte ungerührt zurück. Die meinten das ernst!
Natürlich wusste Marco, dass sich Drago für Kunst begeisterte, unter anderem für Filme, doch dass er seinen Geschmack mit Erik teilte und sich dann auch noch mit diesem verbündete … Hilflos wandte sich Marco an Hugo. „Was passiert hier gerade?“
„Du erntest die Früchte dessen, was du gesät hast“, erwiderte dieser amüsiert. „Jetzt hopp, setzt euch, andere wollen auch an die Theke. Ich bringe euch eure Bestellung gleich.“
Tief in eine Debatte versunken, wann sie am besten in welches Kino gingen und ob es Sinn gab, die Kunstausstellung davor, danach oder lieber am nächsten Tag zu besuchen, liefen Drago und Erik zum nächstbesten freien Tisch. Marco trottete ihnen hinterher, komplett sprachlos über die Entwicklungen der vergangenen Stunde.
Er hatte seinen Job gekündigt. Drago und Erik befanden sich im selben Raum, ganz ohne Drama. Er würde langweilige Dokumentarfilme und Kunstausstellungen über sich ergehen lassen müssen.
Oh Gott, er hatte seinen Job gekündigt! Plötzlich knackte dieser Gedanke sein Gehirn wie eine Walnuss. Selbst auf die drei Monate Kündigungsfrist konnte er nur zählen, sofern sein Chef nicht versuchte, ihren Streit für eine fristlose Kündigung zu nutzen. In dem Fall würde Marco ganz schnell ohne Job dastehen. Und dann? Wie viele Monate hatte sich Giovanni erfolglos nach einer neuen Stelle umgesehen? Würde Marco sein Schicksal teilen?
Porco dio, da hatte ihn sein Temperament so richtig in die Scheiße geritten. Er hätte einfach diese dämliche Werkstatt aufräumen sollen! Als ob Drago und Erik ihm seine Verspätung vorgeworfen hätten, zumal sie sich offensichtlich prächtig verstanden.
„Marco?“ Eriks Stimme kam aus weiter Ferne. „Du bist ganz blass um die Nase.“
„Setz dich.“ Kräftige Hände dirigierten ihn zu einem Stuhl. Als sich Marco darauf fallen ließ, fragte er sich, wie er bis jetzt hatte stehen können. Irgendjemand schien heimlich die Knochen aus seinen Beinen entwendet zu haben.
„Ich bitte Hugo um ein Glas Wasser.“ Wieder Erik. Seine leichtfüßigen Schritte entfernten sich, die Hände auf Marcos Oberarmen blieben.
„Ich bin okay.“
„Du siehst nicht okay aus“, erwiderte Drago. Er setzte sich neben Marco, ohne seine Hand von dessen Arm zu nehmen. „Kreislaufprobleme?“
Eine willkommene Ausrede, doch Marco brachte es nicht über sich, sie zu nutzen. Mehr als alles andere basierte seine Beziehung mit Drago auf Ehrlichkeit. Das wollte er nicht aufs Spiel setzen. „Mir ist gerade klar geworden, dass ich bald arbeitslos bin. Was mache ich denn jetzt?“
Drago lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Hast du Ersparnisse?“
„Ein paar.“ In den vergangenen Monaten hatte Marco noch strenger aufs Geld geachtet als sonst, um sich in absehbarer Zukunft seinen Meister finanzieren zu können. Soviel dazu. Ein anderer Gedanke kam ihm. „So richtig gekündigt habe ich eigentlich gar nicht. Sind ein paar hässliche Worte gefallen. Schmid hat gedroht, mich rauszuschmeißen, ich habe gesagt, dass er das ruhig tun soll. Das … zählt nicht als offizielle Kündigung, oder?“
„Ich denke nicht?“ Selbst Drago klang unschlüssig, allerdings nur für einen Herzschlag. „Sobald wir das herausgefunden haben, können wir für die kommenden Monate planen.“
Die Selbstverständlichkeit, mit der Drago von ‚wir‘ sprach, gepaart mit seiner nüchternen Art, die keine leeren Versprechen gab, und trotzdem einen Weg nach vorne aufzeigte, beruhigten Marco mehr als er fünf Minuten zuvor für möglich gehalten hätte. „Am Montag gehe ich gleich morgens zu Schmid und sehe zu, dass ich meinen Job retten kann“, beschloss er. „Eigentlich kann er es sich nicht leisten, noch einen Mitarbeiter zu verlieren. Wenn ich angemessen zu Kreuze krieche, sollte ich ganz gute Chancen haben.“
„Das ist eine Option, wenn es dir darum geht, deinen Job zu behalten.“
„Klaro geht es mir darum! Was soll ich denn sonst tun?“
„Dir eine Stelle suchen, bei der du respektiert wirst.“ Irgendwie gelang es Drago, diesen Satz völlig wertungsfrei auszusprechen. Nicht einmal eine Aufforderung verbarg sich darin, lediglich die Feststellung, dass es Marco freistand, diese Möglichkeit zu wählen.
„Das werde ich“, versprach Marco. „Mir wäre es nur lieber, dabei nicht den Druck zu haben, in drei Monaten etwas finden zu müssen, weil ich sonst auf der Straße sitze.“
Das nahm Drago wortlos hin.
„Hier, bitte.“ Erik stellte Marco ein großes Glas Wasser und eine kleine Tasse Espresso vor die Nase. Sein Timing passte zu perfekt, um zufällig zu sein. Er musste bewusst das Ende von Marcos und Dragos Unterhaltung abgewartet haben.
„Grazie.“ Das kühle Wasser tat verdammt gut. „Scusa für gerade eben. Mir …“ Ist der Kreislauf weggebrochen. Nein, er hatte Drago nicht angelogen, also wollte er es auch bei Erik nicht tun. „Mir sind die Nerven durchgegangen. Ist aber wieder okay.“ Bevor Erik seine Worte anzweifeln konnte, wedelte Marco ungeduldig mit der Hand. „Ihr wolltet irgendwas wegen Kino besprechen.“
Wenn er sich sterbenslangweilige Dokumentarfilme und irgendwelche Kunstausstellungen geben musste, damit Erik und Drago gut miteinander auskamen, war das ein Opfer, das er gerne brachte. Okay, es war ein Opfer, das er brachte, ob gerne, stand auf einem anderen Blatt. „Lasst mich davor aber duschen und mich umziehen.“ Nach dem Streit mit seinem Chef, inklusive Rausschmiss aus der Werkstatt, hatte er für keines davon Gelegenheit gehabt.
Erik sah auf seine Armbanduhr. „Der Film würde in ungefähr eineinhalb Stunden losgehen. Reicht dir das?“
„Wenn du mir noch sagst, wo er läuft.“
„In dem Kino in dem“, Erik schien sich kurzfristig eine andere Formulierung zu überlegen, „wir damals diesen Horrorfilm angesehen haben.“
Das Kino, in dem wir unser erstes, inoffizielles Date hatten, meinst du. „Da komme ich von zuhause aus gut hin. Sollte klappen.“
„Für die Ausstellung bleibt heute zu wenig Zeit“, sagte Drago.
„Stimmt“, räumte Erik ein. „Was hältst du davon, wenn wir …“
Seinen Espresso in der Hand, lauschte Marco Drago und Erik, die sich allmählich einer Einigung annäherten und erkannte nach und nach die Zeichen dafür, wie vorsichtig sie einander abklopften. Drago wählte seine Worte mit Bedacht, formulierte insbesondere Widerspruch für seine Verhältnisse extrem sanft und auch Erik bemühte sich merklich um Harmonie. Marco zuliebe. Sie taten das Marco zuliebe.
„Also … Ihr brecht zu Marco auf, während ich hier noch in Ruhe esse. Danach treffen wir uns direkt am Kino“, fasste Erik die Ergebnisse seiner Verhandlungen mit Drago zusammen. „Dann haben wir morgen mehr als genug Zeit für die Ausstellung, ohne uns hetzen zu müssen, und ich kann nachmittags weiter zu Giulia und Giovanni. Oder seid ihr eh auch da?“
„War bisher nicht geplant, ist aber gar keine schlechte Idee“, antwortete Marco. „Soll ich Giulia fragen?“
„Ah, ich meine, ich fände es schön, wenn das klappen würde, aber ich will weder euch noch Giulia etwas aufdrängen.“
„Wir fragen“, sagte Drago, bevor Marco den Mund öffnen konnte, doch ihre Antwort wäre ohnehin identisch ausgefallen.
„Sehr schön. Dann sehen wir uns später.“ Spitzbübisch grinsend biss Erik in sein von Hugo bereitgestelltes Sandwich. Wenig überraschend wartete daneben eine Zimtschnecke. Manche Dinge änderten sich eben nie.
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Marco verstaute die Teller im leeren Küchenschrank, ohne richtig hinzusehen. Die einst von Leben erfüllte Küche, in der Giulia und er unzählige Stunden miteinander gekocht, herumgealbert und am Ende langer Abende weingeschwängerte Gespräche geführt hatten, hatte ihre Seele verloren. Kein wildes Sammelsurium an Kaffeetassen, kein appetitanregendes Obst in der hölzernen Etagere, die Marco ihr und Giovanni zur Hochzeit geschenkt hatte. Kein herumliegendes Spielzeug, kein unentdeckter Soßenspritzer auf den Fliesen. Seufzend schloss Marco den Küchenschrank.
„Kann ich helfen?“
Marco blickte zu Drago, der auf leisen Sohlen in die Küche geschlichen kam, und ein warmes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Nah, bin schon fertig.“ Er flüsterte aus gutem Grund.
Sicher in Dragos Armen, das Köpfchen an seiner Schulter, schlummerte Valentina, Marcos jüngste Nichte. In der Zeit, die Marco gebraucht hatte, um das benutzte Geschirr abzuspülen und die Reste des von ihm mitgebrachten Essens im Kühlschrank zu verstauen, war Drago mit dem quengeligen Säugling im Wohnzimmer auf und abgelaufen. Offensichtlich hatte er nicht übertrieben, als er erzählt hatte, dass er durchaus mit Babys umgehen konnte. Ihn so zu sehen, die kräftigen Hände unendlich sanft, wärmte Marco mehr als die durchs Fenster hereinfallenden Sonnenstrahlen.
„Sieht aus, als würde sie tief und fest pennen.“
„Nicht fest genug. Jedes Mal, wenn ich sie ablegen will, wacht sie wieder auf.“ Drago machte nicht den Eindruck, als würde er sich daran stören. „Das war ein schöner Nachmittag.“
„Sì. Finde ich auch. Schön, dass das so spontan geklappt hat.“
Angenehmes Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. In der Küchentür stehend, beobachteten sie Erik, der neben Bianca auf dem Boden saß und gemeinsam mit ihr Tiere in dem von ihm mitgebrachten Wimmelbilderbuch ausfindig machte.
Giovanni und Giulia genossen es hingegen merklich, einige Momente Ruhe von ihrem Nachwuchs zu haben. Sie saßen zusammengekuschelt auf zwei Sitzkissen – ihr Sofa sowie den Großteil ihrer restlichen Möbel hatten sie bereits verkauft. Dank eifriger Spenden von Giovannis Familie, wartete in Italien eine fast vollständig eingerichtete Wohnung auf sie.
„Ich kann nicht glauben, dass keiner von ihnen nächste Woche noch hier sein wird“, sagte Marco und merkte selbst, wie bitter er klang.
„Erik hat uns nach Berlin eingeladen.“
Beinahe zu spät dachte Marco daran, seine Lautstärke an das an Dragos Schulter schlafende Baby anzupassen. „Was? Wann?“
„So weit hatten wir noch nicht geplant.“
„Nein, ich meine, wann habt ihr das ausgemacht?“
„Heute“, antwortete Drago. „Als wir uns die Ausstellung angesehen haben. Du warst dabei, hast aber offensichtlich nicht zugehört.“
„Scusa, muss ich echt ausgeblendet haben.“ Wie so vieles andere in diesen grauenhaften Stunden. Was Drago und Erik daran fanden, im Schneckentempo von Raum zu Raum zu laufen, irgendwelche Infotafeln zu lesen und ein langweiliges Ausstellungsstück nach dem anderen zu betrachten, würde er nie verstehen.
„Wir müssen nicht fahren, wenn du nicht möchtest.“ Wie üblich lag kein Vorwurf in Dragos Stimme, doch Marco glaubte, eine gewisse Sehnsucht herauszuhören.
„Du willst hin, oder?“
„Ich war noch nie dort und es gibt einiges, das ich gerne sehen würde.“
„Dann fahren wir wohl nach Berlin.“ Innerlich resignierend stellte sich Marco darauf ein, durch weitere Museen und Kunstausstellungen geschleift zu werden, schlimmstenfalls sogar eine Stadtführung über sich ergehen lassen zu müssen. Was tat man nicht alles, um den Mann, den man liebte, glücklich zu machen. Selbst, wenn dieser sich mit dem Ex verbündete.
„Muss nur mal sehen, wie das finanziell klappt.“ Nicht, weil Marco versuchte, sich aus der Berlinreise herauszuwinden, sondern weil seine Finanzen tatsächlich unangenehm angespannt aussahen. Er hatte angefangen, Geld für die Meisterschule zurückzulegen und den damit einhergehenden Verdienstausfall; außerdem wollte er Giulia so bald wie möglich in ihrem neuen Heim in der Toskana besuchen, was ebenfalls den einen oder anderen Euro erforderte. All das klappte allerdings nur, wenn er einen Job fand. „Ich habe heute meine Kündigung offiziell gemacht. Naja, zumindest mündlich. Am Montag muss ich sie noch schriftlich einreichen.“
Drago wirkte überrascht. „Gestern hast du gesagt, du willst deinen Job vorerst behalten.“
„Wollte ich auch“, gab Marco zu. „Schmid hat mich heute angerufen, um mir zu sagen, dass ich am Montag gefälligst zur Arbeit erscheinen soll. Bei dem Ton hätte ich am liebsten sofort wieder aufgelegt. Hab ihm dann auch gesagt, dass ich so nicht mehr mit mir reden lasse. Das hat er erwartungsgemäß aufgenommen.“ Er schüttelte den Kopf. „Das ganze ist dann recht schnell in den nächsten Streit eskaliert.“
Valentina stieß ein leises Gluckern aus und Drago verlagerte behutsam ihr Gewicht auf seiner Schulter. „Und du hast gekündigt?“
„Ich hatte keine Wahl. Ich kann unmöglich für jemanden arbeiten, bei dem ich ständig so die Kontrolle verliere.“
Drago quittierte das mit einem simplen Nicken. Er würde Marco keine Absolution erteilen, ihm nicht eilig versichern, dass es in Ordnung war, gelegentlich auszurasten. Gut so. Marco wollte keine Absolution, er wollte einen Partner, der seine Schwächen sah und ihm zutraute, an ihnen zu arbeiten.
„Jetzt muss ich die nächsten drei Monate überstehen – freistellen wird Schmid mich sicher nicht – und dann sehen wir schon, wohin es mich verschlägt.“ Ein Satz, der sich hundertmal lockerer sagte als anfühlte.
Sobald seinem Chef klar werden würde, dass Marco wirklich ging, würde er seinen Unmut mit voller Wucht an ihm auslassen. Der Gedanke, nichts Neues zu finden, versetzte ihn zudem schon jetzt in Panik. Je näher sein letzter Arbeitstag rückte, umso schlimmer würde sie werden.
„Ich hasse Veränderungen. Eigentlich dachte ich immer, ich wäre mutig und offen für neue Erfahrungen, aber weißt du was? Das ist Unsinn. Ich mag mein Leben geregelt, will abends beim Schlafengehen wissen, was mich am nächsten Tag erwartet. Im Grunde ist mir schon lange klar, dass das mit meinem Job nicht so weitergehen kann, aber meine Güte wäre es mir lieber, wenn ich mir diese Unsicherheit nicht antun müsste.“
Wortlos lehnte sich Drago gegen Marcos Schulter, erinnerte ihn still daran, dass er sich dieser Herausforderung nicht allein stellen musste. Nein, sie waren ein Team, mit allem, was dazugehörte. „Ich bleibe hier.“
„Zum Glück.“ Marco schlang einen Arm um Dragos Hüfte, zog ihn so nah wie möglich zu sich, ohne Valentina zu stören. „Ich bin so froh, dass wenigstens das mit deiner Aufenthaltserlaubnis geklappt hat.“ Eine Nachricht, die sie gebührend gefeiert hatten, zunächst mit Freunden, anschließend zu zweit, bis ihre Körper klebten und ihre wundgeküssten Lippen schmerzten.
„Das bin ich auch, aber ich meinte langfristig. Ich bleibe bei dir. Hier in Deutschland.“
Marco wusste, dass er starrte. Er starrte in Dragos ernste Augen und auf seine Lippen, die sich fast unmerklich zu einem Lächeln kräuselten. Starrte auf den Mann an seiner Seite, der niemals ein solches Versprechen geben würde, wenn er nicht fest plante, es zu halten. „Wirklich?“
„Ich habe dir von Anfang an gesagt, dass ich bei Beziehungen nur ganz oder gar nicht kann.“ Drago schien seine nächsten Worte abzuwägen. „In den vergangenen Monaten habe ich das vor dir und mir selbst verleugnet, aber so kann ich nicht weitermachen. Es macht mich unglücklich und ich glaube, dass es sich für dich auch nicht gut anfühlt.“
„Tut es nicht“, gab Marco zu. „Ich meine, es ist ganz klar, dass du deine Familie vermisst, und ich will dir nicht im Weg stehen, zu ihnen zurückzugehen, aber … Ich will dich nicht verlieren.“
„Genau deshalb musste ich eine Entscheidung treffen.“ Wieder zögerte Drago. „Eigentlich mag ich es nicht, dich bei Dingen, die uns beide betreffen, vor vollendete Tatsachen zu stellen. Ich denke nicht, dass diese Art Kommunikation gut für eine Beziehung ist. Nur war das etwas, das ich mit mir selbst ausmachen musste.“
„Das verstehe ich.“
„Ich vermisse meine Familie sehr“, fuhr Drago fort, „aber ich werde bei ihnen niemals völlig ich selbst sein können. Damit meine ich nicht nur meine Sexualität, sondern …“
Sowohl Drago als auch Marco hatten leise gesprochen, schon allein, um Valentina nicht zu wecken, dennoch zog sich Drago tiefer in die Küche zurück, weg von neugierigen Augen und Ohren. „Ich habe keine Fotos von ihm aufgehoben, aber ich sehe meinem Vater sehr, sehr ähnlich. So ähnlich, dass meine Mutter zusammenzuckt, wenn wir uns unerwartet in der Wohnung über den Weg laufen. Ich merke, wie sie und meine Schwestern die Schultern hochziehen, wenn ich nicht sehr genau auf meine Körpersprache achte.“
Mit dem Daumen strich Marco über harte Wangenknochen und feines Haar. „Das klingt schon beim Zuhören anstrengend.“
Drago schloss die Augen und lehnte sich in die Berührung. „Bei dir habe ich das Gefühl, ich selbst sein zu können. Schon als wir uns kennengelernt haben, und noch mehr in den Monaten unserer Beziehung. Das will ich nicht aufgeben.“ Er öffnete die Augen wieder, blickte direkt in Marcos. „Ich möchte den Rest meines Lebens mit dir verbringen.“
Marco schluckte gegen den Kloß in seinem Hals. „Das will ich auch.“
Selbstverständlich suchte sich Valentina genau diesen Moment aus, um lautstark darauf aufmerksam zu machen, dass sie erstens wach war und zweitens Dragos Schulter nicht länger ihren Bedürfnissen entsprach.
„Oh je, ich glaube, wir bringen dich mal zurück zu deinen Eltern“, sagte Marco über das zunehmend an Intensität gewinnende Weinen.
Drago durchquerte die Küche mit langen Schritten und traf dabei auf halben Weg auf Giulia, die ihm das weinende Bündel abnahm. „Da hat wohl jemand Hunger.“ Beruhigend auf ihre Tochter einredend, zog sie sich zum Stillen zurück, dicht gefolgt von Giovanni, der dabei zumindest moralischen Beistand leistete.
Erneut ließ Marco den Blick durch den Raum schweifen. Über seine Schwester und seinen Schwager, die bald hunderte Kilometer entfernt wohnen würden, und dennoch in seinem Leben blieben. Nur eben anders als bisher. Über seine Nichte Bianca, jetzt deutlich interessierter an Eriks bunten Socken als an dem vor ihr liegenden Wimmelbuch. Über Erik, der in genau diesem Moment aufsah und Marco ein spitzbübisches Grinsen schenkte. Das Funkeln der Stecker in seinem Ohr spiegelte sich in seinen Augen wider. Sekunde. Prangte da ein Knutschfleck an seinem Hals? Sì. Definitiv ein Knutschfleck.
Amüsiert erwiderte Marco Eriks Lächeln. Er wirkte so viel glücklicher als vor einem Jahr, selbstbewusst und in sich ruhend. Irgendwo auf dem holprigen Weg hierher mussten sie ein paar Dinge richtig gemacht haben.
Sehr richtig. Marco erlaubte sich, gegen Drago zu sinken, in der Sicherheit, ihn nicht so schnell zu verlieren. Mit jedem Tag, den sie miteinander verbrachten, wuchsen seine Gefühle, schlugen Wurzeln, erfüllten ihn mit Leben. „Ti amo.“
Seit er die Worte zum ersten Mal ausgesprochen hatte, hatte er sie unzählige Male wiederholt; wenn sie sich sahen, wenn sie sich verabschiedeten, halb gestöhnt während eines Höhepunkts, oder im Halbschlaf genuschelt. Völlig egal wann, völlig egal wie, er zauberte damit verlässlich dieses fast unsichtbare Lächeln auf Dragos Gesicht, das die Härte aus seinen Zügen nahm und seine Augen von innen wärmte. So wie jetzt.
Ihre Lippen streiften sich und nicht in Worte zu fassendes Glück durchflutete Marco. Alles befand sich im Wandel, und dennoch bereitete ihm die Zukunft keine Angst mehr. Irgendwie hatte er es über die Jahre geschafft, einen ganzen Haufen Menschen um sich zu scharen, die ihn auf seinem Weg begleiteten. Dass fast niemand davon zu seinen Blutsverwandten zählte, machte keinen Unterschied. Marco war umringt von Familie.
Ende
Kommentar:
Naja, fast ;) Einen Epilog bekommt ihr noch.