Was zuletzt geschah:
Ein neckisches Spiel um Dominanz schlägt unerwartet in Ernst um. Ein weiteres Wochenende endet in hilflosem Schweigen. Egal, was sie tun, der Graben zwischen Marco und Erik scheint immer breiter zu werden.
Kapitel 18
Das Telefon klingelte so lange, dass sich Erik fragte, ob er einen ungünstigen Zeitpunkt erwischt hatte, oder gemieden wurde. Einmal würde er es noch klingeln lassen, dann aufle–
„Hallo?“
„Ah, hey. Erik hier.“
„Erik! Wie schön, dass du anrufst!“ Hugos Stimme strömte durch den Hörer. Bodenständig und warmherzig und genau der Ton, den Erik gerade brauchte. „Wie geht’s dir?“
„Ganz gut.“ Als Hugo das Schweigen nicht füllte, ergänzte er: „Ist eine ziemliche Umstellung. Die Stadt, meine ich.“
„Ja? Ich war tatsächlich noch nie in Berlin. Ist es so anders als Stuttgart?“
„Schon. Ich weiß gar nicht, wie ich es richtig beschreiben soll. Mehr und gleichzeitig weniger? Auf der einen Seite fühlt sich alles viel enger an, richtig zusammengedrängt, aber gleichzeitig ist die Stadt so weitläufig, dass Stuttgart fast zweimal reinpasst. Und die Leute hier sind anders. Der Dialekt. Die Läden, an denen man vorbeiläuft. Irgendwie alles. Vielleicht kommt es mir auch nur so vor, weil ich neu bin. Ich kenne weder die Stadt noch die Menschen hier wirklich gut.“
„Fühlst du dich allein?“
„Manchmal“, gab Erik zu. „Nicht oft und nicht schlimm. Ich habe mich im letzten Jahr wohl einfach daran gewöhnt, immer jemanden um mich zu haben, wenn ich das wollte. Vor allem Marco.“ Und all die Freunde, die dieser in ihre Beziehung gebracht hatte. Philipp, Hatice und Jo, Hugo und Manni. „Vor meinem Umzug musste ich mit Marco diskutieren, damit wir – oder ich – überhaupt mal einen freien Abend hatten, und jetzt sitze ich fast ausschließlich daheim und habe meine Freunde seit Wochen nicht mehr gesehen.“
„Ich kann mir gut vorstellen, was für eine harte Umstellung das ist. Du kommst uns doch aber sicher bald besuchen, oder?“
„Mhm. Spätestens an Weihnachten.“
„Das sind noch fast zwei Monate!“, protestierte Hugo. „Keine Chance, dich davor schon zu sehen? Du fehlst uns nämlich auch. Ich erwische mich ständig bei dem Versuch, dir die letzte Zimtschnecke zu reservieren, bevor sie ausverkauft sind.“
Hugos Herzlichkeit wärmte Eriks Innerstes wie eine Tasse Kakao nach einem langen Spaziergang. „Die Sache ist … Ich will euch wiedersehen, unbedingt sogar. Ihr fehlt mir total. Aber ich lebe jetzt in Berlin und daran ändert sich so schnell nichts.“ Egal, wie halbherzig er Marco versprochen hatte, zu einem späteren Semester vielleicht nach Tübingen zu wechseln. „Also sollte ich mich daran gewöhnen. Ich will Berlin nicht als störende Phase zwischen meinen Besuchen in Stuttgart empfinden. Deshalb will ich eigentlich erst wieder nach Stuttgart fahren, wenn ich mich richtig in Berlin eingelebt habe.“
„Das verstehe ich gut. Traurig für uns, weil wir dich vermissen, aber so wie du es beschreibst, klingt die Entscheidung richtig und wichtig für dich.“
„Trotzdem fällt mir gerade etwas die Decke auf den Kopf“, gab Erik zu.
„Schätzchen, ich sage das so nett ich nur kann und eigentlich muss ich dafür nur deine eigenen Worte wiederholen. Du wohnst jetzt in Berlin. Geh gefälligst raus und erleb was!“
„Aber–“
„Was hältst du davon“, schnitt Hugo Eriks Widerworte ab. „Du unternimmst was – völlig egal, was – einen Film schauen, Schwimmen gehen, ein Eis naschen oder einen Cocktail probieren, eben worauf du Lust hast, und dann rufst du mich ganz bald wieder an und erzählst mir davon.“
„Jetzt klingst du fast wie meine Therapeutin.“
„Autsch. Das war nicht mein Ziel.“
„War nicht negativ gemeint“, versprach Erik. „Ehrlich gesagt fehlt sie mir ein bisschen. Nicht, weil es mir schlecht ginge!“, fügte er eilig hinzu, damit sich Hugo keine Sorgen machte. „Ich fühle mich gut. Es geht mir nur irgendwie ab, jemanden zu haben, mit dem ich die Tage Revue passieren lassen kann.“
„Telefonieren denn du und Marco nicht täglich miteinander? Hat er zumindest erzählt.“
„Doch, schon.“ Das letzte Mal, kurz bevor Erik Hugo angerufen hatte, wobei kurz es traf.
„Kann es sein, dass sich da irgendwo ein ‚Aber‘ versteckt?“, hakte Hugo sanft ein. „Ich höre zu, wenn du möchtest, und ich tratsche nichts davon an Marco weiter, versprochen.“
Erik glaubte ihm. Obwohl Hugo und Manni Marco seit Jahren kannten, in ihm sicher eine Art Sohn sahen, hatten sie während seiner und Eriks dreimonatigen Trennung Neutralität gewahrt. Keine Vorwürfe, keine Rückfragen, keine Infos, die hinter Eriks Rücken an Marco weitergetragen worden waren. Noch heute rechnete er ihnen das hoch an.
„Marco und ich reden jeden Tag miteinander“, sagte Erik und zwang sich zu dem Aber, das Hugo herausgehört hatte. „Aber ich habe das Gefühl, wir reden nicht miteinander. Schon seit Monaten nicht.“
„Warum hast du das Gefühl?“
Hugo klang definitiv wie Eriks Therapeutin. „Schwer zu sagen. Alles worüber wir sprechen ist so … so oberflächlich. Zum Beispiel reden wir nie über Pläne, die über die nächsten paar Stunden rausgehen – und ich verstehe das schon, mein Umzug hat unsere ganzen Zukunftsentwürfe ordentlich durcheinandergewürfelt. Kein Wunder, dass Marco erstmal keinen Bock mehr darauf hat ... Trotzdem ist es manchmal echt schwer. Wenn ich ihn frage, wie sein Tag war, brummt er. Wenn ich ihn frage, wie es in der Arbeit läuft, brummt er auch, nur etwas genervter. Ich meine, er hat schon immer Dinge lieber runtergeschluckt und empfindet alles, was nicht mit einem strahlenden Lächeln erzählt wird, sofort als Gejammer. Das ist nicht neu. Es kommt mir nur noch extremer vor. Oder vielleicht liegt es an mir. Vielleicht gebe ich ihm nicht die Chance, offen zu sein. Vielleicht glaubt er, mir gegenüber nicht ehrlich sein zu können. Ich weiß, dass er mich vor unnötigem Stress schützen will, aber das kann doch nicht bedeuten, dass er mich komplett von seinen Problemen und Gefühlen ausschließt.“ Erik seufzte. „Oder ich interpretiere viel zu viel in sein Verhalten und sehe Gespenster. Ich weiß es einfach nicht.“
Dazu kamen all die Punkte, die Erik lieber verschwieg, weil sie sich zu real anfühlten, wenn er sie laut aussprach. Seine Entscheidung, Berlin als Wunschstudienort anzugeben, ohne Marco davon zu erzählen, und das schlechte Gewissen, das ihn seither innerlich auffraß. Seine Versuche, Marco für die Stadt zu erwärmen, die allesamt ins Leere liefen. Dass er generell das Gefühl hatte, es Marco zurzeit nicht recht machen zu können, egal, wie sehr er sich bemühte. Dann dieser Moment am vergangenen Wochenende, in dem ihr Spiel um Dominanz unerwartet in Ernst umgeschlagen war und ihre Unfähigkeit, im Anschluss darüber zu sprechen. Und darunter, tief unter all diesen Symptomen vergraben, die Angst, dass Marco ihn insgeheim für seinen Umzug verachtete und die nackte Panik, etwas Gutes unwiederbringlich zerstört zu haben.
Erik bemerkte seine Hand, die seit einer Weile kreisend über seine Brust strich, um das Engegefühl darin zu vertreiben. Die Luft um ihn herum schmeckte dünn und sauerstoffarm. Seine Atmung beschleunigte. „Ah, ich sollte langsam Schluss machen.“ Er hoffte, das Zittern in seiner Stimme hörte nur er. „Muss noch lernen. Entschuldige, dass sich mal wieder alles nur um mich gedreht hat. Ich melde mich bald wieder, ja? Bye.“ Ohne Hugos Erwiderung abzuwarten, legte Erik auf und wappnete sich für die herannahende Panikattacke.
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Erik klappte seinen Laptop zu und rieb sich über die Augen. Wenn die Buchstaben zu Brei verschwammen, der sich nach mehrmaligem Blinzeln beharrlich weigerte, wieder auseinanderzufließen, sollte man die Lernerei vermutlich bleiben lassen. Er hätte gerne eine Stunde mehr investiert, um sich auf die Vorlesungen der kommenden Woche vorzubereiten, aber das musste wohl einen Tag warten.
Fragte sich nur, was er mit dem verbleibenden Abend anstellte. Mit Marco hatte er bereits telefoniert, kurz und knapp, es schien auf beiden Seiten nicht viel zu erzählen zu geben, und Hugo konnte er kaum schon wieder anrufen. Aisha hasste telefonieren und Charlotte zog um diese Zeit sicher längst durch die Clubs.
Was Erik an Hugos Vorschlag erinnerte. Rausgehen und etwas erleben. Warum eigentlich nicht?
Er schlüpfte in Jacke und Schuhe, warf einen Kontrollblick in den Spiegel und zog sich wieder aus. Völlige Verschwendung, sich nicht zumindest ein bisschen aufzubrezeln, wenn er schon wegging. Jeans und T-Shirt trug er oft genug.
Die Schranktür quietschte widerwillig, als Erik sie öffnete. Er sollte Marco bitten, sich das in der kommenden Woche anzusehen. Damit würden zwar mindestens drei spitze Bemerkungen über das im Schrank herrschende Chaos einhergehen, aber das nahm Erik in Kauf, sofern es bedeutete, nicht demnächst von einer schweren Holztür erschlagen zu werden.
Sorgfältig wählte er sein Outfit für den Abend aus. Dunkelgraue Jeans, die exakt die Stellen betonten, die sie sollten, ein dazu passendes Hemd und, nach kurzem Zögern, die enganliegende Weste, die er mit Philipp in einem ihrer Lieblings-Secondhand-Läden aufgestöbert hatte. Eine einzelne violette Blüte rankte sich darauf von den Hüften bis zur Brust, schmiegte sich eng um seine Taille.
Bisher hatte sich Erik nicht getraut, die Weste zu tragen, aus Angst, darin überkandidelt auszusehen. Aber verflucht, sie gefiel ihm und sie hing nun mal bereits in seinem Schrank, also konnte er sie auch anziehen!
Seine Versuche, sich einen Zopf zu flechten, scheiterten an einer Kombination aus unpassender Haarlänge und ungeübter Finger. Ein – zugegebenermaßen eher kümmerlicher – Pferdeschwanz musste reichen.
Als Erik die letzten störrischen Strähnen bändigte, fiel sein Blick auf seine Fingernägel. Er wünschte sich, ein Fläschchen von Sophias Nagellack bei sich zu haben, die fröhlichen Farbtupfer fehlten ihm. Bisher verzichtete er Marco zuliebe jedoch darauf, sie zu erneuern.
Normalerweise würde Erik jedem, der ihm vorschreiben wollte, was er in seiner Freizeit tragen durfte, einen Vogel zeigen. Nur, dass Marco nichts vorgeschrieben hatte, sich sogar bemüht hatte, zu überspielen, wie wenig ihn der Nagellack begeisterte. Er hatte es nicht gut überspielt, aber hey, der Gedanke zählte. Am Ende ging es um eine dünne Schicht Farbe. Darauf zu verzichten, brachte Erik nicht um. Immerhin ließ sich Marco ihm zuliebe ebenfalls auf jede Menge Kompromisse ein.
Trotzdem … So ein tiefes Violett, passend zu der Blüte auf seiner Weste, würde Erik schon gefallen.
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Die ersten Töne seines Lieblingssongs trafen Erik noch vor der Clubtür. Bis zuletzt hatte er gehadert, ob er von allen Optionen, die ihm Berlin bot, ausgerechnet diese wählen sollte. Nun leistete die Musik ausgezeichnete Überzeugungsarbeit.
Ein Clubgast hüpfte die beiden Steinstufen herunter, vorbei an dem bulligen Türsteher. Blondes Wuschelhaar, zerrissene Jeans, eine Kippe zwischen die Lippen geklemmt und weiterhin mehr Piercings als Erik zählen konnte. Definitiv derselbe Typ, der ihm bereits bei seinem letzten Besuch im Duo aufgefallen war.
Den Blick streng auf den Boden gerichtet, um nicht erneut beim Starren erwischt zu werden, eilte Erik an ihm vorbei in den Club. Sein Lieblingssong erreichte den ersten Refrain, die Masse an Menschen, die sich auf der engen Tanzfläche tummelte, schreckte Erik jedoch ab. Lieber genoss er die Musik im ruhigeren Teil des Clubs, zumindest vorerst mehr Beobachter als Teilnehmer.
Daran änderte sich auch nichts, als sein Lieblingssong fließend von einem anderen abgelöst wurde. Oder dem danach. Und dem darauf folgenden.
Nachdem Erik eine halbe Stunde nahezu unbeweglich gegen die Wand gepresst ausgeharrt hatte, wurde es Zeit, den Tatsachen ins Auge zu sehen: Clubs überforderten ihn.
Was zu der Frage führte, welcher Teufel ihn geritten hatte, herzukommen. Die Antwort fand sich schnell: Der Wunsch nach Abenteuer und danach, seine eigene Komfortzone für ein paar Stunden zu verlassen. Sowas klang in der Theorie grundsätzlich besser, als es sich in der Praxis gestaltete. Gleich wieder gehen wollte er allerdings auch nicht, das fühlte sich wie Aufgeben an.
Er könnte tanzen. Nicht, dass er dabei besonders elegant aussah; Rhythmus kannte er höchstens als theoretisches Konzept. Bei der Menschenmenge, die sich auf dem dafür bereitgestellten Raum drängte, fiele er aber vermutlich kaum auf. Sofern er sich nicht völlig dämlich anstellte. Seine Hoffnung darauf hielt sich in Grenzen.
Okay, vielleicht wartete er mit dem Tanzen, bis er sich ein wenig akklimatisiert hatte. Eriks Blick schweifte durch den Raum. Was tat der Teil der Besucher, der nicht tanzte?
In Grüppchen um die Stehtische stehen und über die Musik hinweg mit Freunden quatschen. Schwierig umzusetzen, so ganz ohne Freunde.
Letztlich erregte der Barkeeper seine Aufmerksamkeit. Die Art, wie er in seinem kleinen Reich hinter der Theke hin und her flitzte, Drinks zubereitete, Geld kassierte und dabei nie den Überblick zu verlieren schien, hatte eine hypnotische Wirkung. Sicher brachte der Job jede Menge Unannehmlichkeiten mit sich, vornehmlich aufdringliche Kunden und ungewöhnliche Arbeitszeiten, doch gerade deshalb stellte sich Erik die Frage, ob er selbst hinter so einer Theke bestehen würde. Konnte er mehr, als auf Klausuren zu büffeln?
Gebannt starrte er auf den fruchtig aussehenden Cocktail, der soeben im Tausch gegen einen Zehner den Besitzer wechselte. So einen wollte er probieren! Ob es die auch in alkoholfrei gab? Ein skeptischer Blick auf die Karte beantwortete diese Frage mit: Ja!
Leider entpuppte sich der Cocktail, den Erik auswählte, als zu wenig süß und mit zu viel Ananassaft. Vielleicht traf der nächste seinen Geschmack besser.
Ehe sich Erik versah, kratzte er sein letztes Bargeld zusammen und die Uhr zeigte nach Mitternacht. Wenn er bedachte, dass er höchstens eine Stunde hatte bleiben wollen, durfte er den Abend wohl als Erfolg verbuchen. Er hatte sich einmal durch die Cocktailkarte probiert – jedenfalls durch den Teil ohne Alkohol – und sich bei einigen seiner Lieblingssongs sogar auf die Tanzfläche gewagt.
Natürlich hatte man ihn angeflirtet. Weit häufiger als erwartet, wenn er ehrlich sein sollte, und während ihn die ersten Male ziemlich überfordert hatten, verloren sie zunehmend ihren Schrecken. Bisher akzeptierte jeder die Zurückweisung ohne Diskussion, niemand wurde aufdringlich, oder versuchte, ihn umzustimmen.
Erik konnte sich vorstellen, diese Aufmerksamkeit sogar zu genießen – wer fühlte sich nicht gerne begehrt? – wenn nicht permanent die Furcht mitschwänge, doch noch an einen Arsch zu geraten. Eine Hand an einer Stelle, an der er sie nicht wollte, ein ‚Nein‘, das ignoriert wurde. Auf den ersten Blick alles kein Beinbruch, aber er kannte sich und wusste, wie lange solche scheinbaren Kleinigkeiten an ihm nagten.
Mal abgesehen davon, dass es ihm Marco gegenüber nicht fair erschien, sich zu sehr an der Aufmerksamkeit anderer Männer zu erfreuen. Nicht, dass er plante, auf irgendeinen der Annäherungsversuche einzugehen, aber er konnte schlecht ständig selbst wegen jeder Kleinigkeit mit Eifersucht reagieren (egal, wie sehr er versuchte, diese aus Verlustängsten geborene Unart zu unterdrücken), und dann fröhlich etwas tun, das ihn bei vertauschten Rollen die Wände hochtreiben würde.
Vermutlich sollte er den Abend ohnehin für beendet erklären. Er war pleite und mit steigendem Alkoholpegel sanken die Hemmungen der Männer um ihn herum. Lieber das Schicksal nicht herausfordern.
Die Nachtluft trug einen ersten Anflug von Frost in sich, mit dem sie kalt in seine Wangen biss. Zum Glück lag seine Wohnung nur wenige Minuten zu Fuß entfernt und lockte mit einer heißen Tasse Tee, ach, lieber Kakao, und dem Buch, das er neulich beim Stöbern in der Bibliothek entdeckt hatte. Motiviert, so schnell wie möglich ins Warme zu kommen, wandte sich Erik nach rechts und rumpelte gegen Piercing-Typ. „Sorry.“ Warum passierte das ständig?
Der Mundwinkel, in dem keine rotglühende Zigarette balancierte, kräuselte sich zu einem Lächeln. „Du schon wieder.“ Sein Akzent erinnerte Erik an einen ehemaligen Bekannten seiner Eltern, der gebürtig aus Leeds stammte.
„Sorry“, wiederholte er. So nah roch er Rauch, frischen Schweiß und fruchtiges Deo.
Er wollte sich eben vorbeidrängen, als ihn von hinten wenig charmante Worte trafen, sie sich eindeutig gegen seine sexuelle Orientierung richteten. Instinktiv zog Erik die Schultern hoch, als könnte er sich dadurch vor weiteren Beleidigungen – oder Schlimmerem – schützen, und schielte in die Richtung, aus der die erste gekommen war. Glücklicherweise setzte das dümmlich lachende Grüppchen auf der anderen Straßenseite seinen Weg bereits fort. Mehr als einen blöden Spruch trauten sie sich offenbar nicht zu.
Neben ihm holte Piercing-Typ Luft. „Was Besseres fällt euch nicht ein?“, polterte er lautstark. „Ist euer Hirn noch kleiner als eure Schwänze?“
Clever wäre gewesen, nicht laut zu lachen. Clever wäre gewesen, zwei Meter nach links in die Sicherheit des Clubs zu flüchten. Clever wäre gewesen, Piercing-Typ die Konsequenzen seiner großen Klappe allein tragen zu lassen.
Clever zählte allerdings herzlich wenig, wenn man eine Horde aufgebrachter Schlägertypen auf sich zustürmen sah. Ohne nachzudenken packte Erik Piercing-Typs Handgelenk und zerrte ihn mit sich. Weg vom Club, weg von den Typen, die sie verfolgten.
Nebeneinander hetzten sie die Straße entlang, schlitterten nach rechts in eine Gasse und nahmen eine scharfe Biegung, die sie in eine Parallelstraße brachte. Eriks Hoffnung, ihre Verfolger durch den Zick-Zack-Kurs abzuhängen, erfüllte sich nicht. Schwere Schritte hallten hinter ihnen, ein Blick über seine Schulter bestätigte seine Befürchtung. Keine Ahnung, wie viele Männer ihnen folgten. Mehr als zwei und selbst die wären zu viel.
Neben ihm keuchte Piercing-Typ, und auch Erik ging allmählich die Puste aus. Wie lange, bis ihr Vorsprung auf Null schmolz? Panisch sah er sich nach Hilfe um, doch es war spät und sie befanden sich abseits der belebten Straßen.
Erneut schlugen sie einen Haken, hinein in einen Hinterhof, den Erik mit zwei Sekunden Verzögerung als seinen eigenen erkannte. Ein langer, gerader Weg, links die Hintertüren der Hauseingänge, rechts eine Wiese, umgrenzt von Bäumen und einer hohen Mauer. Am anderen Ende mündete der Weg in eine weitere Seitenstraße.
Im Adrenalinrausch formte sich eine Idee. Wenn sie funktionierte, könnten sie ihre Verfolger abschütteln. Ging sie schief, führte Erik sie schlimmstenfalls direkt vor seine Haustür. „Hier lang!“
Mit Piercing-Typ im Schlepptau, sprintete er zum anderen Ende des Hofs, kämpfte gegen den Widerstand seiner überforderten Muskeln und das Stechen in seinen Seiten und zwang sich, einen Zahn zuzulegen. Jede Sekunde Vorsprung zählte. Kurz vor dem Ausgang schielte er hinter sich. Ihre Verfolger hatten den Innenhof erreicht, nah genug, um sie abbiegen zu sehen, hoffentlich weit genug entfernt, damit sein Plan aufging.
Beim Hofausgang bog Erik nach rechts ab, und ein paar Meter weiter, am Ende des Gehwegs, ein weiteres Mal. Nun befanden sie sich auf der Straße, die parallel zu seinem Innenhof verlief, neben ihnen die gut zwei Meter hohe Mauer, die das Grundstück einschloss. Erik blieb stehen und ging in die Hocke.
Ungeduldig zerrte Piercing-Typ an seiner Schulter. „Run!“
„Wir klettern.“ Erik bildete mit seinen Händen einen Steigbügel und hoffte, dass Piercing-Typ begriff, was er von ihm erwartete, bevor sie weitere wertvolle Zeit verloren. Glücklicherweise tat er das. Er nickte knapp, setzte seinen Fuß in Eriks verschränkte Finger und zog sich mit Schwung an der Mauer hoch. Oben angekommen streckte er die Hand nach Erik aus.
Selbst mit dieser Hilfe schien es ewig zu dauern, bis es Erik gelang, Piercing-Typ zu folgen. Jeden Augenblick rechnete er damit, von hinten gepackt und runtergerissen zu werden.
Nichts dergleichen passierte. Keuchend kniete er neben Piercing-Typ. Der Herbst hatte die Blätter der Bäume rot gefärbt, doch genug an den Ästen gelassen, um sie vom Innenhof aus unsichtbar zu machen.
Links von ihnen näherten sich stürmische Schritte, die an der Kreuzung stoppten. Ihre Verfolger starrten die Straße entlang, wandten die Köpfe, prüften alle potenziellen Fluchtwege. Über ihnen hielten Erik und Piercing-Typ den Atem an. Eriks Herz pochte so laut, dass es ihm unmöglich schien, nicht gehört zu werden. Letztlich zahlte sich der Schutz, den Blätter und Dunkelheit boten, jedoch aus. Ohne nach oben zu sehen, liefen ihre Verfolger vorbei. Als sie am Ende der Straße in eine komplett andere Richtung abbogen, sackte Erik vor Erleichterung in sich zusammen.
Zur Sicherheit harrten er und Piercing-Typ mehrere Minuten still in ihrem Versteck aus, bevor sie in den Hinterhof kletterten. Lautlos bedeutete Erik Piercing-Typ, ihm zu folgen und schlich zum Hintereingang seines Wohnblocks. Erst, als die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel, traute er sich, aufzuatmen. Der Atemzug verwandelte sich in ein Kichern und das Kichern in hysterisches Lachen.
Er wollte Piercing-Typ umarmen; wollte ihn schütteln und anschreien, ihn fragen, was zur Hölle er sich dabei gedacht hatte. Stattdessen lachte er, bis die Welt vor seinen Augen verschwamm. „Hast du ihre Gesichter gesehen?“, kicherte er atemlos. Er blickte zu Piercing-Typ, der zurückstarrte, ein breites Grinsen auf den mit zwei Ringen verzierten Lippen. „Ich bin übrigens Erik.“
Anstelle einer Antwort beugte sich Piercing-Typ vor und küsste ihn.
Erik schreckte zurück. „Ich kann nicht.“ Eine leise Stimme in seinem Hinterkopf fragte ihn, weshalb er von können statt wollen sprach. „Ich habe einen Freund.“
„Sorry.“ Piercing-Typ sah nicht aus, als täte es ihm besonders leid. Den Kopf zur Seite geneigt, ein schelmisches Funkeln in den Augen, musterte er Erik. Immerhin startete er keinen weiteren Kussversuch.
Noch bevor Erik eine Entscheidung getroffen hatte, ob er Piercing-Typ trotz allem zu sich in die Wohnung einladen sollte, um dort zu warten, bis sie sicher sein konnten, dass die Luft rein war, schlüpfte dieser durch die Tür und verschwand in die Nacht. Zurück blieb ein Kribbeln in Eriks Bauch, das er lange nicht mehr gefühlt hatte.