Was zuletzt geschah:
Zum Gück ist Drago zurück in seiner eigenen Wohnung. Endlich hat Marco den Freiraum, seine Gefühle für ihn zu sortieren und in ein sauber abgetrenntes, fest verschlossenes Kästchen zu verfrachten, in dem sie den Rest ihrer Tage fristen können. In den vergangenen Jahren hatte Marco wirklich mit mehr als genug Veränderungen und Lebensumbrüchen zu kämpfen. Wenn es nach ihm geht, darf jetzt erstmal alles völlig langweilig in den eingeschliffenen Bahnen weiterlaufen.
Kapitel 45
„Ich kündige.“
Marco blickte von seiner Brotzeit auf, brauchte allerdings einige Sekunden, um Daniels Worte zu verarbeiten. Am Ende reichte es dennoch nur für ein banales Echo: „Du kündigst?“
Daniel schien sich nicht an Marcos verlangsamten Gehirn zu stören. „Ich habe ein anderes Angebot bekommen. Besser bezahlt, kürzerer Arbeitsweg, angenehmere Arbeitszeiten. Industrielle Fertigung, also nicht übermäßig spannend, aber ist ja nicht so, als hätten wir hier zurzeit besonders viel Abwechslung.“
Dagegen konnte Marco wenig einwenden. Ihr Chef setzte die Umstrukturierung des Betriebs gnadenlos fort. Wie angekündigt, fokussierte er sich auf das Verlegen oder gelegentlich auch die Restauration von Holzböden. Kein Möbelbau mehr, keine Spezialanfertigungen. Sie hatten sogar den Maschinenbestand reduziert, alles verkauft, was sie für die Neuausrichtung nicht zwingend benötigten.
Nicht alles daran war schlecht. Sie bekamen neue Leute, hauptsächlich Aushilfen mit wenig Erfahrung, aber besser als nichts. Das verringerte die Arbeitsbelastung und ermöglichte es ihnen, mehr Aufträge anzunehmen. Was sich mutmaßlich positiv auf die Geschäftskasse auswirkte.
Im Grunde sollte es Marco egal sein, ob er Laminat verlegte oder maßgeschneiderte Möbel anfertigte, solange er dafür bezahlt wurde. Dennoch fühlte sich der Anblick der leeren Werkhalle an, als hätte er etwas Unwiederbringliches verloren. Ganz davon abgesehen, dass er sich zu Tode langweilte.
„Die suchen noch Leute, weißt du.“ Herzhaft biss Daniel in den Döner, den er sich am nahegelegenen Stand geholt hatte. Immerhin hatten sie heute das Glück, in einer zentral gelegenen Wohnung zu arbeiten. Diverse Essensmöglichkeiten direkt ums Eck und ein Stück die Straße runter ein kleiner Park, in dem sie sich auf einer der Sitzbänke gemütlich in der Sonne ausstrecken und ihr Mittagessen genießen konnten.
„Warum erzählst du mir das?“, fragte Marco.
„Das weißt du genau. Ernsthaft, Marco, die brauchen gute Leute und du bist gut. Mir haben sie jetzt schon einen besseren Posten in Aussicht gestellt, sobald ich meinen Meister fertig habe. Ich wette, die nehmen dich mit Handkuss und zu deutlich besseren Konditionen als du sie jetzt hast.“
Plötzlich appetitlos, drehte Marco seine Brotzeitdose zwischen den Händen. „Eigentlich hatte ich nicht vor, wegzulaufen, nur weil es mal ein bisschen schwierig wird.“
„Vielleicht solltest du dich fragen, ob Schmid dir dieselbe Loyalität erweisen würde.“
Im Leben nicht. Marco wusste, dass er mit dieser Einsicht richtig lag und konnte sich dennoch nicht dazu durchringen, die Konsequenzen daraus zu ziehen. Sein eigenes Zögern nervte ihn unendlich.
„Ist ja erstmal auch egal“, sagte Daniel, dem Marcos Frust offensichtlich nicht entging. „Ich wollte es dir nur erzählt haben, bevor ich Schmid offiziell meine Kündigung hinlege. Und falls du es dir anders überlegst, gibst du mir einfach Bescheid.“
Marco nahm das mit einem Nicken hin. Er sollte mehr sagen. Daniel für sein Angebot danken und ihn wissen lassen, wie sehr er ihm als Kollege fehlen würde – die Aussicht, in Zukunft, ohne ihn zu arbeiten, verhagelte Marco ordentlich die Stimmung. Wenigstens gratulieren sollte er. Aber er brachte seine Zähne nicht auseinander.
„Okay, anderes Thema“, sagte Daniel locker. „Kommst du diesen Samstag zum Pokern vorbei? Wird wahrscheinlich eine etwas größere Runde als sonst. So eine Art neue Einweihungsparty. Oder eher eine Endlich-ist-Patrick-weg-Party.“
Kurz ging Marco seinen inneren Terminkalender durch und kam zu dem Schluss, bisher nicht anderweitig verplant zu sein. „Das passt. Ich bringe den üblichen Knabberkram mit.“
„Würde es dir viel ausmachen, ein bisschen was magenfüllenderes mitzubringen? Wir teilen die Kosten dafür natürlich. Ich weiß, wir bestellen sonst immer Pizza, aber ehrlich gesagt sind bei Drago und mir die Finanzen gerade etwas knapp, weil wir zusätzlich Patricks Miete abfangen müssen, bis wir jemand neues gefunden haben. Selbst kochen ist billiger.“ Mit sichtlich schlechtem Gewissen betrachtete Daniel die Reste seines Döners. „Eigentlich hätte ich mir den hier auch verkneifen sollen, aber ich habe das ständige Butterbrot so satt.“
„Dann backen wir die Pizza doch einfach selbst“, schlug Marco vor. Zu gut erinnerte er sich, wie sich ein leeres Konto anfühlte. Ohne Mannis und Hugos Unterstützung wäre er vermutlich häufiger hungrig ins Bett gegangen. „Die Grundzutaten sind nicht besonders teuer, den Teig kann ich bei mir zuhause vorbereiten, und jeder bringt einfach den Belag mit, auf den er Lust hat.“ Außerdem wusste er, dass Drago seine Pizza mochte.
„Würdest du das tun? Das wäre klasse!“ Daniel knüllte sein Dönerpapier zusammen und warf es in den neben der Sitzbank aufgestellten Mülleimer. „Ich hoffe nur, Drago zieht mit. Der grummelt zurzeit ganz schön rum. Ist wahrscheinlich nur der Stress, ist ja nicht mehr lang hin bis zu seinem Abschluss, aber ich schwöre, an den meisten Tagen sehe ich ihn überhaupt nicht, und wenn wir uns dann mal kurz begegnen, wechselt er keine zwei Worte mit mir, bevor er sich wieder verzieht. Das ist selbst für ihn extrem.“
Marco hätte auf diese Info nicht mit Erleichterung reagieren sollen und tat es dennoch. Denn es bedeutete, dass sich Drago aktuell nicht nur von ihm zurückzog.
Seit dessen Auszug vor zwei Wochen hatten sie sich kaum gesehen, kaum gesprochen, ein einziges Mal Sex gehabt, den man nur mit gutem Willen überhaupt als solchen bezeichnen durfte. Drago war vorbeigekommen, hatte Marco mit dem Mund befriedigt, und sich keine zehn Minuten später wieder aus dem Staub gemacht.
So blöd es klang, hatte sich Marco danach benutzt gefühlt. Dabei hatten sie zuvor verabredet, dass es exakt so ablaufen würde. Genaugenommen hatte Drago angefragt und Marco sein Okay gegeben, halb in dem Glauben, es würde schon nicht so unpersönlich werden, wie es in der Nachricht klang. Dass es dann doch so gelaufen war und er sich im Nachhinein schlecht fühlte, konnte er Drago nicht vorwerfen.
Bis jetzt hatte er jedenfalls angenommen, dass sich Drago bewusst darum bemühte, ihn auf Abstand zu halten, nachdem sie sich in den Wochen davor ziemlich nah gekommen waren. Zu nah. Im Grunde deckte sich das mit Marcos Wünschen, denn wie oft hatte er sich dafür verflucht, Gefühle für einen Mann zu entwickeln, der sehr deutlich gemacht hatte, dass er sowas nicht gebrauchen konnte. Abstand sollte also etwas Gutes sein. Er fühlte sich nur nicht so an.
Wenn Drago jedoch auch Daniel gegenüber so kurz angebunden reagierte, gab es wohl einen anderen Grund für sein Verhalten. Hoffentlich stimmte Daniels Vermutung und es lag nur am Stress des bevorstehenden Abschlusses. Mit etwas Glück würde Marco am Samstag mehr erfahren.
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Behutsam hob Marco eine Ecke des feuchten Geschirrtuchs an und lugte in eine der beiden mitgebrachten Schüsseln. „Sieht gut aus.“ Zur Sicherheit stupste er mit dem Zeigefinger gegen den Teig, der unter sanftem Druck nachgab, ohne einzufallen. „Bis die ersten Leute kommen, ist er fertig.“
Daniel lief zwischen Küche und Wohnzimmer hin und her, um Gläser, Getränke und Snacks auf dem Esstisch zu verteilen. „Danke, dass du das machst“, sagte er im Vorbeigehen.
„Nah, dafür brauchst du mir nicht zu danken. Eigentlich tut ihr mir einen Gefallen. Ich koche gerne für andere. Wenn meine Wohnung nicht so klein wäre, hätte ich viel öfter Gäste da.“
„Hey, wir hätten da übrigens ein Zimmer frei.“
Marco lachte, obwohl er glaubte, dass Daniel nur halb scherzte. „Danke, aber so schön ich eure Wohnung finde, meine eigene ist eben meine. Da habe ich zu viel Arbeit reingesteckt, um jetzt schon auszuziehen.“ Zumal ein Einzug in die WG die Situation zwischen ihm und Drago schwerlich entspannen würde. Apropos. „Wo steckt eigentlich Drago?“
„In seinem Zimmer. Arbeitet an seiner Abschlussarbeit, schätze ich.“ Daniel sah aus, als wollte er etwas hinzufügen, wurde jedoch von der Türklingel unterbrochen. Er runzelte die Stirn. „Da hat wohl jemand nicht richtig auf die Uhr geschaut. Geht doch erst in einer halben Stunde los.“
Der überpünktliche Gast entpuppte sich als junge Frau, die Marco nie zuvor gesehen hatte. Daniel schien allerdings zu wissen, um wen es sich handelte. Ausgehend von der Röte, die sich auf seinem Gesicht ausbreitete, hatte er nichts gegen ihr unerwartetes Auftauchen einzuwenden.
„Ähm, Drago ist in seinem Zimmer. Hat wahrscheinlich die Klingel nicht gehört.“
Die junge Frau zückte ihr Handy. „Ich schreibe ihm nochmal.“
„Du kannst auch einfach nach hinten gehen. Also … wenn du willst.“
Ein amüsiertes Lächeln zauberte Grübchen auf ihre Wangen. Sie schaffte es, gleichzeitig zu tippen und zu sprechen. „Wenn ich jetzt einfach reinplatze, reiße ich ihn nur unnötig aus seinen Gedanken.“ Wer auch immer die Frau war, sie kannte Drago offensichtlich gut.
Nach dem Abschicken ihrer Nachricht blickte sie auf und bemerkte Marco. „Oh, hi. Ich glaube wir kennen uns noch nicht.“
Er erwiderte ihr Lächeln. „Tun wir nicht. Ich bin Marco.“
„Sarah. Drago und ich studieren zusammen.“
„Sorry, ich habe vergessen, euch vorzustellen“, sagte Daniel verlegen. „Marco hat heute netterweise das Kochen übernommen. Wir spielen mit ein paar Freunden Karten und backen deshalb Pizza.“
„Oh, das klingt super! So richtig mit selbstgemachtem Teig?“
„Klaro!“
„Du, äh, du kannst gerne bleiben.“ Wenn Daniel noch röter wurde, konnte man ihn als Leuchtsignal für die Astronauten der ISS nutzen.
Sarahs Grübchen vertieften sich. „Das ist lieb, aber heute habe ich schon was vor. Ein andermal.“
Schritte aus dem hinteren Teil der Wohnung kündigten Dragos Erscheinen an. „Entschuldige, ich hatte Kopfhörer auf.“ Drago reichte Sarah eine zitronengelbe Strickjacke, selbstverständlich penibel zusammengefaltet. „Hier, bitte.“
„Danke dir. Zum Glück habe ich sie hier vergessen und nicht im Bus.“ Sanft berührte Sarah Dragos Arm. „Bleibt es bei Mittwoch?“
„Ich habe keine anderen Pläne.“ Selten merkte man Drago so deutlich an, dass er sein Gegenüber mochte. Er hielt Sarahs Blick und seine Lippen kräuselten sich zu diesem angedeuteten Lächeln, das Marco so gerne an ihm sah. „Hast du noch zehn Minuten? Ich hänge an einem Detail und dein Input würde mir helfen.“
„Für dich habe ich immer Zeit.“
Gemeinsam verschwanden die beiden nach hinten in Dragos Zimmer, wobei Drago Marcos Existenz mit einem knappen Nicken anerkannte.
Neben ihm seufzte Daniel leise.
„Du magst sie“, sagte Marco, hauptsächlich um sich von seiner Enttäuschung über Dragos unterkühlte Reaktion ihm gegenüber abzulenken.
Erstaunlicherweise schafften es Daniels Wangen, einen noch tieferen Rotton anzunehmen. „Ist das so offensichtlich?“
„Vielleicht solltest du es ihr sagen.“
„Im Leben nicht. Dass sie nett zu mir ist heißt nicht viel, und ich will nicht das Risiko eingehen, dass sie sich unwohl fühlt, wenn sie hier ist. Außerdem …“ Anstatt weiterzusprechen, lief Daniel zurück in die Küche, wartete bis Marco ihm folgte, und schloss die Tür hinter ihnen. „Die Sache ist … Drago und ich wohnen jetzt schon eine Weile zusammen und ich kann mich nicht erinnern, ihn in dieser Zeit jemals mit einem Mädchen gesehen zu haben. Oder, dass er auch nur Interesse daran ausgedrückt hätte.“
Oh, oh. Marco stellte sich darauf ein, ausweichende Worte, glaubhafte Halbwahrheiten oder gleich dreiste Lügen auftischen zu müssen.
„Abgesehen von Sarah“, fuhr Daniel fort. „Falls er sie also mag, das heißt, mag mag, dann will ich ihm da nicht reinfunken. Nicht, dass er sich am Ende mir zuliebe zurückhalten würde oder ein schlechtes Gewissen hätte oder so.“
Innerlich seufzte Marco erleichtert auf. Einen Moment lang hatte er befürchtet, Daniel könnte ihn darüber aushorchen, weshalb sich Drago so verdächtig wenig für Frauen interessierte. „Das ist aber doch Sarahs Entscheidung, oder nicht? Nur, weil du oder Drago dem jeweils anderen den Vortritt lassen würdet, muss sie denjenigen ja noch lange nicht wollen.“
„Das stimmt natürlich“, räumte Daniel ein.
Erneut beendete die Türklingel ihr Gespräch vorzeitig. Dieses Mal fanden sich keine unerwarteten Überraschungsgäste in der Wohnung ein, sondern der erste Schwung von Daniels und Dragos Freunden, die Marco inzwischen ebenfalls mehr oder weniger gut kannte. Es dauerte nicht lange, bis auch der Rest eintraf.
Sie hatten eben die erste Fuhre Pizzateig belegt und in den Ofen verfrachtet, als Sarah und Drago ins Wohnzimmer zurückkehrten. Drago begleitete Sarah zur Tür. „Danke für deine Hilfe.“
„Kein Ding. Spätestens am Mittwoch darfst du dich dann revanchieren.“
Verblüfft beobachtete Marco, wie sich die beiden zum Abschied kurz in den Arm nahmen. Er erinnerte sich nicht daran, Drago jemals so vertraut mit jemandem erlebt zu haben. Nun verstand er auch Daniels Zurückhaltung. Wenn er nicht zweifelsfrei und mehrfach aus Dragos eigenem Mund gehört hätte, dass dieser keinerlei Interesse an Frauen hegte, würde er vermutlich dieselben Schlüsse ziehen.
Nach Sarahs Verabschiedung fand sich die restliche Runde am Esstisch ein, um mit der ersten Pokerrunde die Wartezeit auf die fertiggebackene Pizza zu überbrücken. Marco saß an der Außenseite der gemütlichen Sitzbank, während Drago an einem der Stühle gegenüber Platz nahm. Er beachtete Marco weiterhin kaum.
Es war nicht so, dass er ihn ignorierte, Marco hatte sich nur daran gewöhnt, mehr Aufmerksamkeit von Drago zu erhalten, als dieser den meisten anderen in seinem Umfeld schenkte. Heute zählte Marco jedoch offensichtlich zu den ganz normalen Gästen, ohne jeglichen Sonderstatus.
Nun gut, das würde er überleben. Im Grunde sogar besser so.
Nachdem Drago und Daniel ihre Blinds platziert hatten, teilte ihr ehemaliger Mitbewohner Tim die Karten aus. „War das eben deine Freundin?“
„Nein.“
„Aber du stehst auf sie.“
Drago studierte seine beiden Karten. „Ich mache mir nichts aus Frauen.“
Trotz seiner sichtlichen Überraschung fing sich Tim schnell wieder. „Ach so. Wusste ich nicht.“
„Ich habe es bisher ja auch nicht erzählt.“ Drago legte seine Karten verdeckt auf den Tisch. „Ich bin raus.“
Das bist du allerdings. Marco spürte Daniels Augen auf sich, und gab sein Bestes, seinen Gesichtsausdruck neutral zu halten. Eine Aufgabe, an der er nur scheitern konnte. Er versuchte, sich auf die beiden Asse in seiner Hand zu konzentrieren; die mit Abstand beste Starthand, die er je gehabt hatte. Nach einigen Sekunden schob er sie zusammen. „Ich sehe mal nach der Pizza.“
Die würde noch mindestens fünf Minuten brauchen, was Marco sehr genau wusste. Trotzdem verzog er sich in die Küche und starrte in den Ofen, um dem Käse beim Schmelzen zuzusehen. Im Moment schien ihm alles besser, als am Esstisch zu sitzen und nicht zu wissen, wie er sich verhalten sollte.
„Kann ich dir helfen?“ Drago zog die Küchentür hinter sich zu. Seine Mimik lieferte nicht den geringsten Hinweis darauf, was für eine Bombe er eben am Tisch hatte platzen lassen.
„Du kannst schonmal Teller holen“, wies Marco ihn an. Wenn Drago das Thema nicht ansprach, würde er es ebenfalls nicht tun. „Und mir verraten, wo eure Ofenhandschuhe sind.“
„Neben den Geschirrtüchern.“
Ach verflucht, es lag Marco einfach nicht, Elefanten zu ignorieren, wenn diese unübersehbar durch den Raum torkelten. „Dir ist schon klar, dass Daniel jetzt denkt, dass zwischen uns was läuft? Spätestens, seit du mir in die Küche nachgelaufen bist.“
„Er hätte recht.“ Die in seinen Händen klappernden Teller straften Dragos scheinbare Gelassenheit Lügen. Er zitterte.
„Bist du okay?“, fragte Marco. „Das eben war … ziemlich mutig.“
„War es? Ich habe meine Sexualität geheim gehalten, weil ich nicht wollte, dass mein Onkel, und damit langfristig der Rest meiner Familie, von ihr erfährt. Er hat es trotzdem herausgefunden, also gibt es keinen Grund mehr, sie zu verschweigen. Zumindest nicht hier in Deutschland.“ Der letzte Satz hatte noch bitterer geklungen als die beiden davor.
„Es war mutig“, wiederholte Marco. Vorsichtiger fragte er: „Wie fühlst du dich damit?“
Drago sortierte Messer und Gabeln zu den Tellern, schien dann zu realisieren, dass abgesehen von ihm jeder Pizza mit den Händen aß und räumte einen Teil des Bestecks zurück in die Schublade. Marcos Frage ließ er unbeantwortet.
Verstohlen musterte Marco ihn. Er hielt seine breiten Schultern nach oben gezogen, seine sonst kontrollierten Bewegungen wirkten fahrig, und am Kiefer hatte er beim Rasieren eine münzgroße Stelle übersehen. Rund um seine normalerweise gepflegten Fingernägel zeigten sich blutige Punkte, wo er bis zur Haut gebissen hatte. Was bedeutete, dass ihn nicht nur die Situation gerade eben belastete.
Wahrscheinlich lag Daniel richtig und Drago machte sein nahender Uni-Abschluss zu schaffen. Sein Zustand erinnerte Marco durchaus an Erik in dessen letztem Schuljahr. Permanent gereizt und komplett durch den Wind, mal ganz abgesehen von den Panikattacken, die er Marco ewig verschwiegen hatte. Hoffentlich durchlebte Drago nichts ähnliches.
„Sag mal …“ Marco holte die inzwischen von einer dicken Schicht geschmolzenem Käse überzogene Pizza aus dem Ofen. „Wie wärs, wenn wir nächsten Samstag Wandern gehen? Falls das Wetter mitspielt, versteht sich. Einfach raus und auf andere Gedanken kommen.“ Erneut erhielt er keine Antwort von Drago. Genaugenommen ließ dieser nicht einmal erkennen, ob er Marco überhaupt zugehört hatte.
So schnell gab Marco jedoch nicht auf. „Sonntag passt mir auch, falls Samstag bei dir nicht geht. Oder die Woche drauf. Ich kaufe mir sogar ordentliche Wanderschuhe, dann kannst du eine Strecke raussuchen, die dich wirklich interessiert, ohne Rücksicht auf mich nehmen zu müssen. Äh, das heißt, vielleicht trotzdem eine ohne übermäßig gefährliche Kletterpassagen oder megasteile Abgründe. So trittsicher bin ich dann doch nicht.“
„Lauf sie vorher ein.“
„Was?“
„Die Schuhe. Lauf sie vor der Wanderung ein, sonst holst du dir Blasen.“
„Äh, klaro, das mache ich.“ Mit Augenmaß schnitt Marco die Pizza in gleichmäßige Stücke und verteilte sie auf den vorbereiteten Tellern. „Schätze, wir sollten allmählich zurück ins Wohnzimmer. Die Runde ist sicher vorbei und jeder wartet aufs Essen.“
„Stört es dich, falls Daniel vermutet, dass zwischen uns etwas läuft?“
Schon kurz vor der Küchentür, drehte sich Marco bei der Frage überrascht um. „Nah, nicht wenn es dich nicht stört. Du sagst es ja selbst, er hätte damit recht.“ Erneut griff Marco nach der Türklinke, doch wieder hielt Dragos Stimme ihn zurück.
„Marco?“
„Sì?“
„Bis zu unserer Wanderung habe ich vielleicht die richtigen Worte gefunden.“
Marco lächelte ihm zu. „Ich warte, bis du bereit bist zu sagen, was du zu sagen hast.“ Und bis dahin wusste er hoffentlich selbst, was er eigentlich wollte.